Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Kasachstan 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Republik Kasachstan

STAATSOBERHAUPT

Kassym-Schomart Tokajew

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Alichan Smailow (löste im Januar 2022 Askar Mamin im Amt ab)

Stand:
 1/2023

Die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren übermäßig eingeschränkt. Dies betraf auch die Massenproteste, die im Januar 2022 stattfanden. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver Gewalt gegen friedliche Protestierende vor, wodurch zahlreiche Menschen verletzt und getötet wurden. Demonstrierende wurden willkürlich festgenommen und in Gewahrsam gefoltert. Ordnungskräfte genossen in der Regel Straffreiheit, wenn sie Protestierende angriffen und misshandelten. Journalist*innen, die über die Proteste berichteten, wurden ins Visier genommen, und einige von ihnen kamen in Haft. Kasachstan schaffte die Todesstrafe für alle Straftaten ab.

Hintergrund

Im Januar 2022 kam es in ganz Kasachstan zu Protesten, nachdem die staatlichen Subventionen für Flüssiggas abgeschafft worden waren. Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstrierenden wandten die Behörden tödliche Gewalt an, wodurch mehr als 200 Zivilpersonen ums Leben kamen.

Am 5. Januar 2022 löste Präsident Tokajew das Kabinett auf und entließ mehrere hochrangige Staatsbedienstete, die dem ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew nahegestanden haben sollen. Nursultan Nasarbajew selbst verlor seine Posten als Vorsitzender des kasachischen Sicherheitsrats und der Regierungspartei Nur Otan.

Am 8. Juni und am 17. September 2022 wurden zwei Verfassungsänderungen erlassen. Sie schränkten die Befugnisse des Präsidenten ein und begrenzten seine Regierungszeit auf eine einmalige Amtszeit, die jedoch von fünf auf sieben Jahre erhöht wurde. Mit den Änderungen wurde zudem das Amt einer Ombudsperson für Menschenrechte eingerichtet, die Regierungsstruktur geändert und der Name der Hauptstadt des Landes von Nur-Sultan in Astana zurückgeändert.

Am 20. November 2022 erhielt der Amtsinhaber Kassym-Schomart Tokajew bei einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl 81 Prozent der Stimmen. Beobachter*innen der OSZE kritisierten einen "Mangel an Wettbewerb" bei den Wahlen und stellten fest, dass die Beschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen "die Möglichkeit der Wähler*innen einschränkten, eine informierte Entscheidung zu treffen".

Recht auf Versammlungsfreiheit

Ab dem 2. Januar 2022 kam es nach einer drastischen Erhöhung der Preise für Flüssiggas zu Massendemonstrationen. Die Forderungen der Demonstrierenden weiteten sich jedoch schnell von wirtschaftlichen auf politische Themen aus und zielten auch auf ein Ende der Korruption ab. Viele Demonstrierende forderten insbesondere die Entmachtung des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der trotz seines offiziellen Rücktritts im Jahr 2019 weiterhin erheblichen politischen und wirtschaftlichen Einfluss hatte.

Die Mehrheit der Demonstrierenden verhielt sich friedlich, aber in einer Reihe von Städten wie beispielsweise Almaty kam es zu Gewalttaten. Die Behörden reagierten mit willkürlichen Massenfestnahmen und exzessiver Gewalt und setzten dabei u. a. Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Am 5. Januar 2022 verhängte Präsident Tokajew einen landesweiten Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre. Er bezeichnete die Demonstrierenden als "Terroristen" und setzte die Armee ein, um die Demonstrationen aufzulösen. Mehr als 10.000 Demonstrierende wurden festgenommen und viele wurden geschlagen oder anderweitig misshandelt und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Mehr als 3.000 kamen bis zu 15 Tage lang in Verwaltungshaft. Rund 1.600 wurden strafrechtlich verfolgt, zumeist wegen "Teilnahme an gewalttätigen Massenunruhen" und anderer Gewaltdelikte.

Am 27. Oktober 2022 verabschiedete das Parlament ein Amnestiegesetz für Personen, die im Zusammenhang mit den Januarprotesten strafrechtlich verfolgt wurden. Offiziellen Angaben zufolge fand das Gesetz in 1.071 Fällen Anwendung. Personen, die des Terrorismus, Extremismus, der Organisation von Massenunruhen, Korruption oder Folter beschuldigt wurden, waren von der Amnestie ausgenommen.

Die für friedliche Versammlungen geltende Gesetzgebung war nach wie vor übermäßig restriktiv. Sie ermöglichte es den Behörden, unerwünschte Proteste unter vagen oder verfahrenstechnischen Vorwänden willkürlich zu verbieten, was sie auch immer wieder taten. Nach Angaben kasachischer Menschenrechtsgruppen verweigerten die Behörden im Jahr 2022 die Genehmigung von mindestens 154 friedlichen Protestveranstaltungen. Die Strafverfolgungsbehörden machten häufig Gebrauch von der Möglichkeit der so genannten "präventiven Festnahme" von Personen, die als potenzielle Demonstrierende angesehen wurden. Häufig waren diese Maßnahmen willkürlich.

Exzessive Gewaltanwendung

Im Januar 2022 setzten die Sicherheitskräfte wahllos und rechtswidrig Gummigeschosse und Schusswaffen gegen friedliche Demonstrierende, gewalttätige Menschenmengen, plündernde Personen und unbeteiligte Passant*innen ein. Am 7. Januar befürwortete Präsident Tokajew dieses Vorgehen, als er öffentlich erklärte, dass er Ordnungskräften und der Armee befohlen habe, ohne Vorwarnung zu schießen. Offiziellen Angaben zufolge wurden bei diesen Vorfällen mindestens 219 Zivilpersonen und 19 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet.

Die Armee wurde eingesetzt, um bei den Protesten Polizeiaufgaben zu übernehmen, obwohl die Militärangehörigen über keine entsprechende Ausbildung oder Ausrüstung verfügten. Zahlreichen Berichten zufolge schossen Unbekannte während der Ausgangssperre auf Fußgänger*innen und Autos. Zumindest einige dieser Angriffe wurden allem Anschein nach von Sicherheitskräften verübt. Die meisten dieser Vorfälle wurden bis Ende des Jahres nicht untersucht. Die am 27. Oktober 2022 verkündete Amnestie könnte dazu führen, dass die Verantwortlichen einer Strafverfolgung entgehen.

Folter und andere Misshandlungen

Angehörige der Sicherheitskräfte folterten und misshandelten viele der Personen, die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten im Januar 2022 festgenommen worden waren. Die Festgenommenen wurden häufig in irregulären Hafteinrichtungen wie Sporthallen festgehalten oder in überfüllten Zellen untergebracht. Ihre Menschenrechte wurden verletzt, indem sie z. B. gezwungen wurden, in unbequemen Positionen zu verharren oder auf dem Boden zu schlafen. Häufig erhielten sie wenig oder gar kein Essen und Wasser und auch keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Bedienstete der Hafteinrichtungen, die oft schwarze Uniformen ohne Rangabzeichen trugen, schlugen die Gefangenen regelmäßig bei ihrer Ankunft und während ihrer gesamten Haftzeit.

Lokale Menschenrechtsgruppen berichteten, dass Hunderte Gefangene gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden, um "Geständnisse" von ihnen zu erpressen oder sie zu bestrafen. Zu den angewandten Folter- und Misshandlungsmethoden gehörten Schläge, Elektroschocks, Verbrennungen mit Dampfbügeleisen, das Überstülpen von Plastiksäcken über den Kopf der Gefangenen und das Einstechen von Nadeln unter die Fingernägel. Strafvollzugsbedienstete räumten ein, dass im Januar sechs Personen infolge "rechtswidriger Verhörmethoden" in der Haft starben.

Die Behörden führten keine wirksamen, unparteiischen und gründlichen Untersuchungen zu Vorwürfen von Folter und anderen Misshandlungen durch, auch nicht zu solchen mit Todesfolge. Selbst wenn Ermittlungen eingeleitet wurden, führten sie nur selten zu strafrechtlicher Verfolgung. Behördenangaben zufolge wurden mehr als 300 Fälle von Folter untersucht, aber nur 49 Angehörige der Sicherheitskräfte waren bis Oktober wegen verschiedener Anschuldigungen im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Januar strafrechtlich verfolgt worden. Es war eine seltene Ausnahme, als fünf Polizeiangehörige in der Stadt Taldykorgan vor Gericht gestellt wurden, weil sie 24 Gefangene gefoltert haben sollen, darunter zwei Minderjährige.

Am 12. Januar 2022 wurde die Menschenrechtsverteidigerin Raigul Sadyrbaeva von den Behörden festgenommen und fälschlich der Teilnahme an Massenunruhen beschuldigt, nachdem sie die Proteste in der Stadt Semey beobachtet hatte. Sie wurde zwei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, misshandelt, einer Scheinhinrichtung unterzogen und mit Vergewaltigung bedroht. Ihr wurde zudem die medizinische Versorgung verweigert. Mit diesen Maßnahmen sollte sie dazu gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Bis zum 14. März blieb sie in Untersuchungshaft, danach wurde sie unter Hausarrest gestellt. Im September kam sie frei, erhielt jedoch ein Reiseverbot. Ihre Strafverfolgung war bis zum Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen. Berichten zufolge weigerten sich die Behörden im Oktober, den von ihr erhobenen Foltervorwürfen nachzugehen, und beriefen sich dabei auf fehlende Beweise für strafbares Fehlverhalten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Sicherheitskräfte nahmen willkürlich Journalist*innen fest, die über die Proteste im Januar 2022 berichteten. Einige wurden wegen der "Teilnahme an rechtswidrigen friedlichen Versammlungen" in Verwaltungshaft genommen.

Die Medien waren das ganze Jahr über Einschränkungen unterworfen. Am 3. Juli 2022 nahmen Sicherheitskräfte den unabhängigen Journalisten Makhambet Abzhan unter dem Vorwurf fest, Geld von einem lokalen Geschäftsmann erpresst zu haben. Es wurde befürchtet, dass er wegen seiner Kritik an den Behörden ins Visier genommen worden war. Ende des Jahres befand er sich noch immer in Haft.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Mitgliedschaft in Organisationen, die willkürlich als "extremistisch" eingestuft wurden, stellte nach wie vor eine Straftat nach Paragraf 405 des Strafgesetzbuchs dar, die mit bis zu sechs Jahren Haft geahndet werden konnte. Zwischen Januar und Oktober 2022 wurden 16 Personen unter Paragraf 405 strafrechtlich verfolgt, im Vergleich zu 66 im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Am 25. Februar 2022 nahm die Polizei den Vorsitzenden der oppositionellen Demokratischen Partei Kasachstans, Janbolat Mamai (auch Zhanbolat Mamay), fest. Er wurde zunächst in "Verwaltungshaft" genommen, weil er eine friedliche Mahnwache zum Gedenken an die Menschen, die bei den Demonstrationen im Januar getötet worden waren, organisiert hatte. Am 14. März wurde er dann aufgrund strafrechtlicher Anklagen in Untersuchungshaft genommen und am 2. November unter Hausarrest gestellt, der bis Jahresende noch nicht aufgehoben worden war. Janbolat Mamai wurde der "vorsätzlichen Verbreitung von Falschinformationen", "Beleidigung eines Regierungsvertreters" und der "Verletzung der Rechtsvorschriften für friedliche Versammlungen" bezichtigt. Alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe bezogen sich auf die Ausübung seiner Menschenrechte.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 flohen Tausende Russ*innen nach Kasachstan, das russischen Staatsangehörigen mit Inlandspässen die Einreise und den Aufenthalt für bis zu 90 Tage erlaubte. Etwa 20.000 russische Staatsangehörige kamen vor dem 21. September 2022, dem Beginn der Mobilmachung in Russland, nach Kasachstan. Bis zu 200.000 weitere folgten danach, von denen jedoch viele anschließend nach Russland zurückkehrten oder in andere Länder weiterreisten.

Die kasachischen Behörden sagten Hilfe zu und bemühten sich im Allgemeinen, die aus Russland ankommenden Menschen unterzubringen. So eröffneten sie z. B. zusätzliche Einrichtungen für die Registrierung von ausländischen Staatsangehörigen und stellten Notunterkünfte zur Verfügung. Im Oktober 2022 brachten die Behörden den Vorschlag ein, von russischen Staatsangehörigen das Vorlegen internationaler Pässe zu verlangen, um einen Aufenthaltsstatus zu erhalten. Internationale Pässe sind Dokumente, die von den russischen Behörden für ins Ausland reisende Personen ausgestellt werden, die aber in Russland kaum jemand besitzt. Sollten diese Änderungen verabschiedet werden, könnten viele Geflüchtete gezwungen sein, nach Russland zurückzukehren oder Asyl zu beantragen. Asylverfahren in Kasachstan waren jedoch weiterhin langwierig und blieben häufig erfolglos.

Todesstrafe

Am 8. Januar 2022 traten Änderungen des Strafgesetzbuchs in Kraft, mit denen alle Verweise auf die Todesstrafe gestrichen wurden. Die Änderungen waren im Dezember 2021 verabschiedet worden.

Am 8. Juni 2022 traten Verfassungsänderungen in Kraft, mit denen die Abschaffung der Todesstrafe in der Verfassung verankert wurde.

Am 24. Juni wurde die Ratifizierung des zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte rechtskräftig, das die weltweite Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe zum Ziel hat.

Klimakrise

Kasachstans Energiesektor war weiterhin fast vollständig von fossilen Brennstoffen abhängig. Die Regierung hat ihre nationalen Klimabeiträge (Nationally Determined Contributions – NDC) zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen seit 2016 nicht mehr aktualisiert.

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