Afghanistan: Katastrophale Zustände nach einem Jahr Taliban-Herrschaft; Verweigerte Frauenrechte, Repression gegen Medien, Morde als Vergeltung und massenhafter Hunger

Verweigerte Frauenrechte, Repression gegen Medien, Morde als Vergeltung und massenhafter Hunger
 
 
(New York) – Die Taliban haben zahlreiche Versprechen gebrochen, wonach sie nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan vor einem Jahr die Menschenrechte und die Rechte von Frauen achten würden, so Human Rights Watch heute. Neben anderen Rechteverletzungen haben die Taliban-Behörden seit der Einnahme von Kabul am 15. August 2021 die Rechte von Frauen und Mädchen stark eingeschränkt, Medien unterdrückt und Kritiker*innen und vermeintliche Oppositionelle gefoltert und hingerichtet.

Die Menschenrechtsverletzungen der Taliban wurden weltweit verurteilt und haben die internationalen Bemühungen zur Verbesserung der katastrophalen humanitären Lage im Land gefährdet, so Human Rights Watch. Der Zusammenbruch der Wirtschaft ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass andere Staaten ihre ausländischen Hilfen gekürzt und internationale Finanztransaktionen erschwert haben. Mehr als 90 Prozent der Menschen in Afghanistan sind seit beinahe einem Jahr von Ernährungsunsicherheit betroffen, weshalb Millionen von Kindern mit akuter Mangelernährung und der Gefahr langfristiger Gesundheitsprobleme zu kämpfen haben.

„Die afghanische Bevölkerung erlebt einen Menschenrechtsalptraum und ist Opfer sowohl der Grausamkeit der Taliban als auch der Apathie der internationalen Gemeinschaft“, sagte Fereshta Abbasi, Researcherin für Afghanistan bei Human Rights Watch. „Sollten sich ausländische Regierungen – bei gleichzeitigem Pochen auf die Einhaltung der Menschenrechte – nicht aktiver um einen Umgang mit den Taliban-Behörden bemühen, sieht die Zukunft Afghanistans trostlos aus.“

Seit der Machtübernahme haben die Taliban Regeln aufgestellt, die Frauen und Mädchen weitreichend davon abhalten, ihre grundlegendsten Rechte auf Meinungsäußerung, Bewegungsfreiheit und Bildung auszuüben, und die zudem andere Grundrechte beeinträchtigen, wie etwa das Recht auf Leben, Lebensgrundlage, Gesundheitsversorgung, Nahrung und Wasser. Die Taliban haben es Frauen verboten, ohne Begleitung eines männlichen Familienangehörigen zu reisen oder an ihren Arbeitsplatz zu fahren – eine Anforderung, die in den meisten Familien schlicht nicht umsetzbar ist – und haben zudem viele Arbeitsplätze für Frauen gesperrt. Außerdem haben die Taliban den meisten Mädchen den Besuch einer weiterführenden Schule verwehrt.

Die verheerende Menschenrechtsbilanz der Taliban sowie ihre Weigerung, sich ernsthaft mit internationalen Finanzinstitutionen auseinanderzusetzen, haben ihre Isolierung weiter vertieft, so Human Rights Watch. Ausländische Regierungen sollten ihre Beschränkungen für das afghanische Bankwesen lockern, um legitime Wirtschaftsaktivitäten und humanitäre Hilfe zu erleichtern. Die Taliban sollten wiederum Rechteverletzungen einen Riegel vorschieben und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

„Die Taliban sollten dringend ihre schreckliche und frauenfeindliche Entscheidung revidieren, Frauen und Mädchen den Zugang zu weiterführenden Schulen zu verwehren“, sagte Abbasi. „Damit würden die Taliban ein Zeichen setzen, dass sie bereit sind, ihre schwerwiegendsten Maßnahmen zu überdenken.“

Viele Regierungen haben die Entscheidung der Taliban angeprangert oder kritisiert, die Bildung von Mädchen einzuschränken, darunter der gesamte UN-Sicherheitsrat sowie beinahe alle Mitglieder der G7 und der G20. Keine Regierung hat die Position der Taliban verteidigt oder zu rechtfertigen versucht.

Im Laufe des vergangenen Jahres hat Human Rights Watch eine Reihe von Pressemitteilungen und Berichten zu den Menschenrechtsverletzungen der Taliban und ein aktualisiertes Dokument mit Fragen und Antworten zur allgemeinen humanitären und wirtschaftlichen Krise in Afghanistan veröffentlicht sowie Empfehlungen dazu, wie sich die Lage verbessern ließe. Dazu gehört auch, die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban zu unterstützen, damit afghanische Bürger*innen legitime wirtschaftliche Aktivitäten aufnehmen können.

Der US-Luftangriff vom 30. Juli, bei dem Al-Kaida-Anführer Ayman al-Sawahiri getötet wurde, scheint die laufenden Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban nicht beeinträchtigt zu haben. Beide Seiten sollten weiterhin dringlich daran arbeiten, zu einer Einigung zu gelangen, die es möglich macht, die Wirtschaftskrise des Landes zu bewältigen.

Obwohl in Märkten im ganzen Land Nahrungsmittel und Grundversorgungsgüter erhältlich sind, ist in ganz Afghanistan akuter Hunger verbreitet, sagte Human Rights Watch. Beinahe 20 Millionen Menschen – die Hälfte der Bevölkerung – leiden unter Ernährungsunsicherheit der Stufen 3 „Krise“ oder der Stufe 4 „Notfall“ gemäß des Bewertungssystems des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP). Mehr als eine Million Kinder unter fünf Jahren – deren Leben bei Nahrungsmangel besonders gefährdet ist – leiden unter andauernder akuter Mangelernährung. Das WFP berichtete im Juni, dass Zehntausende Menschen in der Provinz Ghor eine Ernährungsunsicherheit der Stufe 5 „Katastrophe“ erreicht haben, die den Beginn einer Hungersnot markiert.

Allgemein sind Menschen in Afghanistan seit letztem August von verschiedenen Formen von Ernährungsunsicherheit betroffen, weshalb sie Mahlzeiten auslassen, ganze Tage nichts essen oder auf extreme Bewältigungsmechanismen zurückgreifen, um für Nahrung zu bezahlen. Darunter fällt zum Beispiel, dass Kinder zum Arbeiten geschickt werden.

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Frauen und Mädchen sind besonders gravierend, da diese es immer schwerer haben, Zugang zum Sozial- und Gesundheitssystem zu erlangen.

Die humanitäre Situation wäre sogar noch dramatischer, hätten die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen ihre Aktivitäten in 2022 nicht massiv ausgeweitet, so Human Rights Watch.

„Nach einem Jahr an der Macht sollten die Taliban-Anführer die Katastrophe anerkennen, die sie geschaffen haben, und beim Thema Rechte eine Kurswende vornehmen, bevor noch mehr Afghan*innen darunter leiden und weitere Leben verloren gehen“, sagte Abbasi.

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