Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Ägypten 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden weiterhin massiv unterdrückt. Im Vorfeld der Weltklimakonferenz (COP27) in Ägypten im November 2022 ordneten die Behörden die Freilassung von 895 Personen an, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. Doch nahmen sie gleichzeitig fast dreimal so viele Personen fest, darunter Hunderte, die mit Protestaktionen anlässlich der COP27 in Verbindung standen. Tausende tatsächliche oder vermeintliche Kritiker*innen und Gegner*innen der Regierung waren weiterhin willkürlich inhaftiert bzw. wurden zu Unrecht strafrechtlich verfolgt. Mindestens 50 ungeklärte Todesfälle in Gewahrsam wurden nicht untersucht, obwohl Berichte vorlagen, dass Folter oder die Verweigerung einer angemessenen Gesundheitsversorgung eine Rolle gespielt haben könnten. Gerichte verhängten Todesurteile nach grob unfairen Verfahren. Es wurden Hinrichtungen vollzogen. Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt waren weit verbreitet, wurden aber von den Behörden weder konsequent verhindert noch geahndet. Die Behörden unterdrückten das Streikrecht und unternahmen nichts, um Beschäftigte gegen ungerechtfertigte Entlassungen durch private Unternehmen zu schützen. Bewohner*innen informeller Siedlungen wurden Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen und kamen in Haft, wenn sie gegen den Abriss von Häusern protestierten. Die Behörden verfolgten Christ*innen, die ihr Recht auf Religionsausübung einforderten, sowie andere Gruppen, die religiöse Überzeugungen vertraten, welche nicht offiziell anerkannt waren. Flüchtlinge und Migrant*innen, die ohne Erlaubnis nach Ägypten eingereist waren oder sich dort aufhielten, wurden willkürlich inhaftiert. Viele von ihnen wurden in ihr Heimatland abgeschoben.

Hintergrund

Im Oktober 2022 erzielte Ägypten eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Kredit in Höhe von 3 Mrd. US-Dollar, nachdem das Land zugestimmt hatte, den Kurs des Ägyptischen Pfunds freizugeben. In der Folge verlor die Währung mitten in einer zunehmenden Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich verheerend auf die wirtschaftlichen Rechte der Bevölkerung auswirkte, massiv an Wert. Im Juni 2022 ging fast ein Drittel des Staatshaushalts in den Schuldendienst, und die Vorgaben der Verfassung, wonach mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in das Gesundheitswesen und 6 Prozent in den Bildungsbereich fließen müssen, wurden nicht eingehalten.

Im April 2022 kündigte der Präsident einen "Nationalen Dialog" mit der Opposition an. Während der COP27, die im November in Sharm El-Sheikh stattfand, richtete sich die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit vermehrt auf die Menschenrechtslage in Ägypten.

Im Nordsinai kam es 2022 weiterhin zu sporadischen Angriffen bewaffneter Gruppen, wenn auch in geringerem Umfang als in den Vorjahren. Bei den Militäroperationen wurden vermehrt Stammesmilizen eingesetzt, denen es gelang, die bewaffnete Gruppe Wilayat al Sinai (Provinz Sinai), die zur bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) gehört, aus mehreren Dörfern rund um Rafah und Sheikh Zuwayed zu vertreiben. Staatliche Medien berichteten von zahlreichen Toten und Verletzten durch Sprengsätze, die die bewaffnete Gruppe gelegt hatte. Im Oktober wurden die Notstandsmaßnahmen, die dem Verteidigungsminister Sondervollmachten einräumten, um Ausgangssperren zu verhängen, Schulen zu schließen und Bewohner "in einigen Gebieten der Sinai-Halbinsel" zu evakuieren, um ein halbes Jahr verlängert.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die Behörden unterdrückten weiterhin alle Formen friedlich vorgebrachter Kritik und drangsalierten die Zivilgesellschaft.

Sicherheitskräfte nahmen 2022 mindestens elf Journalist*innen aufgrund ihrer Arbeit oder ihrer kritischen Ansichten willkürlich fest. Mindestens 26 Medienschaffende waren weiterhin wegen "Verbreitung falscher Nachrichten", "Missbrauchs Sozialer Medien" oder "Terrorismus" willkürlich inhaftiert. Einige von ihnen waren bereits verurteilt, gegen andere wurde noch ermittelt.

Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen blockierten die Behörden weiterhin mindestens 600 Websites, die Nachrichten oder Informationen zu Menschenrechten und anderen Themen enthielten.

Die Behörden inhaftierten mindestens acht Menschenrechtsverteidiger*innen willkürlich und schikanierten diejenigen, die sich noch in Freiheit befanden, indem sie diese überwachten, rechtswidrig vorluden und in Verhören unter Druck setzten.

Die vor mehr als einem Jahrzehnt begonnenen strafrechtlichen Ermittlungen, die sich gegen die legitime Arbeit von Menschenrechtsorganisationen richteten und als "Fall 173" bekannt wurden, dauerten an. Gegen 15 Menschenrechtsverteidiger*innen und Mitarbeiter*innen der betroffenen Organisationen wurde weiterhin ermittelt. Sie unterlagen Reiseverboten und ihr Vermögen blieb eingefroren. Im April 2022 forderte die Regierung alle NGOs auf, sich bis April 2023 gemäß dem drakonischen Gesetz über NGOs aus dem Jahr 2019 registrieren zu lassen, andernfalls drohe ihnen die Schließung.

Oppositionelle wurden ebenfalls mit willkürlichen Inhaftierungen, unfairer Strafverfolgung und anderen Schikanen überzogen. Im Mai 2022 verurteilte ein Notstandsgericht den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Gründer der Masr al-Qawia-Partei, Abdelmoniem Aboulfotoh, wegen "Verbreitung falscher Nachrichten", "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" und anderen konstruierten Vorwürfen zu 15 Jahren Haft. Der stellvertretende Vorsitzende der Partei, Mohamed al-Kassas, erhielt aus denselben Gründen eine zehnjährige Haftstrafe.

Die Behörden setzten 620 Personen, darunter auch inhaftierte Medienschaffende und Oppositionspolitiker*innen, ohne ordnungsgemäßes Verfahren auf die "Terrorliste", wodurch ihnen faktisch jede zivilgesellschaftliche und politische Betätigung sowie Auslandsreisen für fünf Jahre untersagt waren.

Im Vorfeld der COP27 nahmen die Sicherheitskräfte Hunderte Menschen fest, die mit der Planung von Protestaktionen während der Weltklimakonferenz in Verbindung gebracht wurden. So wurde z. B. im September Abdelsalam Abdelghany in seiner Wohnung in Kairo festgenommen, nachdem er in den Sozialen Medien Aufrufe zu Protestaktionen während der COP27 unterstützt hatte. Er blieb in Haft, während Ermittlungen wegen "Verbreitung falscher Nachrichten" und "Beitritt zu einer terroristischen Vereinigung" gegen ihn liefen.

Während der COP27 wurden Teilnehmer*innen von den Sicherheitsbehörden verhört, überwacht und in anderer Weise schikaniert. Dem italienischen Staatsbürger Giorgio Caracciolo von der Anti-Folter-Gruppe DIGNITY untersagten die Behörden für die Dauer der Konferenz die Einreise nach Ägypten.

Der britisch-ägyptische Aktivist Alaa Abdel Fattah, der im April 2022 aus Protest gegen seine willkürliche Inhaftierung und die Verweigerung konsularischen Beistands in den Hungerstreik getreten war, hörte am 6. November auch auf, Wasser zu sich zu nehmen. Am 11. November wurde er künstlich ernährt, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Er brach den Hungerstreik am 15. November ab. Ende 2022 befand sich der Aktivist noch immer willkürlich in Haft und sein Gesundheitszustand war sehr schlecht.

Willkürliche Inhaftierungen und unfaire Gerichtsverfahren

Nachdem der Präsident im April 2022 verkündet hatte, dass das Komitee zur Begnadigung Inhaftierter seine Arbeit wieder aufnehmen werde, ordneten die Behörden die Freilassung von 895 Personen an, die aus politischen Gründen inhaftiert waren, sowie zahlreicher weiterer, die inhaftiert waren, weil sie Schulden nicht beglichen hatten. In mindestens 33 Fällen weigerten sich die Sicherheitskräfte jedoch, Inhaftierte freizulassen. In anderen Fällen bestellten sie Freigelassene rechtswidrig zum Verhör ein und drohten ihnen, sie erneut zu inhaftieren, sollten sie ihre Meinung äußern. Der Aktivist Sherif al-Rouby wurde im Mai 2022 freigelassen und im September erneut festgenommen, nachdem er sich öffentlich über die großen Schwierigkeiten beklagt hatte, vor denen ehemalige Gefangene standen. Gegen den Menschenrechtsanwalt Mahinour el-Masry, den Wissenschaftler Ahmed Samir Santawy und weitere Personen, die 2022 freigelassen wurden, verhängten die Sicherheitskräfte ein willkürliches Reiseverbot.

Vom Zeitpunkt der Reaktivierung des Begnadigungskomitees im April bis zum Jahresende wurden allein in Kairo 2.562 mutmaßliche Regierungskritiker*innen festgenommen und von der für Staatssicherheit zuständigen Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft (Supreme State Security Prosecution) verhört. Tausende weitere Personen, die lediglich ihre Menschenrechte wahrgenommen hatten, blieben willkürlich inhaftiert. Der Rechtsanwalt Youssef Mansour befand sich seit seiner willkürlichen Festnahme im März 2022 in Haft, weil er die Misshandlung eines Mandanten kritisiert hatte.

Staatsanwaltschaften und Gerichte verlängerten routinemäßig die Untersuchungshaft Tausender Personen, die wegen unbegründeter Vorwürfe in Verbindung mit Terrorismus oder Sicherheit festgehalten wurden. Ein neues Online-System, das im Gefängnis Badr 3 für Anhörungen zur Verlängerung der Untersuchungshaft genutzt wurde, verletzte die Rechte der Inhaftierten auf eine angemessene Verteidigung und auf Anfechtung der Rechtmäßigkeit ihrer Haft.

Das Recht der Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren wurde routinemäßig missachtet, indem die Sicherheitskräfte Rechtsbeistände daran hinderten, mit ihren Mandant*innen unter vier Augen zu sprechen. Die Verfahren und Schuldsprüche gegen Regierungskritiker*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vor den Notstandsgerichten, die per se unfair waren, gingen 2022 weiter, obwohl der Ausnahmezustand im Oktober 2021 aufgehoben worden war.

Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen

Staatsanwaltschaften weigerten sich routinemäßig, Vorwürfen nachzugehen, die Fälle von Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen betrafen.

Hunderte Menschen wurden Opfer des Verschwindenlassens durch Sicherheitskräfte, manchmal monatelang. Am 23. März 2022 nahmen Angehörige des Nationalen Geheimdiensts (National Security Agency – NSA) Abdel Rahman al-Saeed in seiner Wohnung fest, nachdem er in den Sozialen Medien ein Video veröffentlicht hatte, in dem er die steigenden Lebenshaltungskosten kritisierte. Er blieb bis zum 19. April "verschwunden".

In Gefängnissen, Polizeistationen und Einrichtungen der NSA war Folter weiterhin an der Tagesordnung. Nachdem im Januar 2022 einige Videos an die Öffentlichkeit gelangt waren, die die Misshandlung von Inhaftierten auf dem Polizeirevier des Kairoer Stadtteils Al-Salam zeigten, verurteilten die Behörden 23 in den Videos gezeigte Gefangene – 21 Männer, eine Frau und einen Jungen – u. a. unter dem Vorwurf der "Verbreitung falscher Informationen" zu Haftstrafen zwischen fünf Jahren und lebenslänglich und setzten sie auf die "Terrorliste". Die Behörden leiteten jedoch keine unparteiischen und wirksamen Untersuchungen ein, um zu klären, wer die Folter verübt hatte.

In der zweiten Jahreshälfte 2022 verlegten die Behörden Hunderte politische Gefangene aus dem Tora-Gefängnis südlich von Kairo in die neuen Gefängniskomplexe Wadi al-Natrun und Badr nördlich bzw. nordöstlich der Hauptstadt. Die Haftbedingungen in diesen wie auch in anderen Gefängnissen waren grausam und unmenschlich: Gefangene klagten über stark überbelegte Zellen, schlechte Belüftung, mangelnde Hygiene, fehlende sanitäre Anlagen sowie unzureichendes Essen, verunreinigtes Trinkwasser und mangelnde Möglichkeiten an der frischen Luft zu sein und sich zu bewegen. Die Behörden verweigerten den Gefangenen eine angemessene medizinische Versorgung und schränkten den Kontakt zur Außenwelt in unangemessener Weise ein oder verboten ihn ganz. In einigen Fällen geschah dies offensichtlich, um Andersdenkende zu bestrafen. Für alle im Gefängnis Badr 3 Inhaftierten waren Besuche von Familienangehörigen und Rechtsbeiständen sowie jegliche Korrespondenz grundsätzlich verboten.

Todesstrafe

Die für Terrorismus zuständigen Kammern der Strafgerichte und Notstandsgerichte sowie andere Gerichte verhängten nach unfairen Massenprozessen Todesurteile.

Im Juni 2022 verurteilte eine für Terrorismus zuständige Kammer des Kairoer Strafgerichts zehn Männer nach einem äußerst unfairen Verfahren wegen "Terrorismus" und Mord zum Tode. Viele von ihnen waren dem Verschwindenlassen und Folter zum Opfer gefallen, hatten keinen Zugang zu ihren Rechtsbeiständen erhalten und waren unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen inhaftiert, die Folter gleichkamen.

Die Zahl der Hinrichtungen war zwar niedriger als in den Vorjahren, doch wurden weiterhin Personen hingerichtet, die nach grob unfairen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt worden waren.

Außergerichtliche Hinrichtungen und rechtswidrige Tötungen

Im Juli und August 2022 tauchten im Internet vier Videos auf, die zeigten, wie drei unbewaffnete Männer, die sich in Gewahrsam der Armee und der mit ihr verbündeten Stammesmilizen im Nordsinai befanden, offenbar außergerichtlich hingerichtet wurden. In einem der Videos ist zu sehen, wie ein junger, möglicherweise minderjähriger Mann mit sichtbaren Verletzungen verhört wird, bevor ihn eine Person erschießt, die Militärkleidung und Stiefel trägt.

Die Staatsanwaltschaften leiteten keine unabhängigen und gründlichen Ermittlungen zu den Ursachen und Umständen von mindestens 50 ungeklärten Todesfällen in Gewahrsam ein, obwohl Berichte vorlagen, dass Folter oder die Verweigerung einer angemessenen Gesundheitsversorgung eine Rolle gespielt haben könnten.

Am 18. April 2022 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zu den ungeklärten Todesumständen des Wirtschaftswissenschaftlers Ayman Hadhoud ein, obwohl Beweise dafür vorlagen, dass die Behörden ihn am 5. Februar verschwinden ließen, ihn dann folterten und anderweitig misshandelten und ihm eine rechtzeitige und angemessene medizinische Behandlung verweigerten.

Im Juli 2022 stellte ein italienisches Gericht die strafrechtliche Verfolgung ägyptischer Sicherheitskräfte ein, die im Verdacht standen, an der Folterung und Ermordung des italienischen Studenten Giulio Regeni im Jahr 2016 beteiligt gewesen zu sein, da sich die ägyptischen Behörden weigerten, zu kooperieren und die Aufenthaltsorte der Verdächtigen preiszugeben.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt

Die Behörden unternahmen nichts, um die weit verbreitete sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt durch staatliche und nichtstaatliche Akteure zu verhindern und die Betroffenen angemessen zu entschädigen.

Zwischen Juni und Oktober 2022 wurden vier junge Frauen von Männern getötet, deren Annäherungsversuche sie zurückgewiesen hatten. Nayera Ashraf wurde von einem Mitstudenten der Universität von Mansoura erstochen, den sie zwei Monate zuvor wegen sexueller Belästigung bei der Polizei angezeigt hatte. Die Polizei hatte die Anzeige jedoch ignoriert.

Die Behörden verfolgten Aktivist*innen strafrechtlich, die sich öffentlich gegen sexualisierte Gewalt aussprachen. Im Januar 2022 bestätigte das Berufungsgericht den Schuldspruch gegen die Aktivistin Amal Fathy, die den Behörden vorgeworfen hatte, sie würden Frauen nicht ausreichend gegen sexuelle Belästigung schützen, und verurteilte sie zu einer einjährigen Haftstrafe.

Im August 2022 verurteilte ein Wirtschaftsgericht die Journalistin Rasha Azab wegen "Beleidigung" und "Verleumdung" zu einer Geldstrafe von 10.000 Ägyptischen Pfund (etwa 490 Euro), weil sie sich online mit Überlebenden sexualisierter Gewalt solidarisiert hatte, die anonyme Aussagen veröffentlicht hatten, in denen sie dem Filmregisseur Islam Azazi sexuelle Übergriffe vorwarfen.

Die Behörden verfolgten Influencerinnen wegen ihrer Aktivitäten in den Sozialen Medien. Mindestens sieben Frauen blieben wegen "moralischer" oder anderer fingierter Anschuldigungen inhaftiert.

Die Behörden nahmen weiterhin Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ins Visier. Im April 2022 nahmen Sicherheitskräfte in einem Einkaufszentrum in Kairo vier Männer und zwei trans Frauen fest und inhaftierten sie kurzzeitig allein aufgrund ihrer Geschlechtsidentität bzw. ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung. Die Betroffenen berichteten, sie seien verbal und körperlich misshandelt worden. Eine der trans Frauen sagte, man habe sie sexuell belästigt und gezwungen, ihren Hidschab abzunehmen und sich nackt auszuziehen.

Arbeitnehmer*innenrechte

Die Behörden gingen mit Festnahmen gegen Beschäftigte und Gewerkschafter*innen vor, die friedliche Streiks und Proteste organisiert oder Gerechtigkeit eingefordert hatten, und unternahmen nichts, um Beschäftigte in der Privatwirtschaft zu schützen, die ungerechtfertigt entlassen oder anderweitig bestraft wurden, weil sie sich für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt hatten.

Im Februar 2022 setzten die Sicherheitskräfte Polizeihunde und Tränengas ein, um einen friedlichen Sitzstreik Tausender Beschäftigter des Privatunternehmens Universal Group for Home Appliances aufzulösen, und nahmen drei Arbeiter kurzzeitig fest. Als mindestens 65 Beschäftigte, die sich an dem Streik beteiligt hatten, im Mai ungerechtfertigt entlassen wurden, griff das Arbeitsministerium nicht ein.

Ebenfalls im Februar billigte das Oberhaus des Parlaments einen Entwurf für ein Arbeitsgesetz, das ungerechtfertigte Entlassungen ohne angemessene Entschädigungen ermöglicht.

Im Oktober 2022 wurde der Gewerkschafter Shady Mohamed inhaftiert, während gegen ihn Ermittlungen wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" liefen. Er hatte zuvor wegen seiner ungerechtfertigten Entlassung Klage gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber eingereicht.

Die Behörden gingen nicht gegen Privatunternehmen vor, die sich weigerten, den im Juli eingeführten Mindestlohn zu zahlen.

Recht auf Wohnraum

Die Behörden führten weiterhin rechtswidrige Zwangsräumungen in informellen Siedlungen durch und nahmen zahlreiche Menschen willkürlich fest, die gegen den Abriss ihrer Häuser protestierten.

Im August 2022 gingen die Sicherheitskräfte mit rechtswidriger Gewalt gegen Bewohner*innen der Insel Warraq vor, die gegen Pläne protestierten, sie zu vertreiben und die Insel in ein Handelszentrum umzuwandeln. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein, verprügelten die Demonstrierenden mit Schlagstöcken und inhaftierten zahlreiche Personen kurzzeitig. In der Folge schikanierten die Sicherheitskräfte die Bewohner*innen der Insel an Kontrollpunkten und stellten den Betrieb von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen ein, was in den Augen der Bewohner*innen dazu diente, sie von dort zu vertreiben.

Klimakrise

Im Juni 2022 veröffentlichte Ägypten seine aktualisierten nationalen Klimabeiträge (Nationally Determined Contributions – NDC). Demnach sollen die Emissionen bis 2030 im Bereich Strom um 33 Prozent, im Bereich Öl und Gas um 65 Prozent und im Bereich Verkehr um 7 Prozent gegenüber den Business-as-usual-Szenarien gesenkt werden. Expert*innen bemängelten, dass die Klimaziele nicht transparent genug seien, ein Gesamtemissionsziel sowie klare Ausgangswerte fehlten und das Erreichen der recht bescheidenen Ziele von internationaler Finanzhilfe abhängig gemacht werde. Nach Ansicht der Expert*innen reichten die Zusagen bei Weitem nicht aus, um den globalen Temperaturanstieg auf weniger als 1,5 °C zu begrenzen.

Ebenfalls im Juni erteilte Ägypten dem staatlichen russischen Kernenergieunternehmen Rosatom die Genehmigung zum Bau eines Atomkraftwerks in der Stadt Dabaa in der Provinz Matrouh. Die Menschenrechtsorganisation Ägyptische Initiative für persönliche Rechte (Egyptian Initiative for Personal Rights – EIPR) kritisierte, dass in Ägyptens Nationaler Strategie zum Klimawandel die Kernenergie als Alternative zu fossilen Brennstoffen genannt werde, obwohl diese umweltschädlich sei und im Vergleich zu Erdgas-, Windkraft- und Solaranlagen mit derselben Kapazität wesentlich höhere Kosten verursache.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Christ*innen wurden durch Gesetze und im täglichen Leben weiterhin diskriminiert und waren strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, wenn sie ihr Recht auf Religionsausübung einforderten.

Der Bau und die Sanierung von Kirchen waren weiterhin durch ein Gesetz aus dem Jahr 2016 eingeschränkt, das eine Genehmigung durch die Sicherheitsbehörden und andere staatliche Stellen vorschreibt. Nach Angaben der EIPR wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes nur 45 Prozent der Anträge vorläufig genehmigt.

Im Januar 2022 nahmen Sicherheitskräfte neun Einwohner des Dorfes Ezbet Farag Allah in der Provinz el-Minya willkürlich fest und hielten sie drei Monate lang in Haft, während Ermittlungen wegen "Teilnahme an einer Versammlung" und "Begehung eines terroristischen Akts" gegen sie liefen. Die Männer hatten friedlich dagegen protestiert, dass die Behörden den Wiederaufbau der einzigen Kirche in ihrem Dorf nicht genehmigt hatten. Sie wurden ohne Gerichtsverfahren wieder freigelassen.

Angehörige religiöser Minderheiten, Atheist*innen und andere Gruppen, die keine staatlich anerkannten religiösen Überzeugungen vertraten, wurden wegen "Diffamierung der Religion" und anderer fingierter Anschuldigungen strafrechtlich verfolgt und inhaftiert. Am 10. Februar 2022 bestätigte das Berufungsgericht die dreijährige Haftstrafe gegen den Blogger Anas Hassan, der 2019 festgenommen worden war, weil er auf Facebook die Seite Egyptian Atheists betrieben hatte.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden nahmen weiterhin Flüchtlinge und Migrant*innen, die ohne gültige Reisedokumente nach Ägypten eingereist waren oder sich dort aufhielten, willkürlich fest und inhaftierten sie.

Im März 2022 schoben die Behörden 31 eritreische Staatsangehörige, darunter Frauen und Kinder, nach Eritrea ab, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung über ihre Abschiebung anzufechten oder Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten. Vor ihrer Abschiebung waren sie übermäßig lange unter sehr schlechten Bedingungen inhaftiert.

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