Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Bulgarien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Republik Bulgarien

STAATSOBERHAUPT

Rumen Radew

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Galab Donew (löste im August 2022 Kiril Petkow im Amt ab)

Stand:
1/2023

Die Medienfreiheit geriet weiter unter Druck, so waren Journalist*innen Drohungen, Einschüchterungen und missbräuchlichen Gerichtsverfahren ausgesetzt. Migrant*innen und Asylsuchende waren von Pushbacks betroffen. 2022 wurde ein Anstieg der häuslichen Gewalt verzeichnet. Gerichte kamen zu dem Urteil, dass Rom*nja während der Unruhen im Jahr 2019 diskriminiert wurden. Menschen mit Behinderungen waren anhaltender Diskriminierung ausgesetzt.

Hintergrund

Im Juni 2022 verlor die von Kiril Petkow angeführte reformistische Koalition ein Misstrauensvotum, was vorgezogene Parlamentswahlen im Oktober zur Folge hatte. Im August übernahm Galab Donew zunächst die Rolle des Übergangsregierungschefs. Bei den Parlamentswahlen gewann die GERB-Partei des früheren Ministerpräsidenten Bojko Borissow die meisten Sitze, errang jedoch keine klare Mehrheit, wodurch das Land in eine politische Krise mit noch nicht absehbarem Ende geriet.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalist*innen und unabhängige Medien, die über organisiertes Verbrechen, Korruption oder Minderheitenrechte berichteten, waren auch im Jahr 2022 mit Drohungen und Schikanen konfrontiert. Darüber hinaus strengten Regierungsvertreter*innen und Geschäftsleute häufig missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen sie an. Eine Studie der Vereinigung Europäischer Journalist*innen ergab, dass in Bulgarien jede*r zweite Journalist*in unangemessenem Druck ausgesetzt war und jede*r zehnte schon einmal mit einem Gerichtsverfahren bedroht worden war. Laut der Studie wirkte sich dies hemmend auf die Berichterstattung aus und führte zu erhöhter Selbstzensur. Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, die nicht in der Hauptstadt Sofia lebten, waren besonders in Gefahr, eingeschüchtert zu werden.

Große Medienunternehmen wurden nach wie vor von Politiker*innen und Oligarch*innen kontrolliert, was die redaktionelle Unabhängigkeit weiterhin untergrub und den Zugang zu Informationen einschränkte.

Im November 2022 nahm das Parlament in erster Lesung Änderungen des Strafgesetzbuchs an, die dieses in Einklang mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) über das Recht auf freie Meinungsäußerung bringen sollten. Durch die Änderungen würde die Bestimmung entfallen, wonach bei Verleumdung von Staatsbediensteten erschwerende Umstände vorliegen. Außerdem würden überhöhte und unverhältnismäßige Geldstrafen reduziert.

Ebenfalls im November brachte die Partei Vazrazhdane (Wiedergeburt) den Entwurf für ein Gesetz ein, das Einzelpersonen und Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" brandmarken würde. Die Nichtoffenlegung von Spenden aus dem Ausland hätte Geldstrafen zur Folge und ein Verbot, politische oder bildungsbezogene Aktivitäten durchzuführen. Zivilgesellschaftliche Organisationen warnten vor einer Untergrabung der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit durch das Gesetz.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Zahl der Flüchtlinge und Migrant*innen, die über die türkische Grenze ins Land kamen, stieg 2022 stark an. Die Behörden registrierten mehr als 85.000 Menschen, die Bulgarien auf diesem Weg erreichten, mehr als doppelt so viele wie 2021. Es kam weiterhin häufig zu summarischen Abschiebungen, mitunter begleitet von Gewalt.

Flüchtlingsorganisationen berichteten von anhaltender Diskriminierung im Asylwesen. So wurden beispielsweise die Anträge von Staatsangehörigen bestimmter Länder wie Afghanistan, Algerien, Bangladesch, Marokko und Tunesien automatisch abgelehnt.

Bulgarien nahm fast eine Million Ukrainer*innen auf, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Für 150.000 ukrainische Staatsangehörige, die vorübergehenden Schutz in Anspruch nahmen, ermöglichten die Behörden den Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Sozialdiensten und Bildung. Viele Flüchtlinge verließen ab September das Land, da ungewiss war, ob die Regierung das Programm zur Unterbringung von Flüchtlingen in Hotels verlängern würde. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) forderte die bulgarischen Behörden eindringlich auf, eine dauerhafte Lösung für die Unterbringung der Flüchtlinge zu finden.

Mehrmals brachten die Behörden ukrainische Flüchtlinge, darunter auch Familien mit Kindern, vorübergehend in einem behelfsmäßigen Aufnahmezentrum in Elchowo unter, das ursprünglich als Hafteinrichtung für Personen ohne regulären Aufenthaltsstatus gedacht war. Die NGO Bulgarian Helsinki Committee kritisierte die unzureichenden und menschenunwürdigen Lebensbedingungen in dem Zentrum.

Im August 2022 kippte ein Berufungsgericht in Warna die Entscheidung eines Bezirksgerichts, Aleksei Alchin nach Russland auszuliefern. Der russische Staatsbürger hatte den Einmarsch Russlands in die Ukraine kritisiert. Das Berufungsgericht begründete seine Entscheidung damit, dass Aleksei Alchin aufgrund seiner politischen Überzeugungen bei seiner Rückkehr wahrscheinlich Rechtsverletzungen ausgesetzt wäre.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Die Anzahl der Fälle häuslicher Gewalt, die bereits während der Coronapandemie in die Höhe geschnellt war, stieg 2022 weiter an.

Änderungen des Gesetzes über den Schutz vor häuslicher Gewalt sowie des Strafgesetzbuchs, mit denen die bulgarischen Gesetze stärker in Einklang mit internationalen Standards gebracht und der Schutz Betroffener verbessert werden sollte, waren bis zum Jahresende noch nicht verabschiedet worden.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats forderte die Behörden auf, den gravierenden Mangel an Unterstützungsleistungen für Überlebende häuslicher Gewalt in allen Landesteilen schnellstmöglich zu beheben.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Juni 2022 verurteilte ein Gericht in Sofia Bojan Rasate, der bei der Präsidentschaftswahl 2021 für die Partei "Bulgarische Nationale Union" kandidiert hatte, wegen des Einbruchs in das Rainbow Hub, ein Zentrum für LGBTI-Veranstaltungen, im Jahr 2021 zu einer Geldstrafe von 3.000 Lew (etwa 1.500 Euro). Bei dem Einbruch war das Zentrum verwüstet und ein Aktivist verletzt worden. Von der Anklage wegen Körperverletzung wurde er freigesprochen.

Im Juni 2022 forderte der EGMR Bulgarien auf, der Mutter eines 2008 bei einem homofeindlichen Angriff ums Leben gekommenen jungen Mannes eine Entschädigung zu zahlen. Entsprechend dem Urteil legte der Ministerrat im Dezember Änderungsvorschläge für das Strafgesetzbuch vor, mit denen bei bestimmten Personendelikten, z. B. bei Mord, Homofeindlichkeit als erschwerender Umstand gewertet werden soll.

Die Behörden ergriffen keinerlei Maßnahmen, um eine nationale Strategie und einen Handlungsplan zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität zu erarbeiten.

Diskriminierung

Im Oktober 2022 entschied der EGMR, dass die bulgarischen Behörden das Recht auf Privatsphäre und Familienleben der Rom*nja verletzt hatten, die 2019 während der gewaltsamen Rom*nja-feindlichen Proteste in Wojwodinowo aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Zudem wies der Gerichtshof die Behörden an, die Betroffenen zu entschädigen. Im August erklärte die nationale Kommission für den Schutz vor Diskriminierung, dass die Vertreibung der Rom*nja aus Wojwodinowo ein Akt der Diskriminierung gewesen sei.

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz forderte die bulgarischen Behörden auf, entschiedener gegen Hassreden und Vorurteile gegenüber Rom*nja vorzugehen.

Recht auf Privatsphäre

Im Januar 2022 entschied der EGMR in einem Urteil, dass die bulgarischen Gesetze über geheime Überwachung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstießen. Das Gericht erklärte, dass die Gesetze keine ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen willkürliche oder missbräuchliche Überwachung böten und es an Kontrollmechanismen gegen unnötigen und unverhältnismäßigen Zugang zu gespeicherten Kommunikationsdaten mangele.

Rechte von Menschen mit Behinderungen

In zwei separaten Verfahren entschied der EGMR, dass Bulgarien das Wahlrecht zweier Personen verletzt habe, die mit einer geistigen Behinderung lebten und unter eingeschränkter Vormundschaft standen. Der Gerichtshof stellte fest, dass Bulgariens faktisches pauschales Wahlverbot für Menschen mit einer geistigen Behinderung unverhältnismäßig und ungerechtfertigt sei. Das bulgarische Verfassungsgericht lehnte die Anfertigung einer verfassungsrechtlichen Auslegung der bulgarischen Gesetze in Bezug auf das Wahlrecht von Menschen mit einer geistigen Behinderung mit der Begründung ab, dass die einschlägigen Bestimmungen in der Verfassung klar genug seien.

Die Behörden bekräftigten ihr Bestreben, spezialisierte Einrichtungen für Erwachsene mit Behinderungen schließen zu wollen. Menschenrechtsorganisationen erklärten jedoch, dass die Regierung die Dienste zur örtlichen Betreuung verbessern müsse, um eine würdevolle Alternative zur Gruppenunterbringung in Einrichtungen bereitzustellen.

Im Juni 2022 forderte der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter Bulgarien eindringlich auf, schnellstmöglich Maßnahmen zur Beseitigung schlechter Lebensbedingungen und körperlicher Vernachlässigung in Sozialpflegeheimen zu verabschieden.

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