Amnesty International Report 2021/22; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Polen 2021

Amtliche Bezeichnung

Republik Polen

STAATSOBERHAUPT

Andrzej Duda

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Mateusz Morawiecki

Stand:

1|2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Behörden setzten die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz fort, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass zwei der hohen polnischen Justizorgane die Standards für faire Verfahren nicht erfüllten. Die sexuellen und reproduktiven Rechte wurden weiter beschnitten. Anklagen, die zur Einschränkung der Meinungsfreiheit erhoben wurden, wurden fallen gelassen, oder die Aktivist_innen wurden freigesprochen.

Mehrere Regionalräte zogen ihre Anti-LGBTI-Erklärungen zurück, doch die Verletzungen von LGBTI-Rechten gingen weiter. Grenzschutzbeamt_innen schoben Asylsuchende nach Belarus zurück. Das Urteil des EGMR zu Abu Zubaydah, der weiterhin im US-Gefangenenlager in Guantánamo Bay auf Kuba festgehalten wird, wurde nicht umgesetzt.

Justiz

Die Regierung ging weiterhin gegen Richter_innen und Staatsanwält_innen vor, die Bedenken wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz äußerten. Im Januar 2021 versetzte die Staatsanwaltschaft sieben Staatsanwält_innen innerhalb von 48 Stunden auf neue Stellen Hunderte von Kilometern von ihrem Wohnort entfernt. Sechs der Staatsanwält_innen waren Mitglieder einer Organisation zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit. NGOs kritisierten die Versetzung als Strafmaßnahme.

Die internationale Besorgnis über die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz hielt an. Im März 2021 verklagte die Europäische Kommission Polen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen eines 2020 verabschiedeten Gesetzes über das Justizwesen, das die polnischen Gerichte daran hindert, dem Europäischen Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen im Zusammenhang mit Disziplinarverfahren gegen Richter_innen vorzulegen. Im Juli 2021 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs Polens nicht die nach EU-Recht erforderliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit besitzt.

Das polnische Verfassungsgericht entschied daraufhin, dass solche Urteile nicht mit der Verfassung vereinbar seien, und machte den Vorrang des polnischen Rechts vor dem EU-Recht geltend. Im November 2021 urteilte das Verfassungsgericht, dass Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf ein faires Gerichtsverfahren) nicht mit der polnischen Verfassung konform gehe. Im Dezember leitete die Europäische Kommission wegen der Urteile des Verfassungsgerichts ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein.

Der EGMR entschied zudem, dass das polnische Verfassungsgericht und die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren nicht erfüllten. Im Mai 2021 entschied der EGMR in der Rechtssache Xero Flor gegen Polen, dass die Handlungen der Legislative und der Exekutive bei der Wahl von drei Richter_innen des Verfassungsgerichts im Jahr 2015 eine unrechtmäßige Einflussnahme von außen darstellten.

Im Juli entschied der EGMR in der Rechtssache Reczkowicz gegen Polen, dass die Disziplinarkammer kein unabhängiges Gericht sei, da Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung ihrer Richter_innen die Legitimität der Kammer stark beeinträchtigten.

Im April 2021 forderte der EGMR Polen förmlich auf, sich zu den mutmaßlichen Verstößen im Fall des Richters Paweł Juszczyszyn zu äußern, der im Jahr 2020 von der Disziplinarkammer suspendiert worden war, nachdem er die Unabhängigkeit des Verfassungsorgans, das in Polen über die Unabhängigkeit der Justiz wacht (Krajowa Rada Sądownictwa), in Frage gestellt hatte.

Gegen den Richter Igor Tuleya, der das Eingreifen der Regierung in die richterliche Unabhängigkeit scharf kritisierte, lief weiterhin ein Strafverfahren, nachdem die Disziplinarkammer im Jahr 2020 seine Immunität aufgehoben hatte.

Frauenrechte

Im Oktober 2021 forderte die Sachverständigengruppe GREVIO, die die Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) überwacht, Polen nachdrücklich auf, den Begriff der frei erteilten Zustimmung, wie in der Istanbul-Konvention gefordert, vollständig zu übernehmen und angemessene Sanktionen bei allen nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu gewährleisten. GREVIO kritisierte Polen auch für die mangelnden Maßnahmen gegen häusliche Gewalt.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Bei den sexuellen und reproduktiven Rechten gab es 2021 einen weiteren Rückschritt. Im Januar veröffentlichte das Verfassungsgericht ein Urteil, wonach das Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche in Fällen schwerer Schädigungen des Fötus erlaubt, verfassungswidrig sei. Krankenhäuser in Polen stellten daraufhin die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in diesen Fällen ein, um eine strafrechtliche Verfolgung des medizinischen Personals zu vermeiden.

Im Juli 2021 forderte der EGMR von Polen eine förmliche Stellungnahme in den Fällen von zwölf Personen, die angaben, die Abtreibungsgesetze des Landes verletzten ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und verstießen gegen das Verbot von Folter und anderen Misshandlungen.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Veröffentlichung eines Urteils des Verfassungsgerichts zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Fällen schwerer Schädigungen des Fötus löste im Januar und Februar 2021 Proteste aus. Bei den Demonstrationen am 27. Januar 2021 in Warschau nahm die Polizei 20 Demonstrierende fest und erstattete 250 Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten. Die Polizei brachte die festgenommenen Demonstrierenden auf Wachen außerhalb Warschaus, wodurch ihr Zugang zu Rechtsbeiständen behindert wurde.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im März 2021 sprach das Bezirksgericht in Płock drei Aktivistinnen frei, denen wegen des Besitzes und der Verteilung von Postern und Aufklebern, auf denen die Jungfrau Maria mit einem LGBTI-Regenbogen-Heiligenschein abgebildet war, "Beleidigung religiöser Überzeugungen" vorgeworfen wurde. Ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft war Ende des Jahres noch anhängig.

Im Juni 2021 stellte die Polizei die Ermittlungen zu einer Anklage wegen "Diebstahl und Einbruch" gegen zwei Aktivist_innen ein. Sie waren 2020 an einer Plakatkampagne beteiligt gewesen, in der die Regierung beschuldigt wurde, die Corona-Statistiken zu manipulieren.

Im November 2021 sprach ein Bezirksgericht in Warschau die Journalistin Ewa Siedlecka aufgrund von Artikeln, die sie 2019 verfasst hatte, wegen strafbarer Verleumdung schuldig. Sie hatte Schikanen gegen Richter_innen aufgedeckt, die sich gegen "Reformen" zur Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit gewehrt hatten. Hinter der Hetzkampagne gegen die Richter_innen soll der stellvertretende Justizminister gestanden haben.

Rechte von LGBTI+

Als Reaktion auf die anhaltenden Verletzungen der Rechte von LGBTI+ leitete die Europäische Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren ein. Im September 2021 forderte sie fünf Regionalräte auf, die 2019 verabschiedeten Anti-LGBTI-Erklärungen zurückzuziehen, und machte dies zur Bedingung für den Erhalt von EU-Fördermitteln. Daraufhin zogen, ebenfalls im September, vier Regionalräte diese Resolutionen zurück.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Grenzschutzbeamt_innen räumten ein, dass sie Asylsuchende nach Belarus zurückgeschoben hatten. Zwischen dem 18. und 19. August wurde eine Gruppe von 32 Asylsuchenden aus Afghanistan, die von Belarus aus eingereist waren, auf die belarussische Seite der Grenze zurückgedrängt. Alle 32 wollten in Polen internationalen Schutz beantragen, aber die polnischen Grenzbeamt_innen verweigerten ihnen die Einreise in das polnische Hoheitsgebiet. Trotz zweier Anordnungen des EGMR gewährte Polen der Gruppe keinen Zugang zu Nahrung, Wasser, Unterkunft, medizinischer Hilfe oder Rechtsbeiständen.

Im Oktober 2021 verabschiedete das Parlament Änderungen des Ausländergesetzes und des Gesetzes über die Gewährung von Schutz für ausländische Staatsangehörige, wonach Personen, die "irregulär" die Grenze überschreiten, das polnische Hoheitsgebiet verlassen müssen und ihnen die Wiedereinreise untersagt wird. Das Gesetz macht es somit Menschen, die ohne reguläres Visum oder legalen Aufenthaltsstatus einreisen, generell unmöglich, in Polen Asyl zu beantragen.

Am 2. September verhängte der Präsident den Ausnahmezustand an der Grenze zu Belarus, der Journalist_innen, Medienschaffenden und NGOs den Zugang zum Grenzgebiet untersagte und Rechtsbeiständen den Zugang zu Asylsuchenden verwehrte. Am 1. Dezember trat eine Änderung des Grenzschutzgesetzes in Kraft, die das Verhängen solcher Aufenthaltsverbote für bestimmte Gebiete weiterhin und auf unbestimmte Zeit ermöglichte.

Folter und andere Misshandlungen

Im April 2021 reichte Abu Zubaydah, ein in Guantánamo Bay inhaftierter palästinensischer Staatsangehöriger, bei der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen einen Antrag ein, in dem er seine Freilassung forderte. Abu Zubaydah war zwischen 2002 und 2003 in einem geheimen Haftlager in Polen festgehalten worden, und Polen unternahm nach wie vor nichts, um das Urteil des EGMR vollständig umzusetzen und eine wirksame Untersuchung des Falls durchzuführen.

Recht auf Privatsphäre

Im Dezember 2021 benachrichtigte die Firma Apple die Warschauer Staatsanwältin Ewa Wrzosek, dass ihr Telefon mit der Spionagesoftware Pegasus des israelischen Herstellers NSO Group infiziert worden sei. Ewa Wrzosek ist Mitglied der NGO Lex Super Omnia, die sich für Rechtsstaatlichkeit einsetzt.

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