Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Kirgisistan 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Kirgisische Republik

STAATSOBERHAUPT

Sadyr Dschaparow

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Akylbek Dschaparow

Stand:
 1/2023

Friedliche Protestierende waren mit massiven Einschränkungen konfrontiert. Für NGOs, die Gelder aus dem Ausland erhielten, wurden neue Formen der Rechnungslegung eingeführt. Regierungskritische Journalist*innen und Aktivist*innen mussten mit Angriffen in den Sozialen Medien und ungerechtfertigter Strafverfolgung rechnen. Mithilfe verschiedener Gesetze wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt und Kritik an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens durch Journalist*innen und Medien verhindert. Es herrschte weiterhin systemische geschlechtsspezifische Gewalt. Derartige Gewalttaten wurden jedoch nur selten zur Anzeige gebracht, und die Verantwortlichen blieben meist straffrei. Die Bedingungen, unter denen Menschen in Haft gehalten wurden, blieben hinter den menschenrechtlichen Mindeststandards zurück, was in manchen Fällen den Tod von Häftlingen zur Folge hatte.

Hintergrund

Im September 2022 kamen bei Zusammenstößen zwischen Anwohner*innen und Grenzposten auf beiden Seiten der Grenze zu Tadschikistan mindestens 15 kirgisische Zivilpersonen ums Leben, und zahlreiche weitere wurden verletzt.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im März 2022 schränkte das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt Bischkek die Zahl der Örtlichkeiten ein, an denen öffentliche Versammlungen abgehalten werden durften. Die Nutzung beliebter Plätze, darunter die Flächen rund um das Parlament, den Sitz des Präsidenten und die russische Botschaft, wurde verboten. Später im selben Monat verboten die Behörden Versammlungen an sämtlichen Orten in der Innenstadt von Bischkek, außer in einem kleinen Park. Ursprünglich wurde die Einschränkung als vorübergehend und notwendig gerechtfertigt, um im Zusammenhang mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine "mögliche Massenunruhen zwischen Bevölkerungsgruppen zu verhindern und zu unterdrücken". Später wurde die Maßnahme bis zum 31. Dezember 2022 verlängert und auf sämtliche öffentliche zivilgesellschaftliche Aktionen und Versammlungen ausgeweitet.

Trotz der Einschränkungen kam es in Bischkek wiederholt zu pro-ukrainischen Protesten. Bei friedlichen Versammlungen und Mahnwachen am 5. und 17. März 2022 wurden mehrere Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen inhaftiert, weil sie ihre Solidarität mit der Ukraine ausgedrückt und gegen rechtswidrige Einschränkungen des Rechts auf friedliche Versammlung protestiert hatten. Gegen vier Personen wurden wegen "Nichtbefolgens rechtmäßiger polizeilicher Anordnungen" Geldstrafen verhängt. Eine Versammlung zur Unterstützung Russlands vor der russischen Botschaft am 7. März verlief hingegen ungestört und ohne Festnahmen. Es kam weiterhin zu willkürlichen Inhaftierungen von friedlichen Protestierenden durch die Polizei, u. a. im April in dem für das Durchführen von Versammlungen ausgewiesenen Park in Bischkek. Allein am 2. April 2022 nahm die Polizei 28 Protestierende fest und erhob Anklage gegen 26 von ihnen. Ein Gericht entschied jedoch, dass sie keine Straftat verübt hatten.

Im Oktober 2022 meldeten die kirgisischen Behörden Fortschritte hinsichtlich der Einigung über die Grenzziehung mit Usbekistan. Die Einzelheiten lösten jedoch heftigen öffentlichen Unmut aus. Aktivist*innen beriefen in der Stadt Ösgön eine Kurultai (traditionelle öffentliche Versammlung) ein und gründeten einen Ausschuss, um gegen das Übereinkommen vorzugehen und Transparenz zu fordern. Auch an anderen Orten gab es Protestaktionen. Daraufhin nahmen die Behörden 26 Aktivist*innen aufgrund haltloser Vorwürfe wegen der "Vorbereitung von Massenunruhen" fest. 24 von ihnen befanden sich Ende 2022 noch in Untersuchungshaft, zwei standen unter Hausarrest.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Am 22. März 2022 erließen die Steuerbehörden neue Regeln für die Rechnungslegung über die Verwendung von Geldern aus dem Ausland für gemeinnützige Organisationen. NGOs wurde eine Frist von einer Woche gesetzt, um ihre Berichte einzureichen, die Angaben zu ihren Vermögenswerten, ihren Finanzierungsquellen und ihren Ausgaben enthalten mussten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde im Laufe des Jahres immer stärker eingeschränkt, insbesondere für Medienschaffende und Menschenrechtsverteidiger*innen. Im September 2022 veröffentlichte die Regierung einen neuen Gesetzentwurf, der in Kriegs- und Notzeiten Einschränkungen der Medien erlauben, strengere Bedingungen für die Registrierung von Medien aufstellen und diese auch auf Onlinemedien ausweiten würde. Zudem wären sämtliche Medien dazu verpflichtet, sich innerhalb von zwei Monaten nach Verabschiedung des Gesetzes neu zu registrieren. Der Entwurf war bis zum Jahresende noch nicht verabschiedet worden.

Das Gesetz über den Schutz vor falschen Informationen wurde genutzt, um Medienanstalten weiter einzuschränken. Im Juli 2022 blockierte das Kulturministerium die Website der Zeitung Res Publica, nachdem dort Informationen über mutmaßlichen Schmuggel an einem Flughafen veröffentlicht worden waren. Der Zugang zu der Website war zum Jahresende noch immer blockiert. Am 26. Oktober 2022 blockierte das Kulturministerium den Zugang zu den Websites von Azattyk Media und des Online-Fernsehkanals Current Time. Am 27. Oktober wurden die Bankkonten von Azattyk Media eingefroren.

Die Behörden nutzten auch Anklagen wegen Anstiftung zu Hass, Ungehorsam, Unruhen oder Gewalt, um das Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. So nahmen sie u. a. Medienschaffende ins Visier und verhinderten Kritik an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens durch Journalist*innen und die Medien.

Am 23. Januar 2022 wurde Bolot Temirov, der sowohl die russische als auch die kirgisische Staatsbürgerschaft besaß, festgenommen, durchsucht und des Besitzes illegaler Drogen beschuldigt. Am 20. April wurden ihm darüber hinaus Urkundenfälschung und rechtswidriger Grenzübertritt angelastet. Im Mai erkannte man ihm die kirgisische Staatsbürgerschaft ab. Er hatte zuvor auf seinem Youtube-Kanal eine Dokumentation veröffentlicht, in der von Korruption beim Export von Heizöl die Rede war. Im September wurde er von allen Anklagepunkten freigesprochen. Die Anklage wegen Urkundenfälschung war bereits fallen gelassen worden, da die gesetzliche Verjährungsfrist abgelaufen war. Trotzdem wurde Bolot Temirov am 24. November nach Russland abgeschoben.

Am 3. März 2022 wurde Taalaibek Duishenbiev, der Geschäftsführer von Next TV, festgenommen. Grund dafür war, dass er einen Beitrag eines früheren Angehörigen der Sicherheitskräfte in den Sozialen Medien geteilt hatte, in dem behauptet wurde, dass Kirgisistan Russland bei dessen Krieg gegen die Ukraine militärische Unterstützung versprochen habe. Im September wurde Taalaibek Duishenbiev zu einer Strafe ohne Freiheitsentzug verurteilt.

Am 14. August wurde Yrys Zhekshenaliev festgenommen, weil er auf Facebook Pläne der Regierung kritisiert hatte, die Metallerzlagerstätte Zhetim-Too zu erschließen. Man warf ihm vor, zu aktivem Ungehorsam gegen die rechtmäßigen Anweisungen von Regierungsbediensteten sowie zu Massenunruhen aufgerufen zu haben. Am 26. Oktober wurde er unter Hausarrest gestellt. Sein Verfahren begann am 7. Dezember und war zum Jahresende noch nicht abgeschlossen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Es herrschte weiter systemische geschlechtsspezifische Gewalt, die nur selten angezeigt wurde. Statistiken über häusliche Gewalt wiesen nach wie vor aggregierte Daten aus und verschleierten dadurch das Ausmaß der Gewalt gegenüber bestimmten Gruppen, darunter Frauen und Mädchen mit Behinderungen.

Im August 2022 verurteilte ein Gericht zwei Polizisten und einen dritten Mann zu je zehn, fünfzehn und acht Jahren Haft, weil sie über einen Zeitraum von fast sechs Monaten wiederholt ein 13-jähriges Mädchen vergewaltigt hatten. Sie mussten außerdem Entschädigung in Höhe von je 100.000 Kirgisischen Som (etwa 920 Euro) bezahlen. Der Fall fand in den Medien großen Widerhall und löste in ganz Kirgisistan Proteste aus. Die Reaktionen hochrangiger Regierungsangehöriger waren gemischt und reichten von Mitgefühl für die Betroffene bis hin zu der Sorge, der Fall schade dem Tourismus, und Kritik an den Medien, weil sie den Fall derart ins Rampenlicht gerückt hatten.

Im Juli 2022 schrieben 27 Frauenrechtsorganisationen einen offenen Brief an den Präsidenten, in dem sie wirksame Maßnahmen in Bezug auf Gewalt gegen Frauen forderten sowie systemische Probleme in der Strafjustiz und bei der Polizeiarbeit hervorhoben. Die von ihnen beantragte Dringlichkeitssitzung wurde abgelehnt.

Im September 2022 verabschiedete die Regierung die Nationale Strategie zum Erreichen von Geschlechtergerechtigkeit bis 2030 sowie einen damit einhergehenden Nationalen Handlungsplan für 2022 bis 2024.

Folter und andere Misshandlungen

Das Nationale Zentrum für die Verhütung von Folter (National Centre for the Prevention of Torture – NCPT), ein nationales Gremium, das an der Umsetzung des UN-Übereinkommens gegen Folter beteiligt ist, äußerte sich im Oktober 2022 besorgt über die hohe Zahl von Todesfällen in kirgisischen Strafvollzugsanstalten. Das NCPT gab an, dass sich ein Drittel aller Untersuchungshafteinrichtungen in feuchten, dunklen und schlecht belüfteten Kellerräumen befand. Da es in manchen Regionen keine Untersuchungshafteinrichtungen gab, wurden Personen, gegen die ermittelt wurde, in provisorischen Einrichtungen untergebracht.

Im Juni 2022 äußerte sich das Büro der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte besorgt über Pläne der Regierung, das NCPT aufzulösen, da dies die Verhütung von Folter in Kirgisistan beeinträchtigen würde.

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