Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Äthiopien 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Regierung schränkte 2022 die humanitäre Hilfe für Tigray weiter ein und stoppte von August bis November alle Lieferungen. Tausende tigrayische Häftlinge wurden willkürlich unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten, häufig in inoffiziellen Hafteinrichtungen ohne Zugang zu Rechtsbeiständen. Führende Oppositionelle blieben in Haft, obwohl Gerichte ihre Freilassung angeordnet hatten. Sicherheitskräfte der Regierung und bewaffnete Gruppen waren für die rechtswidrige Tötung von Zivilpersonen verantwortlich. Viele dieser Fälle könnten Kriegsverbrechen darstellen. Zusagen zur Untersuchung dieser Verbrechen wurden nicht eingehalten. In der Region Afar kam es im Zuge des Konflikts zu zahlreichen Vergewaltigungen und anderen Vorfällen sexualisierter Gewalt durch bewaffnete tigrayische Kräfte. Das Recht auf freie Meinungsäußerung war erheblich eingeschränkt.

Hintergrund

Der bewaffnete Konflikt in der Region Tigray erfasste 2022 auch andere Regionen des Landes, insbesondere Amhara und Afar. Bei bewaffneten Auseinandersetzungen und Gewalttaten in den Regionen Somali, Gambela, Oromia, Amhara, Benishangul-Gumuz und in der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker wurden Tausende Zivilpersonen getötet und Gemeinschaften vertrieben. Aufgrund einer Dürre in Afar, Amhara, Oromia, Somali und anderen Regionen, die durch den Konflikt und den Klimawandel verschärft wurde, waren Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Eingeschränkter Zugang für Hilfsorganisationen

Die Regierung hatte die humanitäre Hilfe für die umkämpfte Region Tigray zu Beginn des Konflikts im November 2020 eingeschränkt. Im März 2022 verkündete sie einen "humanitären Waffenstillstand", der erheblich mehr Hilfslieferungen zuließ. Nach einem Wiederaufflammen der Kämpfe wurde die humanitäre Hilfe für die Region Tigray jedoch von August bis November 2022 vollständig eingestellt. Die von der Regierung angeordnete Schließung aller Bank- und Kommunikationsdienstleistungen in Tigray verschärfte die humanitäre Krise noch zusätzlich. Im November wurde jedoch im südafrikanischen Pretoria eine Vereinbarung über die Einstellung der Feindseligkeiten unterzeichnet, woraufhin Lieferungen, Telefonkommunikation und Passagierflüge nach Tigray teilweise wieder aufgenommen wurden. Nach Ansicht der Internationalen UN-Kommission von Menschenrechtsexpert*innen zu Äthiopien setzte die Regierung Hunger als Mittel der Kriegsführung ein.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Die von der Regierung veranlasste massenhafte Inhaftierung von Menschen tigrayischer Herkunft in West-Tigray, Afar, Addis Abeba, Amhara und anderen Teilen des Landes kam möglicherweise Kriegsverbrechen gleich. Tausende Menschen wurden ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Zugang zu Rechtsbeiständen in offiziellen und inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten. Die Haftbedingungen in West-Tigray waren besonders hart, weil die amharischen Behörden den Inhaftierten Nahrungsmittel und Wasser vorenthielten. Die örtliche Bevölkerung versorgte die Häftlinge zwar mit etwas Nahrung und Wasser, was jedoch nicht ausreichte.

Im Januar 2022 brachten Sicherheitskräfte der Regierung Tausende Tigrayer*innen aus Afar gewaltsam in ein Internierungslager in der Nähe der Stadt Semera, wo sie monatelang ausharren mussten. Die gewaltsame Verschleppung von Zivilpersonen, die nicht zu deren Schutz erfolgt, und die anschließende willkürliche Inhaftierung stellen möglicherweise ein Kriegsverbrechen dar. Zehntausende tigrayische Einwohner*innen Addis Abebas und anderer Städte, die seit der Verhängung des Ausnahmezustands im November 2021 inhaftiert gewesen waren, wurden nach dessen Aufhebung im Februar 2022 ohne Anklageerhebung freigelassen.

Die führenden Vertreter der oppositionellen Oromo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front – OLF), Michael Boran, Kenesa Ayana, Geda Aoljira, Dawit Abdeta, Lemi Benya, Geda Gebisa und Abdi Regassa, waren weiterhin rechtswidrig inhaftiert. Sie befanden sich seit 2020 in Haft, obwohl mehrere Gerichtsbeschlüsse ihre Freilassung angeordnet hatten. Auf Anweisung des höchsten Gerichts (Federal Supreme Court) ließ die Polizei im Mai 2022 den hochrangigen OLF-Vertreter Oberst Gemechu Ayana frei, nachdem er fast zwei Jahre wegen Terrorismusvorwürfen im Gefängnis verbracht hatte. Nachdem die Nationale Wahlkommission Äthiopiens die Freilassung des OLF-Vorsitzenden Dawud Ibsa gefordert hatte, wurde dieser im März 2022 aus dem Hausarrest entlassen, der im Mai 2021 gegen ihn verhängt worden war.

Im März und April 2022 nahm die Polizei mindestens 30 Mitglieder und Führungspersönlichkeiten der Oppositionspartei Balderas for True Democracy fest, als sie in Addis Abeba an Feierlichkeiten zu historischen Ereignissen teilnahmen. Sie kamen wenige Tage später ohne Anklageerhebung frei. Im Juni wurde Sintayehu Chekol, ein führender Vertreter von Balderas for True Democracy, in Bahir Dar festgenommen. Obwohl ein Gericht seine Freilassung gegen Kaution anordnete, brachte die Polizei ihn nach Addis Abeba, wo er in verschiedenen Polizeistationen in Gewahrsam gehalten wurde, bevor man ihn im November freiließ.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Zahlreiche Zivilpersonen wurden 2022 in den Regionen Oromia, Benishangul-Gumuz, Amhara, Tigray und Gambela von Sicherheitskräften der Regierung und bewaffneten Gruppen rechtswidrig getötet. Bei vielen dieser Fälle handelt es sich möglicherweise um Kriegsverbrechen. Im März 2022 versprach die Pressestelle der äthiopischen Regierung (Ethiopian Government Communication Service), man werde die Tötungen untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Bis zum Jahresende waren jedoch noch keine Informationen zum Stand der Ermittlungen bzw. Verfahren veröffentlicht worden.

Ebenfalls im März verbreitete sich in den Sozialen Medien ein Video, das zeigte, wie Sicherheitskräfte drei Männer bei lebendigem Leib verbrannten. Im Juni fand ein Video weite Verbreitung, das eine massenhafte Tötung in der Oromo-Sonderzone in Amhara dokumentierte. Auf den Aufnahmen waren Amhara-Milizen zu sehen, die Dutzende Männer zwangen, die Ladefläche eines Lastwagens zu verlassen, und sie dann erschossen.

Im Juni 2022 wurden bei einem fünfstündigen Angriff, der mutmaßlich von der Oromo-Befreiungsarmee (Oroma Liberation Army – OLA) verübt wurde, mindestens 400 amharische Zivilpersonen in der Ortschaft Tole (Region West Wellega) getötet. Die Mehrheit der Opfer waren Frauen und Kinder. Weder die örtlichen Behörden noch Sicherheitskräfte, die sich in der Gegend befanden, griffen ein, um den Angriff zu stoppen. Im Juli wurden ähnliche Angriffe auf Hunderte amharische Bewohner*innen der Zone Qelem Wellega gemeldet, die ebenfalls von der OLA verübt worden sein sollen.

Im August und September töteten Mitglieder der amharischen Fano-Milizen und der OLA bei Auseinandersetzungen in der Zone Horo Guduru Wellega (Region Oromia) jeweils Hunderte Zivilpersonen, die der ethnischen Gruppe der Amharen bzw. der Oromo angehörten. Am 30. und 31. August wurden mindestens 60 Oromo-Zivilpersonen getötet, als die Fano-Milizen die Stadt Agamsa in der Zone Horo Guduru Wellega angriffen. Im September wurden in drei Bezirken dieser Zone Hunderte Zivilpersonen getötet, sowohl Oromo als auch Amharen. Für diese angeblichen Vergeltungsangriffe waren ebenfalls die Fano-Milizen und die OLA verantwortlich.

Im Januar 2022 töteten tigrayische Sicherheitskräfte sowie Polizei und Milizen der Region Afar in Abala, einer an Tigray angrenzenden Stadt in der Region Afar, Hunderte Zivilpersonen. Im Kampf um die Vormacht in der Stadt töteten afarische Sicherheitskräfte tigrayische Zivilpersonen, und viele weitere starben, als tigrayische Streitkräfte die Stadt wahllos mit Artillerie beschossen. Es handelte sich dabei um Kriegsverbrechen.

Hunderte Zivilpersonen starben 2022 bei mehreren Luftangriffen in Tigray. Nach Angaben der Vereinten Nationen töteten Luftangriffe, für die mutmaßlich die äthiopische Armee verantwortlich war, im Januar in der Stadt Dedebit mehr als 100 Zivilpersonen. Nachdem die Auseinandersetzungen zwischen der äthiopischen Armee und tigrayischen Sicherheitskräften im August wieder aufgeflammt waren, starben bei Luftangriffen auf die Stadt Mekelle und die Ortschaft Adi Daero im August und September Hunderte von Zivilpersonen, darunter auch Kinder. Ein Luftangriff auf einen Kindergarten in Mekelle am 26. August tötete mindestens neun Erwachsene und Kinder.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Im Zuge des Konflikts in Nordäthiopien verübten tigrayische Sicherheitskräfte in der Region Afar im Jahr 2022 zahlreiche Vergewaltigungen und andere sexualisierte Gewalttaten. Vier der Überlebenden berichteten, Angehörige der tigrayischen Sicherheitskräfte hätten sie vergewaltigt und misshandelt. Eine betroffene Frau gab an, ihre Tochter im Teenageralter habe ebenfalls eine Vergewaltigung erlitten und sei in der Folge schwanger geworden. Die Torturen hatten für die Überlebenden nicht nur gesundheitliche, sondern auch psychosoziale Konsequenzen. So wurden sie z. B. von ihren Ehemännern verlassen oder sozial stigmatisiert. Viele fühlten sich außerstande, über ihre traumatischen Erfahrungen zu berichten, weil sie fürchteten, sie könnten ihre Existenzgrundlage und ihre Familie verlieren.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung war 2022 erheblich eingeschränkt. Die Behörden nahmen in Tigray, Addis Abeba, Amhara und Oromia mindestens 29 Journalist*innen und Medienschaffende fest. Die Behörden in Tigray klagten fünf Journalist*innen wegen "Kollaboration mit dem Feind" an. Häufig waren Journalist*innen und andere Medienschaffende ohne formelle Anklage in Haft. Wenn ihnen eine Freilassung gegen Kaution gewährt wurde, verzögerte die Polizei die Haftentlassung, indem sie gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegte.

Im Mai 2022 inhaftierte die Polizei Temesgen Dessalegn, den Herausgeber der Zeitschrift Feteh. Er wurde anschließend wegen Veröffentlichung militärischer Geheimnisse und Verbreitung falscher Gerüchte angeklagt und im November gegen eine Kaution von 30.000 Äthiopischen Birr (etwa 530 Euro) freigelassen.

Ebenfalls im Mai nahmen die Sicherheitskräfte weitere Journalist*innen fest, darunter Gobeze Sisay, Meskerem Abera und Yayesew Shimelis. Yayesew Shimelis wurde am 20. Juni auf Kaution freigelassen, eine Woche später jedoch erneut in Gewahrsam genommen. Die Journalist*innen wurden tagelang ohne Zugang zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen festgehalten, bevor sie freikamen. Im Mai wiesen die Behörden Tom Gardner aus, der als Korrespondent der britischen Wochenzeitung The Economist in Addis Abeba arbeitete. Zuvor hatten Regierungsanhänger*innen ihn wegen seiner Berichterstattung über Äthiopien online schikaniert. Die Journalistin Meskerem Abera wurde im Dezember von der Polizei erneut in Gewahrsam genommen und befand sich Ende des Jahres noch immer in Haft. Ihr wurde vorgeworfen, zu Gewalt angestiftet und die Streitkräfte diffamiert zu haben.

Am 30. Dezember 2022 nahmen Polizeikräfte den Musiker Tewodros Assefa einen Tag lang in Gewahrsam, weil er in Liedtexten Korruption innerhalb der Lokalbehörden von Addis Abeba angeprangert hatte.

Im September 2022 bestellte Alemu Sime, ein hochrangiger Regierungsvertreter, zivilgesellschaftliche Organisationen ein und erteilte 35 von ihnen eine offizielle Verwarnung, weil sie öffentlich zu einem Waffenstillstand und Friedensgesprächen zur Beendigung der Konflikte vor dem äthiopischen Neujahrsfest aufgerufen hatten. Einige Tage zuvor hatten die Sicherheitskräfte bereits eine von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen organisierte Pressekonferenz verboten, bei der diese ihren gemeinsamen Aufruf zum Frieden vorstellen wollten.

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