Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Chile 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Republik Chile

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Gabriel Boric Font (löste im März 2022 Sebastián Piñera Echenique im Amt ab)

Stand:
1/2023

Menschenrechtsverletzungen, die während der Massenproteste im Jahr 2019 begangen wurden, blieben weiterhin ungestraft. Die Behörden richteten einige Mechanismen ein, um die Wiedergutmachung für Betroffene voranzubringen. Menschenrechtsverteidiger*innen wurden nach wie vor bedroht und angegriffen. Reformvorschläge bezüglich des Rechts auf Gesundheit und hinsichtlich sexueller und reproduktiver Rechte warteten Ende 2022 noch auf ihre Umsetzung. Für Flüchtlinge und Migrant*innen war es nach wie vor äußerst schwer, einen regulären Aufenthaltsstatus zu erhalten.

Hintergrund

Im September 2022 stimmten die chilenischen Bürger*innen in einem Referendum mit großer Mehrheit gegen den Entwurf für eine neue Verfassung, die den Schutz von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Umweltrechten gestärkt hätte. Vertreter*innen verschiedener politischer Parteien verpflichteten sich, einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen.

Regionen im Norden und Süden Chiles befanden sich aufgrund der "Migrationskrise" und des Konflikts zwischen der Regierung und der indigenen Gemeinschaft der Mapuche für den Großteil des Jahres im Ausnahmezustand.

Im Mai 2022 ratifizierte Chile das Regionale Abkommen über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen), das Bestimmungen zum Schutz von Menschenrechtler*innen im Umweltbereich enthält.

Exzessive Gewaltanwendung und Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Es kam 2022 zu einigen Protesten, hauptsächlich in der Hauptstadt Santiago. In mehreren Fällen reagierte die Polizei mit unverhältnismäßiger Gewaltanwendung.

Menschenrechtsverletzungen durch Staatsbedienstete im Zusammenhang mit den sozialen Unruhen Ende 2019 hatten zu 10.938 Anzeigen geführt. Bis Ende 2022 hatte die Staatsanwaltschaft jedoch nur 140 Anklagen erhoben. In 17 Fällen kam es zu Verurteilungen, zwei weitere Fälle endeten mit einem Freispruch.

Ein Gericht sprach einen ehemaligen Hauptmann der Nationalpolizei (Carabineros) im Zusammenhang mit den Verletzungen von Fabiola Campillai wegen rechtswidriger Zwangsausübung im Dienst (apremios ilegítimos) schuldig. Fabiola Campillai hatte ihr Sehvermögen sowie ihren Geruchs- und Geschmackssinn verloren, als sie im November 2019 auf dem Weg zu einer Bushaltestelle von einer Tränengasgranate der Polizei direkt ins Gesicht getroffen wurde.

Ein ehemaliger leitender Angehöriger der Polizei wurde in Verbindung mit dem Fall von Gustavo Gatica angeklagt, der bei den Protesten im November 2019 durch Schüsse aus Schrotflinten sein Augenlicht verloren hatte. Die Ermittlungen in diesem Fall dauerten noch an.

Ein nichtmilitärisches Strafgericht verurteilte einen Armeeangehörigen zu fünf Jahren Haft. Er war schuldig gesprochen worden, Kevin Gómez im Oktober 2019 in der Stadt Coquimbo getötet zu haben.

Die Staatsanwaltschaft im Norden Chiles setzte die Ermittlungen gegen hochrangige Mitglieder der Regierung des ehemaligen Präsidenten Sebastián Piñera wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Folter und anderer Misshandlungen ("rechtswidrige Zwangsausübung im Dienst" laut chilenischem Strafgesetzbuch) fort. Zu den Personen, gegen die ermittelt wurde, gehörten auch Angehörige des Führungsstabs der Carabineros, die beschuldigt wurden, für Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtliche Verbrechen während der sozialen Unruhen 2019 verantwortlich zu sein.

Die Regierung kündigte die Schaffung einer Kommission zur Reform der Polizei und eines entsprechenden Beratungsgremiums an. Zudem sicherte sie eine umfassende Agenda für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Menschen zu, die von Menschenrechtsverletzungen während der sozialen Unruhen betroffen waren. Die Regierung richtete darüber hinaus einen Runden Tisch für Wiedergutmachung (Mesa de Reparación Integral) ein, um politische Maßnahmen und Gesetze für Wiedergutmachung auszuarbeiten.

Im Jahr 2022 wurde ein neues Programm zur Entschädigung der mehr als 400 Menschen angekündigt, die während der Proteste 2019 Augenverletzungen erlitten hatten. Es sollte das bisherige Programm, das weithin kritisiert worden war, ablösen.

Ein Gericht verurteilte einen Angehörigen der Carabineros zu vier Jahren Bewährung mit umfangreichen Auflagen, weil er dem Teilnehmer einer Studierendendemonstration im Jahr 2013 Augenverletzungen zugefügt hatte.

Zehn ehemalige Militärangehörige wurden im Quemados-Fall ("Fall der Verbrannten") schuldig gesprochen. Militärangehörige hatten im Jahr 1986 während einer Demonstration Rodrigo Rojas de Negri und Carmen Gloria Quintana geschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet. Rodrigo Rojas starb an seinen Verletzungen.

Die Regierung legte einen Nationalen Plan zur Suche nach verschwundenen Häftlingen vor, um das Schicksal von mehr als tausend Personen zu klären, die unter dem Regime von Augusto Pinochet (1973–1990) "verschwunden" waren.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Nach wie vor befanden sich Personen in Haft, die wegen vermeintlicher Straftaten während der Massenproteste 2019 angeklagt waren. Viele wurden nach langer Untersuchungshaft aus Mangel an Beweisen freigesprochen; in einigen Fällen stellte sich heraus, dass die vorliegenden Beweise gefälscht waren. Während des ganzen Jahres 2022 kam es zu Protesten, bei denen ihre Freilassung gefordert wurde. Eine Gesetzesvorlage zur Begnadigung derjenigen, die im Zusammenhang mit den Massenprotesten im Jahr 2019 unter Anklage gestellt worden waren, lag dem Kongress weiterhin zur Abstimmung vor. Ende 2022 sprach die Regierung 13 Begnadigungen aus, fast alle für Menschen, die während der Unruhen inhaftiert worden waren.

Rechte indigener Gemeinschaften

Ein Gericht verurteilte drei Carabineros wegen rechtswidriger Zwangsausübung und Schikane, weil sie Kinder der indigenen Gemeinschaft der Mapuche in der Gemeinde Ercilla bei einer Personenkontrolle im Jahr 2018 gezwungen hatten, sich nackt auszuziehen.

Es wurde ein neuer Prozess zum Tod von Alex Lemún geführt, einem Angehörigen der Mapuche, der im November 2002 in der Gemeinde Angol von der Polizei erschossen worden war. Zuvor hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission festgestellt, dass die chilenischen Behörden im Fall von Alex Lemún für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren und den Fall neu untersuchen müssen. Im November 2022 wurde in dem Fall ein Oberst der Carabineros zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Das Bildungsministerium kündigte einen Gesetzentwurf zur umfassenden Sexualerziehung an, ohne ihn jedoch dem Kongress vorzulegen.

Recht auf Gesundheit

Chile hatte im Jahr 2022 mit 3.215 Toten pro eine Million Einwohner*innen eine der höchsten Sterblichkeitsraten im Zusammenhang mit Covid-19 in der Region Amerika. Ein Wahlversprechen der neuen Regierung war eine Gesundheitsreform hin zu einem für alle erschwinglichen Gesundheitssystem.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Der Kongress schaffte das höhere Schutzalter für gleichgeschlechtliche Handlungen ab. Die Prüfung des Antidiskriminierungsgesetzes durch den Kongress im Hinblick auf die Rechte von LGBTI+ machte jedoch kaum Fortschritte.

Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen

Verónica Vilches, eine Aktivistin, die sich in der Provinz Petorca für das Recht auf Wasser einsetzt, erhielt erneut Morddrohungen. Im Juni 2022 wurde das Haus von Lorena Donaire niedergebrannt, die sich ebenfalls in der Provinz für das Recht auf Wasser stark macht. Die Untersuchungen zu den Vorfällen waren Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Während einer Demonstration anlässlich des Internationalen Tags der Arbeit wurde die Reporterin eines lokalen Fernsehsenders von einer Zivilperson angeschossen und erlag später ihren Verletzungen.

Umweltzerstörung

In den Städten Quintero und Puchuncaví in der Region Valparaíso herrschte 2022 mehrmals so starke Luftverschmutzung, dass die öffentliche Gesundheit gefährdet war. Die Behörden kündigten die schrittweise Schließung der Kupfergießerei Ventanas an, deren Schwefeldioxidemissionen mit die höchsten in der Region waren.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden setzten auch 2022 rechtswidrige Praktiken ein, um Menschen den Zugang zu Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus zu verweigern. Die langwierigen Verfahren dauerten zwischen zwei und vier Jahren, und nur sehr wenige Personen wurden als Flüchtlinge anerkannt. Die Behörden nahmen ihre Praxis wieder auf, ausländische Staatsangehörige umgehend abzuschieben, ohne zu prüfen, ob sie internationalen Schutz benötigten oder welchen Risiken sie bei einer Abschiebung ausgesetzt waren.

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Polizeieinsatz mit Wasserwerfern bei einer Demonstration in Santiago (Archivaufnahme vom 4. November 2021)

© Esteban Felix / AP / pa

Folter und andere Misshandlungen

Der Nationale Ausschuss zur Verhütung von Folter bestätigte, dass in einer psychiatrischen Klinik in der Region Valparaíso Menschenrechtsverletzungen begangen worden waren, doch die Staatsanwaltschaft von Valparaíso beantragte die endgültige Einstellung der Ermittlungen.

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