Document #2075130
HRW – Human Rights Watch (Author)
Untersuchung des Angriffs in Krementschuk als mögliches Kriegsverbrechen
(Poltawa, 30. Juni 2022) – Am 27. Juni 2022 haben russische Streitkräfte eine Rakete auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk in der Zentralukraine abgefeuert. Nach Angaben der örtlichen Behörden wurden bei dem Angriff mindestens 18 Zivilist*innen getötet und Dutzende andere verletzt, wie Human Rights Watch heute mitteilte. Am 29. Juni wurden noch 36 Menschen vermisst, während die Rettungsarbeiten fortgesetzt wurden.
Ein Beamter des russischen Verteidigungsministeriums erklärte, das Einkaufszentrum sei zum Zeitpunkt des Angriffs geschlossen gewesen. Außerdem habe sich das Feuer, das das Einkaufszentrum beschädigte, von einem angrenzenden Industriekomplex aus ausgebreitet, wo aus dem Westen gelieferte Munition gelagert worden sei, die bei dem Angriff der russischen Streitkräfte detoniert sei. Beide Behauptungen sind nachweislich falsch.
„Die russische Rakete, die am 27. Juni direkt in ein geöffnetes und gut besuchtes Einkaufszentrum einschlug, hat zu Tod und Verheerung unter der Zivilbevölkerung geführt“, sagte Yulia Gorbunowa, Senior Researcher zur Ukraine bei Human Rights Watch. „Es sollte untersucht werden, ob der Vorfall ein mögliches Kriegsverbrechen ist, und wenn die russischen Behörden dies nicht tun, sollten der Internationale Strafgerichtshof und andere Untersuchungsorgane eingeschaltet werden.“
Der Angriff zerstörte das Einkaufszentrum und beschädigte mehrere Fahrzeuge auf dessen Parkplatz. Eine zweite Rakete schlug Minuten später auf der Nordseite einer Fahrzeugfabrik an der Krementschuk-Straße ein, einem großen Industriekomplex, der weniger als 40 Meter hinter dem Einkaufszentrum liegt und durch eine Zementmauer getrennt ist. Der zweite Einschlag erfolgte 450 Meter nördlich des ersten und hinterließ einen etwa 16 Meter breiten und 5 Meter tiefen Krater. Vier Überwachungskameras, die aus verschiedenen Winkeln über einem nahe gelegenen Park auf den Bereich gerichtet sind, zeigen den Einschlag der zweiten Rakete. Die Zeiterfassung der Überwachungskamera zeigt, dass die zweite Rakete um 15:59 Uhr einschlug. In einem Video der Überwachungskameras ist die Rauchwolke zu sehen, die aus dem Einkaufszentrum aufsteigt. Ein Beamter des russischen Verteidigungsministeriums behauptete, die ukrainischen Behörden hätten in dem Industriekomplex Waffen aus den USA und europäischen Ländern gelagert. Der ukrainische Innenminister hingegen erklärte, dass es im Umkreis von fünf Kilometern um das Einkaufszentrum keine militärischen Ziele gebe.
Bei Untersuchungen vor Ort am 28. und 29. Juni konnte Human Rights Watch keine Hinweise darauf finden, dass in dem Industriekomplex Munition gelagert wurde.
Obgleich einige der Geschäfte nach dem 24. Februar geschlossen wurden, blieb das Einkaufszentrum – entgegen russischen Behauptungen – nach Angaben von Zeug*innen, Mitarbeiter*innen und Kund*innen geöffnet. Human Rights Watch sprach mit 15 Personen, darunter Menschen, die mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, mit Ärzt*innen, Verkaufspersonal, anderen Zeug*innen und lokalen Beamt*innen.
Vier Personen berichteten unabhängig voneinander, dass sie gegen 16 Uhr zwei Explosionen im Abstand von wenigen Minuten hörten. Elena Guseva, 55, die in einem Lebensmittelladen gegenüber dem Einkaufszentrum arbeitet, sagte, sie habe die Luftschutzsirene gegen 16 Uhr gehört, „gebetet, dass es ein falscher Alarm war“, sei nach draußen gegangen und habe dann eine sehr laute Explosion gehört: „Ich schrie und tat einen Sprung. Ich spürte plötzliche Schmerzen in der Brust und im Magen. Und ich sah eine riesige schwarze Rauchwolke über dem Einkaufszentrum.“
Die Aufnahmen, die von einer Überwachungskamera mit Blick auf den Industriekomplex hinter dem Einkaufszentrum gemacht wurden, zeigen den Moment, in dem die erste Rakete das Einkaufszentrum traf. Der Zeitstempel des Videos zeigt 15:51:54 Uhr. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte die Aufnahmen, deren genauer Standort zunächst vom Recherchekollektiv Bellingcat lokalisiert und von Human Rights Watch durch den Abgleich von geographischen Details im Video mit Satellitenbildern überprüft wurde.
Human Rights Watch kann derzeit weder bestätigen noch widerlegen, ob das Industriegelände jemals für militärische Zwecke genutzt wurde. Human Rights Watch hat den umliegenden Bereich jedoch beobachtet, und die Leitung der Fabrik hat den Researchern von Human Rights Watch Zugang zum Gelände gewährt. Der stellvertretende Direktor der Fabrik, Viktor Shybko, sagte, dass sich in der Anlage keine militärischen Fahrzeuge, Ausrüstung oder Personal befänden und dort nur Maschinen für die Beton- und Asphaltproduktion hergestellt würden.
Den Researchern wurde ungehinderter Zugang zu der Anlage gewährt, einschließlich mehrerer Lagerhallen, wo sie große, fest installierte Maschinen und alte Metallteile sahen, von denen einige mit Staub bedeckt waren. Sie fanden keine Hinweise auf Militärfahrzeuge, Waffen oder Munition. Seit dem Einmarsch Russlands im Februar war die Fabrik wegen unterbrochener Versorgungsleitungen nur noch teilweise in Betrieb. Am 27. Juni endete der Arbeitstag um 15.30 Uhr, und etwa 50 Mitarbeiter*innen waren noch anwesend, als die Rakete einschlug. Das Sicherheitspersonal des Werks ist nicht militarisiert, sondern lediglich mit Funkgeräten und Taschenlampen ausgestattet.
Laut Aussagen der stellvertretenden Bürgermeisterin von Krementschuk, Olha Usanova, sowie von Oksana Korlyakova, der Leiterin der Intensivklinik Krementschutskaya, hätten nur fünf der 18 Toten identifiziert werden können, da die anderen Leichen so stark verbrannt waren, dass eine visuelle Identifizierung unmöglich war. Nach dem Angriff suchten 57 Menschen medizinische Hilfe in der Klinik, von denen 25 Personen –15 Männer und 10 Frauen – im Krankenhaus bleiben mussten. Eine von ihnen starb kurz nach der Ankunft, fünf weitere befanden sich am 28. Juni noch in kritischem Zustand.
Nach Angaben der Behörden erlitten die meisten der Patient*innen ein Schädel-Hirn-Trauma und andere, durch Explosionen verursachte primäre und sekundäre Verletzungen. Eine Person wurde mit schweren Brandverletzungen in ein Spezialkrankenhaus gebracht.
Ein Mann, der mit einem Schädel-Hirn-Trauma und anderen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden war, sagte, er sei in dem Einkaufszentrum gewesen, habe das Bewusstsein verloren und sei unter einer Betonplatte aufgewacht. Er sagte, er habe seine Frau, 43, in der Nähe schreien gehört. Sie war ebenfalls unter Betontrümmern eingeklemmt und hatte sich den Arm an drei Stellen gebrochen: „Als wir [aus dem Einkaufszentrum] stolperten, musste sie ihren Arm mit dem anderen Arm festhalten, und wir konnten sehen, wie der Knochen unter der Haut hervortrat.“
Ukraine: Russian Missile Kills Civilians in Shopping Center (Appeal or News Release, English)
Ukraine : Un missile russe a tué des civils dans un centre commercial (Appeal or News Release, French)