Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Äthiopien 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens im November 2022 gab es Hinweise darauf, dass humanitäre Hilfslieferungen unterschlagen worden waren. Hilfsorganisationen stellten deshalb die Nahrungsmittelhilfe für die Region Tigray vorübergehend ein. In der Region Amhara kam es erneut zu Kämpfen zwischen den äthiopischen Streitkräften und amharischen Fano-Milizen, die mit Menschenrechtsverletzungen wie willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen einhergingen. Ebenfalls in Amhara wurde das Internet abgeschaltet. In verschiedenen Landesteilen war der Zugang zu Social-Media-Plattformen zeitweise eingeschränkt. Sicherheitskräfte töteten mindestens 30 Demonstrierende. In Tigray wurden außergerichtliche Hinrichtungen verübt. Frauen in Tigray wurden Opfer sexualisierter Gewalt. Einflussreiche Gruppen und Einzelpersonen starteten eine Kampagne gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+), die darin gipfelte, dass die Regierung hart gegen diese Personengruppe vorging. Die Regierung führte eine Kampagne gegen afrikanische und internationale Untersuchungskommissionen, die eingesetzt worden waren, um die Verantwortlichen für völkerrechtliche Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit zu verschaffen.

Hintergrund

Die Menschen, die im Zuge einer gegen die tigrayische Bevölkerung gerichteten ethnischen Säuberung aus West-Tigray vertrieben worden waren, konnten 2023 nicht in ihre Heimat zurückkehren. Vielmehr trafen in anderen Teilen Tigrays neue Wellen von Vertriebenen aus der Region ein, die von zivilen und militärischen Kräften aus der Region Amhara kontrolliert wurde. Berichten lokaler Medien zufolge flohen im März 47.000 und im September mehr als 1.000 Menschen aus West-Tigray, darunter auch Häftlinge aus großen Gefangenenlagern.

Nachdem die Friedensgespräche zwischen der Regierung und der Oromo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front) zum zweiten Mal gescheitert waren, eskalierten 2023 die Kämpfe in der Region Oromia und beeinträchtigten das Leben der dortigen Zivilbevölkerung.

Recht auf Nahrung

Im Mai 2023 gaben das Welternährungsprogramm und die US-Entwicklungsbehörde (USAID) die vorläufige Aussetzung der Nahrungsmittelhilfe für die Region Tigray bekannt, die nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens im November 2022 wieder aufgenommen worden war. Grund für die Aussetzung waren Hinweise darauf, dass Hilfsgüter abgezweigt worden waren, mutmaßlich von äthiopischen Regierungsstellen und der Armee. Im November und Dezember 2023 kündigten USAID und das Welternährungsprogramm zwar an, die Nahrungsmittelhilfe wieder aufnehmen zu wollen, doch Berichten zufolge war das Hilfsprogramm Ende des Jahres weiterhin eingeschränkt. Die Unterbrechung betraf mehr als 4 Mio. Menschen, die unter Ernährungsunsicherheit litten. Aus Berichten lokaler medizinischer Fachkräfte und Behörden ging hervor, dass nach der Aussetzung der Hilfslieferungen Hunderte Menschen in der Region Tigray an Hunger starben.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Nachdem es in der Region Amhara zu zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Armee und amharischen Fano-Milizen gekommen war, verhängte die Regierung am 4. August 2023 einen sechsmonatigen landesweiten Ausnahmezustand. Die Sicherheitskräfte erhielten dadurch weitreichende Befugnisse und inhaftierten in der Folge Hunderte Menschen, denen sie den Zugang zu Rechtsbeiständen und Gerichten verwehrten. Während der Kämpfe drangen zwar Berichte über weitere schwere Menschenrechtsverletzungen nach draußen, doch aufgrund der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten mit Menschen in der Region war es schwierig, das Ausmaß der Verstöße genau zu bestimmen (siehe "Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit").

Außergerichtliche Hinrichtungen

Auch nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens wurden Zivilpersonen in der Region Tigray weiterhin Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen durch die eritreische Armee, die mit der äthiopischen Regierung verbündet war (siehe Länderkapitel Eritrea). Von November 2022 bis Januar 2023 exekutierten eritreische Soldaten im Bezirk Kokob Tsibah mindestens 24 Zivilpersonen. In einem 2023 veröffentlichten Bericht bestätigte Amnesty International, dass zwischen dem 25. Oktober und dem 1. November 2022 im Bezirk Mariam Shewito mindestens 20 Zivilpersonen außergerichtlich hingerichtet worden waren. Sozialarbeiter*innen aus diesem Bezirk hatten eine Liste zusammengetragen, die sogar mehr als 100 Zivilpersonen umfasste, die in diesem Zeitraum von der eritreischen Armee exekutiert wurden.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Eritreische Soldaten verübten von November 2022 bis Januar 2023 im Bezirk Kokob Tsibah in Tigray sexualisierte Gewalttaten gegen Frauen. Sie hielten mindestens 15 Frauen fast drei Monate lang – vom 1. November 2022 bis zum 19. Januar 2023 – in einem Militärlager gefangen. Die Frauen wurden wiederholt vergewaltigt und befanden sich in einer Situation, die sexueller Sklaverei gleichkam. Die Soldaten unterzogen die Frauen auch anderen physischen und psychischen Misshandlungen und enthielten ihnen Nahrungsmittel, Wasser, medizinische Versorgung und andere lebenswichtige Dinge vor.

Weitere Frauen in demselben Bezirk wurden in ihren eigenen Häusern gefangen gehalten und Opfer von Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen durch eritreische Soldaten. Nach Angaben von Überlebenden, Sozialarbeiter*innen und lokalen Behördenangestellten unterstellte die eritreische Armee den Frauen, dass ihre Ehemänner, Söhne oder andere männliche Verwandte tigrayischen Kräften angehörten.

Äthiopische zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien berichteten über mehrere Entführungen, die eine Zwangsverheiratung zum Ziel hatten. Die Entführung von Tsega Belachew zählte zu den Fällen, die landesweit Aufmerksamkeit erregten, auch in den Sozialen Medien. Die Buchhalterin einer Bank wurde am 23. Mai 2023 von einem Personenschützer des Bürgermeisters von Hawassa (Region Sidama) entführt und neun Tage lang festgehalten, bevor sie wieder freikam.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Social-Media-Influencer*innen, religiöse Autoritäten und bekannte Künstler*innen starteten im Internet und im öffentlichen Raum eine Kampagne gegen LGBTI+. Sie erreichte Anfang August 2023 ihren Höhepunkt, als die Behörden in der Hauptstadt Addis Abeba Razzien in Hotels, Bars und anderen Einrichtungen vornahmen, die ihrer Ansicht nach "sexuelle Aktivitäten unter Schwulen" zuließen. LGBTI+ in Addis Abeba berichteten, sie seien verprügelt worden, nachdem man sie durch Posts in den Sozialen Medien identifiziert hatte.

Menschen, die sich für die Rechte von LGBTI+ einsetzten, warfen den Social-Media-Plattformen und insbesondere Tiktok vor, nicht gegen Inhalte vorzugehen, die zu Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität aufriefen.

Einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen waren weiterhin strafbar und konnten mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Die von den äthiopischen Behörden im Jahr 2020 verhängte Blockade von Internet- und Telefonverbindungen in West-Tigray dauerte an. Nach dem Ausbruch von Kämpfen in der Region Amhara sperrten die Behörden dort am 3. August 2023 den Internetzugang. In einigen Teilen der Region wurden darüber hinaus die Telefonverbindungen lahmgelegt. Dies hielt bis zum Jahresende an.

Im Februar 2023 führte ein Streit innerhalb der äthiopisch-orthodoxen Kirche zu Gewalt. Bei Auseinandersetzungen in der Stadt Shashamane (Region Oromia) töteten Sicherheitskräfte nach Angaben der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche am 9. Februar mindestens 30 Demonstrierende. Die Behörden untersagten Kundgebungen der am Streit beteiligten kirchlichen Fraktionen und schränkten den Zugang zu den Sozialen Medien bis zum 17. Juli 2023 ein.

Straflosigkeit

Die Regierung unternahm weiterhin nichts, um Personen strafrechtlich zu verfolgen und vor Gericht zu stellen, die mutmaßlich völkerrechtliche Verbrechen verübt hatten. Vielmehr startete sie eine Kampagne gegen Bemühungen um Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht, die dazu führte, dass die Untersuchungskommission zur Lage in der Region Tigray, die die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und die Rechte der Völker eingesetzt hatte, ihre Arbeit im Mai 2023 vorzeitig beenden musste. Die Untersuchungskommission veröffentlichte weder einen Bericht über ihre Ergebnisse noch informierte sie die Betroffenen oder die Öffentlichkeit darüber, was mit den von ihr gesammelten Beweisen geschehen würde. Im März 2023 setzte sich die Regierung dafür ein, auch das Mandat der Internationalen UN-Kommission von Menschenrechtsexpert*innen zu Äthiopien vorzeitig zu beenden, die der UN-Menschenrechtsrat eingesetzt hatte. Diese Kommission veröffentlichte jedoch im September ihren Bericht, in dem sie u. a. feststellte, dass "die derzeitige Situation [in Äthiopien] (…) weiterhin ausgeprägte Risiken für künftige Gräueltaten in sich birgt". Trotz dieser Erkenntnisse verlängerten die Mitglieder des UN-Menschenrechtsrats das Mandat der Kommission nicht, sodass es im September 2023 auslief.

Die Regierung hielt derweil öffentliche Konsultationen ab, die einen Vorschlag für eine "Übergangsjustiz" betrafen. Dieser Prozess zielte eher auf Schlichtung ab als auf Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden.

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