Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Kanada 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Kanada

STAATSOBERHAUPT

König Charles III. (folgte im September 2022 Königin Elizabeth II. auf den Thron), vertreten durch Generalgouverneurin Mary May Simon

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Justin Trudeau

Stand:
 1/2023

Marginalisierte Gruppen waren intersektionalen Ungleichheiten, systemischer Diskriminierung und Hindernissen bei der Realisierung ihrer Menschenrechte ausgesetzt. Das Recht auf Versammlungsfreiheit war häufig bedroht, wovon insbesondere indigene Landrechtsverteidiger*innen betroffen waren. Die Behörden ergriffen keine ausreichenden Maßnahmen gegen die Klimakrise.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Februar 2022 griffen die Behörden auf das Notstandsgesetz (Emergencies Act) zurück, um die "Freedom Convoy"-Blockade zu beenden, mit der Fernfahrer*innen in der Hauptstadt Ottawa gegen die Corona-Impfvorschriften und -Beschränkungen protestierten. Der Protest der LKW-Fahrer*innen war von Rassismus, Gewalt, Schikane, Einschüchterung und Hassreden geprägt. Am 25. April 2022 berief die Regierung eine Kommission (Public Order Emergency Commission) ein, um die Anwendung des Notstandsgesetzes prüfen zu lassen.

Am 3. November 2022 verabschiedete die Regierung in Ontario ein Gesetz (Bill 28), das es Mitgliedern der Gewerkschaft der Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Dienst (CUPE) verbot, ihr in der Verfassung verbrieftes Recht auf Durchführung eines geplanten Streiks wahrzunehmen. Das Streikverbot galt u. a. für pädagogische Mitarbeiter*innen, Schulhausmeister*innen, Erzieher*innen, Sekretär*innen und andere Fachkräfte. Das Gesetz wurde am 14. November wieder aufgehoben.

Rechte indigener Gemeinschaften

Die im Reservat Pessamit lebende indigene Gemeinschaft der Innu wies mit Nachdruck darauf hin, dass der Klimawandel, forstwirtschaftliche Praktiken, Wasserkraftprojekte und kolonialpolitische Maßnahmen ihre traditionelle Lebensweise und Identität, einschließlich ihrer kulturellen Rechte, bedrohten. Sie forderte, dass die kulturellen Rechte indigener Gemeinschaften (First Nations) in allen Plänen und Maßnahmen der Klimaschutzpolitik Berücksichtigung finden.

Im April 2022 erkannte Premierminister Trudeau offiziell die Rolle der katholischen Kirche und der kanadischen Regierung bei der Gründung, Aufrechterhaltung und dem Betrieb der ehemaligen Internatsschulen an. Dieses System der Internatsschulen wurde am 27. Oktober 2022 vom Unterhaus einstimmig als Völkermord an den First Nations anerkannt.

Am 1. Juni 2022 wurden 19 indigene Landrechtsverteidiger*innen, die sich gegen den Bau einer Flüssiggas-Pipeline auf ihrem angestammten Territorium wehrten, wegen Missachtung eines Gerichtsbeschlusses angeklagt. Am 22. Juni reichten Landrechtsverteidiger*innen der Wet’suwet’en First Nation eine Zivilklage wegen Überwachung, Drangsalierung und Einschüchterung gegen den Justizminister der Provinz British Columbia, drei Angehörige der berittenen Bundespolizei Royal Canadian Mounted Police (RCMP), das Sicherheitsunternehmen Forsythe Security und das private Wirtschaftsunternehmen Coastal GasLink Pipeline Ltd. ein. Das Verfahren war Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Im September 2022 begann Coastal GasLink Pipeline Ltd. trotz des Widerstands der traditionellen Sprecher*innen (Hereditary Chiefs) der Wet’suwet’en mit Bohrungen auf dem Territorium der First Nation.

Die First Nations forderten in allen sie betreffenden Fragen einen Dialog auf Augenhöhe (Nation-to-Nation) mit den Regierungen der Provinzen und des Bundes. Die Behörden ignorierten jedoch weiterhin das Recht der First Nations auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu Projekten der Rohstoffgewinnung.

Recht auf Wasser

33 Long-term Drinking Water Advisories – langfristige Trinkwasserwarnungen, die im Fall von möglicherweise oder bekanntermaßen kontaminiertem Trinkwasser erlassen werden – blieben bis Ende des Jahres in Kraft und betrafen 29 Gemeinschaften der First Nations. Im August 2022 wurde in der im Territorium Nunavut gelegenen Stadt Iqaluit wegen Wasserknappheit der Notstand ausgerufen.

Nach einer Sammelklage mehrerer First Nations wurde das sie betreffende Gesetz über sicheres Trinkwasser von 2013 (Safe Drinking Water for First Nations Act) aufgehoben. Die Behörden verpflichteten sich, in Absprache mit den First Nations ein neues Gesetz zu erlassen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im Juli 2022 bestätigte der Ständige Ausschuss für Menschenrechte des Senats, dass indigene, Schwarze und rassifizierte Frauen sowie Menschen mit Behinderungen in unverhältnismäßig hohem Maße von Zwangssterilisationen betroffen waren. Im November bestätigte eine Untersuchung in Québec, dass Frauen aus First Nations Zwangssterilisationen unterzogen wurden und verschiedene Formen von Gewalt bzw. Diskriminierung in der Geburtshilfe erlitten.

Die Umsetzung der Empfehlungen aus dem Fortschrittsbericht 2022 zum Nationalen Aktionsplan zur Beendigung der Gewalt gegen indigene Frauen, Mädchen und als Two-Spirits bezeichnete Menschen wies Ende des Jahres noch Lücken auf, was die Erhebung aufgeschlüsselter Daten und Mechanismen zur Rechenschaftslegung betraf. Im November 2022 wurde ein neuer Nationaler Aktionsplan zur Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt vorgestellt.

Im Oktober 2022 reichte eine Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen, die transgeschlechtliche, indigene und Schwarze Sexarbeiter*innen vertrat, vor dem Obersten Gericht (Superior Court) von Ontario Klage gegen die Rechtmäßigkeit von Gesetzen ein, die Sexarbeit kriminalisierten. Eine Entscheidung darüber stand zum Ende des Jahres noch aus.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im August 2022 brachte die Regierung den ersten "2SLGBTQI+ Aktionsplan" (Federal 2SLGBTQI+ Action Plan) auf den Weg. Mit den dafür zur Verfügung gestellten Finanzmitteln sollen in erster Linie zivilgesellschaftliche Organisationen Schwarzer, indigener und rassifizierter LGBTI+ gefördert werden. Dem Plan fehlte es jedoch an Kernempfehlungen für die Bereiche Gesundheit, Beschäftigung und Flüchtlingshilfe. Ebenso fehlten Details zur Umsetzung.

Diskriminierung

Im April 2022 verurteilte der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) die Kriminalisierung von Landrechtsverteidiger*innen der Secwepemc und Wet’suwet’en First Nations durch die kanadische Regierung, die Regierung der Provinz British Columbia, die Spezialeinheit der Community-Industry Response Group (RCMP) und private Sicherheitsfirmen.

Im Juni 2022 meldete die Polizeibehörde von Toronto unangemessene Gewaltanwendung und Leibesvisitationen in Stadtteilen, die von rassifizierten Gemeinschaften bewohnt waren. Stadtteile mit vornehmlich Schwarzen Einwohner*innen waren besonders betroffen.

Im Oktober 2022 erklärte das Oberste Gericht von Québec willkürlich durchgeführte Verkehrskontrollen für verfassungswidrig, da sie auf der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nach ethnischen Kriterien (Racial Profiling) basierten. Die Regierung von Québec legte im November 2022 Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein, was im Widerspruch zu einer 2020 eingegangenen Verpflichtung, gegen diese Form der Diskriminierung vorzugehen, stand.

Am 4. Oktober 2022 stellte die kanadische Regierung einen Antrag auf Abweisung einer Sammelklage Schwarzer Bundesbediensteter, in der diese ihre systemische Diskriminierung im öffentlichen Dienst anprangerten. Eine Entscheidung über den Antrag stand Ende des Jahres noch aus.

Im November 2022 wurde vor dem Berufungsgericht in Québec ein Rechtsmittel angehört, das gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichts in Québec eingereicht worden war, die den Großteil der Bestimmungen des Gesetzes 21 (Bill 21) für rechtmäßig erklärt hatte, wonach das Tragen religiöser Symbole in bestimmten Positionen des öffentlichen Dienstes verboten war.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Mai 2022 stellte das Oberste Gericht von Québec den Zugang zu subventionierter Kinderbetreuung für Flüchtlingsfamilien während der Bearbeitung ihrer Asylanträge wieder her, den die Regierung von Québec seit 2018 verweigert hatte. Die Regierung von Québec legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel ein.

Im Juni 2022 kündigte die Regierung von British Columbia an, die Praxis der Inhaftierung von Einwander*innen in den Gefängnissen der Provinz beenden zu wollen. Sie begründete diese Entscheidung mit Menschenrechtsbedenken. Die Provinzen Nova Scotia, Alberta und Manitoba folgten diesem Beispiel.

Im August 2022 wies das Oberste Gericht von Ontario einen Antrag auf Aufhebung von Bestimmungen ab, denen zufolge Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus keinen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsleistungen hatten. Zudem war mit dem Antrag Schadensersatz für eine betroffene Person gefordert worden, doch auch dies wurde abgelehnt.

Im Oktober 2022 befasste sich der Oberste Gerichtshof Kanadas mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Abkommen über sichere Drittstaaten, auf dessen Grundlage den meisten Asylsuchenden, die an den offiziellen Grenzübergängen über den Landweg nach Kanada kamen, der Zugang zum kanadischen Asylsystem verweigert wurde.

Flüchtlinge wurden bei der Aufnahme (Resettlement) häufig unterschiedlich behandelt. Die Behörden verpflichteten sich, 40.000 Afghan*innen aufzunehmen und das Programm zum Gemeinschafts-Sponsoring auf 3.000 afghanische Flüchtlinge zu erhöhen. Ukrainische Flüchtlinge hingegen erhielten in unbegrenzter Anzahl gebührenfreie temporäre Besuchsvisa und einen temporären Aufenthaltstitel (Canada-Ukraine Authorization for Travel Emergency – CUAET).

Klimakrise

Unter den zehn Ländern mit den meisten Emissionen war Kanada 2022 weiterhin das Land mit den höchsten CO2-Emissionen pro Kopf. Zudem gab es nur wenige Länder, in denen mehr staatliche Gelder für fossile Brennstoffe ausgegeben wurden.

Im April 2021 hatte die Regierung ihren nationalen Klimabeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC) aktualisiert. Demnach soll bis 2030 eine Reduzierung der CO2-Emissionen um 40 bis 45 Prozent gegenüber dem Niveau von 2005 und bis 2050 die Netto-Null-Emission erreicht werden. Diese Ziele entsprachen jedoch nicht der Verantwortung und den Möglichkeiten Kanadas zum Klimaschutz. Zudem reichten sie für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels nicht aus.

Kanada sagte zu, seinen finanziellen Beitrag zur Unterstützung von Bemühungen zum Klimaschutz in Entwicklungsländern im Laufe der nächsten fünf Jahre auf 5,3 Mrd. Kanadische Dollar (etwa 3,7 Mrd. Euro) zu verdoppeln. Auch diese Zusage blieb jedoch hinter einem der Verantwortung Kanadas angemessenen Beitrag für die Eindämmung des Klimawandels zurück.

Bis zum 1. Juli 2022 hatte die kanadische Exportkredit-Agentur (Export Development Canada) 3,4 Mrd. Kanadische Dollar (etwa 2,35 Mrd. Euro) für den Öl- und Gassektor in Kanada und im Ausland bereitgestellt.

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