Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Deutschland 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Unzureichende Ermittlungen bei Vorwürfen über diskriminierende Personenkontrollen (Racial Profiling) verletzten das Recht auf Nichtdiskriminierung. Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung bei diskriminierenden Übergriffen durch die Polizei wurden weiterhin durch das Fehlen eines unabhängigen Beschwerdemechanismus behindert. Ein Gerichtsurteil bestätigte, dass permanente Protestcamps durch das Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt sind. Einige Proteste wurden unverhältnismäßig eingeschränkt. Die Bundesregierung startete ein humanitäres Aufnahmeprogramm für besonders gefährdete afghanische Staatsangehörige und ihre Familienmitglieder. Ein Gerichtsurteil hielt das deutsche Telekommunikationsgesetz für unvereinbar mit dem Recht auf Privatsphäre. Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs, der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbot, wurde abgeschafft. Deutschland unterstützte die Einrichtung eines internationalen Finanzfonds für klimabedingte Verluste und Schäden.

Diskriminierung

Im Mai 2022 meldete das Bundesinnenministerium einen deutlichen Anstieg von Hasskriminalität im Zusammenhang mit Antisemitismus (28,8 Prozent), sexueller Orientierung (50,5 Prozent), Geschlecht (66,7 Prozent) und Behinderung (81,5 Prozent) im Vergleich zum Vorjahr, wobei "fremdenfeindliche Hassverbrechen" in absoluten Zahlen weiterhin am häufigsten waren.

Der Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, den die Bundesinnenministerin im März 2022 präsentierte, erkannte und behandelte institutionellen und systemischen Rassismus nicht. Im Mai stellte der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor fest, dass Rassismus in Deutschland zum Alltag gehöre.

Im August wurde ein 16-jähriger senegalesischer Geflüchteter bei einem unverhältnismäßigen Polizeieinsatz durch mehrere Schüsse aus einer Maschinenpistole getötet. Ende des Jahres dauerten strafrechtliche Ermittlungen gegen fünf Polizeibeamt*innen an.

Im Oktober entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Basu gegen Deutschland, dass unzureichende Ermittlungen Deutschlands bei Vorwürfen von Racial Profiling gegen das Recht auf Nichtdiskriminierung verstoßen hatten. Das Fehlen eines unabhängigen Beschwerdemechanismus auf Bundes- und Länderebene behinderte weiterhin die Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen durch die Polizei. Die Polizei war auf Bundesebene sowie in sechs Bundesländern weiterhin nicht verpflichtet, individuelle Kennzeichen zu tragen, obwohl der Koalitionsvertrag eine solche Änderung für die Bundespolizei vorsah.

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen

Im Juni 2022 stellten das Familien- und das Justizministerium Pläne für ein Selbstbestimmungsgesetz vor, das es trans, nicht-binären und intergeschlechtlichen Menschen ermöglichen würde, durch eine einfache Erklärung beim Standesamt die rechtliche Anerkennung ihres gewünschten Geschlechts zu erhalten und ihren Namen zu ändern. Das neue Gesetz würde das sogenannte Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980 ersetzen, das trans Menschen dazu verpflichtete, sich diskriminierenden psychologischen Gutachten und einem Gerichtsverfahren zu unterziehen, um ihre gewünschte Geschlechtsidentität offiziell anerkennen zu lassen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Das im Januar 2022 in Kraft getretene neue Versammlungsgesetz des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen schränkte die Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig ein, indem es staatliche Kontroll- und Eingriffsbefugnisse unangemessen ausweitete. Trotz einiger Änderungen, die nach heftiger Kritik im Gesetzgebungsprozess vorgenommen wurden, blieben zahlreiche bedenkliche Regelungen bestehen, wie z. B. die strafrechtliche Sanktionierung für Organisator*innen, die Versammlungen nicht im Vorhinein anmelden.

Im Mai 2022 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil, dass Protestcamps einschließlich ihrer erforderlichen Infrastruktur umfassend von der in Artikel 8 Grundgesetz verbrieften Versammlungsfreiheit geschützt sind.

Einige Proteste, von den Behörden vielfach primär als "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" eingestuft, wurden unverhältnismäßig stark eingeschränkt. So wurden im Juni z. B. nur 50 Demonstrierende auf dem Gelände des von Deutschland ausgerichteten G7-Gipfels zugelassen.

Recht auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung

Im Januar 2022 befand das Oberlandesgericht Koblenz den Hauptangeklagten im ersten Strafprozess zu Völkerrechtsverbrechen durch Angehörige des Syrischen Allgemeinen Geheimdienstes nach dem Weltrechtsprinzip für schuldig. Der ehemalige Geheimdienstoffizier wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein zweiter Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter gegen einen syrischen Arzt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt war Ende des Jahres noch anhängig.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Mehr als 27.000 von insgesamt 40.000 Menschen, die infolge der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan im Jahr 2021 aufgrund ihrer Beschäftigung oder anderer Faktoren als besonders gefährdet galten, kamen bis Ende 2022 in Deutschland an. Im Oktober 2022 startete die Bundesregierung ein humanitäres Aufnahmeprogramm mit dem Ziel, die Aufnahme von monatlich 1.000 besonders gefährdeten Menschen und ihren Familienmitgliedern zu ermöglichen. Menschen in Gefahr, die Afghanistan bereits in Richtung der Nachbarländer verlassen hatten, wurden von dem Programm jedoch ausgeschlossen. Die Regierung lagerte die zeitaufwändige Aufgabe, Einzelfälle ausfindig zu machen und zu registrieren, an Nichtregierungsorganisationen aus und entwickelte ein automatisiertes algorithmisches IT-Tool, um die Zulassung von Menschen zum Programm zu bewerten. Dies ließ Bedenken hinsichtlich Fairness und Transparenz aufkommen.

Etwa 1.021.700 ukrainische Flüchtlinge erhielten in Deutschland unter der sogenannten EU-Massenzustrom-Richtlinie vorübergehenden Schutz.

Im Dezember 2022 einigten sich die Innenminister der Bundesländer darauf, Abschiebungen in den Iran vorübergehend auszusetzen. Ausgenommen waren verurteilte Straftäter*innen und sogenannte Gefährder.

Recht auf Privatsphäre

Im April 2022 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Vorgaben des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes unvereinbar mit dem Grundgesetz seien. Das Gericht entschied, dass staatliche Überwachungsbefugnisse wie die Online-Durchsuchung oder Vorratsdatenspeicherung weder hinreichend klar noch verhältnismäßig waren, und somit unter anderem gegen die verfassungsmäßig verbrieften Rechte auf informationelle Selbstbestimmung, das Fernmeldegeheimnis sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen.

Im September 2022 urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union, dass das deutsche Telekommunikationsgesetz, das Anbieter zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten verpflichtete, mit EU-Recht und dem enthaltenen Recht auf Privatsphäre unvereinbar ist. Das Bundesjustizministerium kündigte daraufhin eine Reform des Gesetzes an.

Unternehmensverantwortung

Im Mai 2022 verweigerte das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund von Menschenrechtsbedenken Investitionsgarantien für die Tätigkeiten von Volkswagen in China.

Unverantwortliche Rüstungsexporte

Im Oktober 2022 veröffentlichte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz Eckpunkte für ein künftiges Rüstungsexportkontrollgesetz. Der Vorschlag sah verbindliche Kriterien für die Genehmigung von Rüstungsexporten vor, einschließlich einer Bewertung der menschenrechtlichen Lage mit besonderem Blick auf die Situation von Frauen, Mädchen und marginalisierten Gruppen im Empfängerland.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im Juli 2022 wurde der Paragraf 219a des Strafgesetzbuches (StGB) aufgehoben, der zur Kriminalisierung von Ärzt*innen wegen "Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch" geführt hatte. Ärzt*innen konnten seither ausführliche Informationen über die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen geben, ohne eine strafrechtliche Verfolgung befürchten zu müssen. Die auf der Grundlage von Paragraf 219a StGB ergangenen Urteile sollen aufgehoben werden.

Der Paragraf 218 StGB, der Schwangerschaftsabbrüche im Strafrecht regelt, blieb jedoch bestehen. Es wurde keine Kommission zur vollständigen Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen eingesetzt, wie es im Koalitionsvertrag vorgesehen war.

Klimakrise

Das Umweltbundesamt prognostizierte, dass Deutschland die selbstauferlegten Ziele verfehlen wird, seine Emissionen bis 2030 um mindestens 65 Prozent und bis 2040 um mindestens 88 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Die Bundesregierung beschleunigte die inländischen Klimaschutzmaßnahmen, insbesondere den Ausbau der erneuerbaren Energien, genehmigte jedoch gleichzeitig Investitionen in die Infrastruktur für den Import von Flüssigerdgas sowie eine vorübergehende Steuersenkung auf Benzin und Diesel.

Deutschland erhielt seinen Beitrag zur Klimafinanzierung aufrecht, hielt aber die zugesagte Erhöhung der Mittel auf 6 Mrd. Euro nicht ein. Deutschland unterstützte auf der Weltklimakonferenz COP27 die Einrichtung eines internationalen Finanzfonds zur Unterstützung von Ländern, die klimabedingte Verluste und Schäden erleiden. Deutschland rief zudem den Globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken ins Leben und sagte zusätzliche Mittel in diesem Bereich zu.

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