Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Schweiz 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in der Schweiz einen Verstoß gegen das Recht auf friedliche Versammlung fest. Ein wegweisender UN-Bericht offenbarte systemischen Rassismus in der Schweiz. Ein neues Gesetz über Vergewaltigung wurde debattiert, aber noch nicht verabschiedet. Es wurden Vorschläge zur Reform des Gesetzes über Schwangerschaftsabbrüche vorgelegt. Das Parlament unternahm einen wichtigen, aber unzureichenden Schritt zur Verstärkung der Klimaschutzmaßnahmen. Der Krieg in der Ukraine ließ die Schwächen des derzeitigen Asylsystems deutlich werden. Ein neuer Gesetzentwurf sah für den nationalen Nachrichtendienst weitreichende Überwachungsbefugnisse vor.

Hintergrund

Die Bemühungen um die Schaffung einer neuen nationalen Menschenrechtsinstitution im Jahr 2023 wurden fortgesetzt.

Im September 2022 ratifizierte die Schweiz eine Änderung von Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), wonach das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen in Bürgerkriegen und internationalen bewaffneten Konflikten als Kriegsverbrechen gilt.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im März 2022 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Klage der Dachorganisation der Genfer Gewerkschaften (Communauté genevoise d'action syndicale) gegen die Schweiz eine Verletzung des Rechts auf Versammlungsfreiheit fest. Der Fall wurde an die Große Kammer verwiesen.

Diskriminierung

Rassismus

Die UN-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung äußerte sich besorgt über systemischen Rassismus in der Schweiz. Sie empfahl ein gesetzliches Verbot von diskriminierenden Personenkontrollen (Racial Profiling) und die Einrichtung ziviler, unabhängiger Beschwerdemechanismen mit Aufsichts- und Disziplinargewalt über die Polizei in allen Kantonen.

Im Oktober 2022 schlug der Bundesrat dem Parlament einen Gesetzentwurf zum Verbot der Gesichtsverhüllung vor, nachdem eine entsprechende Volksabstimmung im Jahr 2021 die Unterstützung von 51,2 Prozent der Wähler gefunden hatte.

LGBTI+

Im Juni 2022 erteilte der Nationalrat dem Bundesrat den verbindlichen Auftrag, einen nationalen Aktionsplan zur Unterstützung und zum Schutz von Menschen vor LGBTI-feindlichen Hassverbrechen auszuarbeiten.

Am 1. Juli traten die neuen Vorschriften für gleichgeschlechtliche Paare zur Legalisierung der Zivilehe und des Rechts auf Adoption von Kindern in Kraft.

Menschen mit Behinderungen

Im März 2022 stellte der zuständige UN-Ausschuss fest, dass die Schweiz die Rechte von rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen verletzt hatte, vor allem weil keine umfassende Strategie zur Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlag. Der Ausschuss empfahl die Ratifizierung des Fakultativprotokolls über Individualbeschwerden.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Eine Einigung im Parlament über ein neues Sexualstrafrecht stand weiter aus. Während der Ständerat sich im Juni für eine sogenannte "Nein heißt Nein"-Regelung aussprach, stimmte der Nationalrat für ein "Nur Ja heißt Ja"-Modell. Letzteres Modell stünde im Einklang mit der Schlussbemerkung des UN-Ausschusses zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW), wonach Vergewaltigung auf der Grundlage der fehlenden Zustimmung definiert werden soll.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Mai 2022 reichte ein Mitglied der Grünen Partei eine parlamentarische Initiative ein, die zum Ziel hat, den Schwangerschaftsabbruch neu als Frage der öffentlichen Gesundheit auszurichten. Gleichzeitig waren zwei separate Initiativen anhängig, die im Dezember 2021 von Mitgliedern der Schweizerischen Volkspartei gestartet worden waren, um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu beschränken.

Klimakrise

Im April 2022 wurde die Klage der KlimaSeniorinnen und anderer gegen die Schweiz im Eilverfahren an die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen. Die Gruppe älterer Frauen hatte die Beschwerde vorgebracht, ihre Gesundheit werde durch das Versäumnis der Schweiz beeinträchtigt, wirksam gegen den Klimawandel vorzugehen.

Im September nahm die Bundesversammlung einen Vorschlag an, das Ziel von Netto-Null-Emissionen bis 2050 gesetzlich zu verankern und neue Maßnahmen für verschiedene Branchen und Sektoren festzulegen. Bei Annahme in einer für 2023 geplanten Volksabstimmung soll das Gesetz umgesetzt werden.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine führte die Schweiz eine der entsprechenden EU-Richtlinie vergleichbare Regelung ein, die den aus der Ukraine Geflüchteten vorübergehenden Schutz bot. Die rasche Unterstützung dieser Personengruppe stand in eklatantem Gegensatz zu den Mängeln in den Regelungen für Asylsuchende anderer Nationalitäten, die den Status von "vorläufig Aufgenommenen" erhielten.

Aufgrund der Ankunft der ukrainischen Geflüchteten wurden mehrere Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Bundesasylzentren zurückgestellt.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisierte den Einsatz von Teilfesselungen bei Abschiebungen, die unzureichende Berücksichtigung der Rechte von Kindern und die Covid-19-Zwangstests bei rückzuführenden Personen.

Unternehmensverantwortung

Die Rechtskommission des Ständerats nahm eine parlamentarische Initiative an, welche die Ausweitung der Sorgfaltspflicht auf das Verbot der Zwangsarbeit verlangt.

Recht auf Privatsphäre

Der Entwurf zur Revision des Nachrichtendienstgesetzes stieß auf heftige Kritik, da er eine nochmalige Ausweitung der nachrichtendienstlichen Befugnisse zulasten der Grundrechte vorsah.

Im September 2022 beschloss das St. Galler Stadtparlament ein Verbot der biometrischen Überwachung im öffentlichen Raum.

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