Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Ungarn 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI*) sowie Rom*nja wurden weiterhin diskriminiert. In Bezug auf die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen gab es 2022 gravierende Rückschritte. Lehrkräften wurde das Streikrecht verwehrt. Flüchtlinge und Migrant*innen wurden nach wie vor Opfer von Pushbacks, die gegen EU-Recht verstießen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass Ungarn gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen habe. Frühere Urteile des EGMR wurden nicht vollständig umgesetzt.

Hintergrund

Anfang April 2022 sicherte sich der amtierende Ministerpräsident Viktor Orbán eine Mehrheit der Abgeordnetensitze im neuen Parlament und trat seine vierte Amtszeit in Folge an. Im Mai wurde mit Katalin Novák erstmals eine Frau Staatspräsidentin.

Ende April teilte die Europäische Kommission Ungarn mit, dass sie den Rechtsstaatsmechanismus aktiviert habe. Dieser erlaubt es der EU, Zahlungen an ein Mitgliedsland einzufrieren, wenn es gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt. Um Ungarn künftig wieder Zugang zu den ausgesetzten Geldern einzuräumen und um diese Mittel angemessen zu schützen, empfahl die EU-Kommission im Dezember die Umsetzung stärkerer Maßnahmen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und zur Korruptionsbekämpfung in Ungarn.

Der Krieg in der Ukraine diente Ungarn im Mai 2022 als Vorwand, die Verfassung (Grundgesetz) zum zehnten Mal zu ändern und der Regierung die Befugnis einzuräumen, im Fall eines bewaffneten Konflikts, eines Krieges oder einer humanitären Katastrophe in einem Nachbarland den Ausnahmezustand zu verhängen.

Im September 2022 sprach das Europäische Parlament Ungarn ab, eine vollwertige Demokratie zu sein. Es nahm einen Bericht an, der feststellte, dass seit der Einleitung eines Verfahrens gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags im Jahr 2018 die Grundrechte dort "aufgrund der vorsätzlichen und systematischen Bestrebungen der ungarischen Regierung" noch weiter ausgehöhlt worden seien.

Im Oktober 2022 beschloss die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE), Ungarn einem vollständigen Monitoringverfahren zu unterziehen. PACE äußerte sich besorgt über die Haltung der Regierung zu Rechtsstaatlichkeit, über die Rechte von Frauen und LGBTI+ und über die Rahmenbedingungen für Wahlen. Auch dass Ungarn seit 2020 eine "spezielle Rechtsordnung" dafür benutzt hat, den Ausnahmezustand zu verhängen, rief Bedenken hervor.

Die kriegsbedingte "spezielle Rechtsordnung" wurde bis Ende Mai 2023 verlängert.

Diskriminierung

Die Globale Allianz der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen (Global Alliance of National Human Rights Institutions – GANHRI) stufte 2022 das ungarische Büro für Grundrechte von der Kategorie A in die Kategorie B herab, da sich das Büro mit einer Reihe von Menschenrechtsfragen nicht angemessen befasst habe, z. B. mit Menschenrechtsverletzungen an ethnischen Minderheiten, LGBTI+, Flüchtlingen und Migrant*innen.

LGBTI+

Im April 2022 scheiterte ein landesweites Referendum über den "Schutz Minderjähriger", das auf einem homofeindlichen und transfeindlichen Gesetz von 2021 beruhte. Zuvor hatten mehrere NGOs, darunter auch Amnesty International Ungarn und die Háttér-Gesellschaft, die älteste LGBTI-Organisation des Landes, eine erfolgreiche Kampagne gegen das Referendum gestartet. Um das Quorum zu erreichen, hätten mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten gültige Stimmen abgeben müssen. Dies wurde jedoch verfehlt, weil 1,7 Millionen Menschen (fast 21 Prozent der Wahlberechtigten) absichtlich ungültig stimmten, indem sie die vier Fragen des Referendums nicht beantworteten, und viele andere der Abstimmung fernblieben. Der Nationale Wahlausschuss belegte die NGOs aufgrund mutmaßlicher Gesetzesverstöße mit Geldstrafen, doch der Oberste Gerichtshof hob einige dieser Entscheidungen im Berufungsverfahren wieder auf.

Frauen

Ungarn hatte Ende 2022 noch immer nicht das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ratifiziert.

Im Juli veröffentlichte der ungarische Rechnungshof einen Bericht mit dem Titel "Ist das Bildungswesen in Ungarn rosa?". Darin beklagt die Behörde, dass Frauen in höheren Bildungseinrichtungen "überproportional" vertreten seien. Sie warnt davor, dass der hohe Anteil an Akademikerinnen zu "demografischen Problemen" führen könne, da sie es schwerer hätten, einen Partner zu finden, was eine niedrigere Geburtenrate zur Folge haben könne. Mehrere Wissenschaftler*innen und NGOs kritisierten diese Argumentation und warnten vor einer Stereotypisierung von Frauen.

Im September kam es zu Protesten gegen ein neues Gesetz, wonach Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen, eine fachärztliche Bescheinigung benötigen, die belegt, dass sie sich den Herzschlag des Fötus angehört haben. Mit dieser Auflage blieben Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche straffrei.

Rom*nja

Der EGMR stellte im Mai 2022 fest, dass Ungarn das Recht auf Privatsphäre eines Rom verletzt habe, als lokale Behörden 2011 in der Stadt Gyöngyöspata rechtswidrig Privathäuser kontrollierten.

Im Juli 2022 erklärte der EGMR, Ungarn habe 2014 gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verstoßen, als die Polizei in der Stadt Encs einem Rom Handschellen anlegte und ihn schlug. Der Staat müsse dem Opfer deshalb 19.500 Euro Entschädigung zahlen.

Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Im September 2022 wandten sich Lehrergewerkschaften an den EGMR, um die rechtswidrigen Einschränkungen ihres Streikrechts durch die Regierung anzufechten. Das gesamte Jahr über demonstrierten immer wieder Tausende Menschen aus Solidarität mit Lehrkräften, die ein Streikrecht und eine Bildungsreform forderten. Mehrere Schulen entließen ungerechtfertigt Lehrkräfte, weil sie an Demonstrationen teilgenommen hatten.

Recht auf Privatsphäre

Im September 2022 bestätigte der EGMR ein früheres Urteil, wonach es in Ungarn an einer unabhängigen externen Kontrolle geheimer Überwachung fehlt und Betroffenen keine wirksamen Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. Das Gericht befand außerdem, die Datenschutzbehörde habe nicht die nötigen Befugnisse, um die Geheimdienste wirksam zu kontrollieren. Ungarn habe somit gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ("Recht auf Privatsphäre") verstoßen.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine kamen mehr als 2 Millionen Menschen auf ihrer Flucht durch Ungarn und erhielten dort erste Unterstützung. Ende Dezember 2022 hatten 33.168 Personen in Ungarn vorübergehenden Schutz beantragt.

An der ungarischen Südgrenze wurden Flüchtlinge und Migrant*innen weiterhin Opfer von Pushbacks. Bis Ende Dezember 2022 wurden 157.879 Fälle gezählt. Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex, die ihre Arbeit in Ungarn im Januar 2021 eingestellt hatte, erklärte im September 2022, dass sie nur dann Unterstützung bei der Rückführung von Drittstaatsangehörigen leisten werde, wenn sich Ungarn an die EU-Bestimmungen halte.

Im September 2022 entschied der EGMR im Fall eines iranischen Asylsuchenden, der 2016 als Teil einer Gruppe an der Grenze zu Serbien zurückgeschoben und von der ungarischen Polizei misshandelt worden war, dass Ungarn gegen das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen habe.

Der EGMR fällte im Februar, Juni und August 2022 drei Urteile gegen Ungarn, die die rechtswidrige und willkürliche Inhaftierung von Asylsuchenden in der "Transitzone" zwischen Serbien und Ungarn betrafen.

Das Ministerkomitee des Europarats äußerte sich im September sehr besorgt darüber, dass Ungarn die Einstufung von Serbien als "sicherer Drittstaat" noch immer nicht überprüft hatte, obwohl der EGMR im Verfahren Ilias und Ahmed gegen Ungarn fast drei Jahre zuvor geurteilt hatte, Ungarn müsse vor der Abschiebung von Asylsuchenden nach Serbien prüfen, ob ihnen dort Misshandlungen drohten.

Im September 2022 urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die gesetzliche Regelung, die es den ungarischen Behörden erlaubt, Asylsuchenden aufgrund von Sicherheitsbedenken internationalen Schutz zu verweigern, ohne dies zu begründen und ohne Akteneinsicht zu gewähren, gegen EU-Recht verstößt.

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

Das Ministerkomitee des Europarats monierte im März 2022 in einer vorläufigen Entschließung, dass Ungarn das Urteil des EGMR aus dem Jahr 2016 über die "unzulässige und voreilige" Entlassung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, András Baka, noch nicht umgesetzt habe. Das Komitee zeigte sich auch besorgt darüber, dass nach wie vor nicht gewährleistet war, dass ein unabhängiges Justizorgan Fälle überprüft, in denen es um die potenzielle Amtsenthebung von Richter*innen geht. Das Komitee wies außerdem darauf hin, dass die vom EGMR im Verfahren Baka gegen Ungarn festgestellten Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention "abschreckend" wirkten und das Recht auf Meinungsfreiheit von Richter*innen einschränkten.

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