Document #2061686
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Author)
7. Oktober 2021
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Nasima Dawletow, außerordentliche Professorin der der Webster University in Taschkent und Expertin für die Themen Gender und Medien, schreibt in einem wissenschaftlichen Paper von 2019, dass das Familiengesetzbuch die Gleichstellung von Ehepaaren in Bezug auf den Besitz von Immobilien vorsehe. Dennoch hätten Frauen aufgrund rechtlicher Nuancen - in Verbindung mit traditionellen Ansichten - nach einer Scheidung in der Regel kein Recht auf Immobilienbesitz. Ansprüche auf den Besitz von Wohnraum und anderes Eigentum während oder nach der Ehe würden als schändlich empfunden und von Verwandten und der Gemeinschaft oft verurteilt. Dies stelle ein Hindernis für eine Frau dar, die sich von einem Ehemann scheiden lassen wolle, der sie misshandle.
Artikel 2 des Familiengesetzes besage, dass Frauen und Männer in der Familie gleiche Rechte hätten. Die Realität für Frauen sei jedoch weit davon entfernt. Die unausgesprochene Regel in den Mahallas (ein Stadtviertel mit institutionalisierter Selbstverwaltung) laute, dass die Scheidungsrate gesenkt werden müsse - und Frauen seien zu Instrumenten geworden, um diese Regel durchzusetzen. Inoffiziellen Angaben zufolge verweigere die Mahalla in den meisten Fällen die Zustimmung zur Einreichung einer Scheidung. Das Scheidungsverfahren sei Teil des Gemeinschaftslebens, keine persönliche Entscheidung, und werde informell von der Mahalla verwaltet. Die Standesämter oder Gerichte würden Scheidungsanträge nur dann akzeptieren, wenn die Antragsteller ein Dokument der Mahalla vorlegen würden, in dem die Scheidung genehmigt und bestätigt werde, dass sich das Paar einer Schlichtungskommission bei der Gemeindeverwaltung unterzogen habe. Laut der Anwältin Lenara Hikmatowa habe das Gericht jedoch keine rechtliche Befugnis, die Annahme eines Scheidungsantrags zu verweigern, und auch die Mahalla sei nicht befugt, ihre Zustimmung zu verweigern. Eine weitere Unvereinbarkeit zwischen Gesetz und Praxis bestehe darin, dass das Gericht für den Fall, dass sich ein Paar nicht versöhnen könne, eine Versöhnungsfrist von bis zu sechs Monaten festsetzen könne. In der Praxis würden die Paare diese Frist von der Mahalla erhalten, da sie nicht in der Lage seien, die Scheidung direkt beim Gericht zu beantragen. Solche Fristen könnten mehrmals festgelegt werden. Der geschlechtsspezifische Aspekt der Diskriminierung bestehe darin, dass Frauen während dieser Versöhnungssitzungen oft öffentlich beschämt würden und gezwungen seien, in der Ehe zu bleiben, manchmal auf Kosten ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit und sogar ihres Lebens. Körperliche Gewalt gegen eine Ehefrau gelte in der Regel nicht als triftiger Scheidungsgrund. Mitglieder von Versöhnungskommissionen würden Techniken der Opferbeschuldigung anwenden, um misshandelten Ehefrauen die Scheidung zu verweigern.
Inoffiziellen Daten zufolge gehe die Zahl der illegalen Nikah-Ehen (islamische religiöse Ehen, die Polygamie für Männer erlauben) in die Hunderttausende. Wirtschaftliche Not, mangelnde Bildung von Frauen, unzureichender sozialer Schutz und allgemeine Vorurteile gegenüber geschiedenen Frauen, insbesondere solchen mit Kindern, würden Frauen dazu veranlassen, eine Nikah-Ehe anzustreben. Es werde allgemein angenommen, dass es viel besser sei, einen Mann teilen zu müssen, als allein zu leben oder - was noch schlimmer sei - ins Elternhaus zurückzukehren (Dawletowa, Juli 2019, S. 5-6).
Die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ), eine Wochenzeitung in Kasachstan, die auf Deutsch und Russisch erscheint, veröffentlicht im September 2020 ein Interview mit Irina Matwienko, Gründerin des Projekts Nemolchi.uz, das sich gegen Gewalt in Usbekistan richtet. Zu Scheidungen gibt Matwienko an:
„Die Scheidungsrate in unserem Land wächst, deswegen soll die Versöhnungsfrist, die in den Familienkodex aufgenommen wurde, diese Rate sinken lassen. Wenn zwei Erwachsene beschließen, die Scheidung zu beantragen, aber gemeinsame Kinder haben, hat das Gericht das Recht, ihnen sechs Monate Zeit für die Versöhnung zu geben – und in den meisten Fällen tut es genau das. Außerdem informiert das Gericht die Versöhnungskommissionen der Mahallas (ein Stadtviertel mit institutionalisierter Selbstverwaltung) am Wohnort des Ehepaars, so dass auch sie einige Maßnahmen ergreifen.“ (DAZ, 17. September 2020)
In einem Artikel vom September 2021 schreibt Dawletowa, dass es einigen Berichten zufolge lange Zeit informelle Beschränkungen für offizielle Scheidungen gegeben habe. Es seien halbformale Verfahren von den lokalen Mahalla-Komitees durchgeführt worden, die eine Bescheinigung für die gerichtliche Auflösung der Ehe hätten ausstellen sollen, obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gegeben habe. In den Mahallas habe es wiederum sogenannte Schlichtungskommissionen gegeben, die in den meisten Fällen Druck auf die Frauen ausgeübt hätten, um die Familie zu erhalten. In ländlichen Gebieten hätten diese Kommissionen die Ehepartner in den meisten Fällen versöhnt, manchmal trotz der objektiven Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Frauen. Die Schlichtungskommissionen seien abgeschafft worden, aber die Versöhnung mit dem Aggressor werde nach wie vor als die akzeptabelste und wünschenswerteste Praxis angesehen, auch wenn sie nicht zwangsweise erfolge. Es liege auf der Hand, dass Versöhnungsversuche und das Bemühen um den Erhalt der Familie nicht nur mit kurzfristigen nationalen Wertvorstellungen in Zusammenhang stünden. Frauen, die traditionell einen niedrigeren sozioökonomischen Status hätten und nur selten über eine eigene Wohnung verfügen würden, seien nicht nur für ihre Familien, sondern auch für den Staat eine Kategorie von gesellschaftlich vulnerablen Personen. In Anbetracht der allgemeinen wirtschaftlichen Lage des Landes und der hohen Arbeitslosigkeit sowie des geringen Anteils von Frauen in der Hochschulbildung und in einträglichen Positionen führe eine Scheidung (Verlust des offiziellen Wohnsitzes und des gemeinsamen Haushalts mit dem Ehemann) automatisch dazu, dass eine große Zahl von Frauen in die Kategorie der gesellschaftlich vulnerablen Personen gerate (Dawletowa, 3. September 2021).
In einem NGO-Bericht von 2020 wird erwähnt, dass Polygamie, Früh- und Zwangsehen in Usbekistan aufgrund der Politik der Regierung, die die hauptsächliche Rolle der Frau in der Ehe sehe, zunehmend normal seien. Frauen seien gezwungen, den Status der Zweit- und Drittfrau zu akzeptieren, da das Stigma der alleinstehenden oder geschiedenen Frauen in der Gesellschaft sehr stark sei. Die Behörden würden keine Anstrengungen unternehmen, um Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit zu bekämpfen. Darüber hinaus würden sie sich an der Erstellung von Frauen stigmatisierenden Videoinhalten beteiligen. Im Dezember 2019 habe das Justizministerium ein Video veröffentlicht, das veranschauliche, wie die Welt und das Lebens eines Kindes zerstört würden, wenn sich eine Frau von ihrem Mann scheiden lasse (Bureau for Human Rights and Rule of Law/Women's Rights Coalition, 2020, S. 2-3).
Das United Nations Development Programme (UNDP) in Eurasien erwähnt in einem Artikel vom August 2019, dass Frauen, die eine Scheidung oder Unterhaltszahlungen beantragen, häufig zum Gericht fahren müssten, das manchmal Dutzende Kilometer entfernt sei, nur um die Dokumente abzugeben. Die Zeit, die sie dafür der Arbeit fernbleiben müssten, wie auch das nötige Geld seien besonders belastend für alleinstehende Mütter, ganz zu schweigen von der öffentlichen Scham, die sie im Gericht oft spüren würden (UNDP Eurasia, 5. August 2019).
Das usbekische Onlinemedium Kun.uz meldet im Juli 2021, dass die usbekische Genderkommission eine Studie zum Schaden, der der Gesellschaft durch Scheidungen entstehen würde, durchgeführt habe. Die Studie habe herausgefunden, dass die Mehrheit der geschiedenen Frauen Wohnungsprobleme gehabt hätten. Zudem hätten sie das Problem, dass die Kinder ohne den Vater aufwachsen würden. Darüber hinaus würden geschiedene Frauen von der Gesellschaft schlecht behandelt. Es würden ihnen intime Beziehungen angeboten und sie hätten Probleme beim Mieten von Unterkünften (Kun.uz, 7. Juli 2021).
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. Oktober 2021)
· Bureau for Human Rights and Rule of Law/Women's Rights Coalition: Report for 78th Pre-Sessional Working Group on Uzbekistan, 2020
https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/UZB/INT_CEDAW_NGO_UZB_42641_E.pdf
· Dawletowa, Nasima: Women of Uzbekistan: Empowered on Paper, Inferior on the Ground, Juli 2019
https://centralasiaprogram.org/wp-content/uploads/2019/07/Davletova-CAP-Paper-223-July-2019.pdf
· Dawletowa, Nasima: Women’s Question in Uzbekistan: Rationalizing Traditions, 3. September 2021
https://cabar.asia/en/women-s-question-in-uzbekistan-rationalizing-traditions
· DAZ - Deutsche Allgemeine Zeitung: Die Stellung der Frau in der usbekischen Gesellschaft lässt zu wünschen übrig“, 17. September 2020
https://daz.asia/blog/die-stellung-der-frau-in-der-usbekischen-gesellschaft-laesst-zu-wuenschen-uebrig/
· Kun.uz: Divorce cases sharply rise in Uzbekistan, 7. Juli 2021
https://kun.uz/en/news/2021/07/07/divorce-cases-sharply-rise-in-uzbekistan
· UNDP Eurasia- United Nations Development Programme Eurasia: New alimony law brings relief to Uzbek women, 5. August 2019
https://undpeurasia.medium.com/alimony-law-women-uzbekistan-279c365b1ef6
Anhang: Informationen aus ausgewählten Quellen
· Bureau for Human Rights and Rule of Law/Women's Rights Coalition: Report for 78th Pre-Sessional Working Group on Uzbekistan, 2020
https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/UZB/INT_CEDAW_NGO_UZB_42641_E.pdf
„Polygamy, early marriages, forced marriages are becoming increasingly normalized due to the policies of government picturing the main role of women as a marriage. Women are forced to agree to the status of the second and third wife as the stigma around single or divorced women is very strong in society. […]
Authorities are not taking any attempts to combat discrimination and misogyny. Moreover, they participate in creating video content stigmatizing women. In December 2019, the Ministry of Justice launched a video illustrating the ruining of a child’s world and life when a woman divorces her husband.” (Bureau for Human Rights and Rule of Law/Women's Rights Coalition, 2020, S. 2-3)
· Dawletowa, Nasima: Women of Uzbekistan: Empowered on Paper, Inferior on the Ground, Juli 2019
https://centralasiaprogram.org/wp-content/uploads/2019/07/Davletova-CAP-Paper-223-July-2019.pdf
„The Family Code prescribes equality between married couples in terms of property ownership. That being said, legal nuances—combined with traditional views—usually leave women with no right to real estate after a divorce. Claims to ownership of living space and other property during or after marriage are perceived as shameful and are often condemned by relatives and the community. This presents an obstacle for a woman who seeks a divorce from an abusive husband. […]
Article 2 of the Family Code says that women and men have equal rights in families. However, the reality for women is far from equality. The unspoken rule in mahallas is that divorce rates should be brought down—and women have become instruments for imposing this rule. According to unofficial data, in the majority of cases, the mahalla declines to give its permission for an individual to file for divorce. The divorce procedure is part of communal life, not a personal decision, and is informally administered by the mahalla. Civil Registry Offices or courts do not accept applications for divorce unless the petitioners bring a document from the mahalla approving the divorce and affirming that the couple has undergone a conciliatory commission at the municipal body. This is in spite of the fact that, according to lawyer Lenara Hikmatova, the court has no legal mandate to refuse to accept an application, nor does the mahalla have any authority to withhold its consent. Another incompatibility between law and practice is that in the event that a couple fails to reconcile, the court should appoint a reconciliatory term of up to 6 months. In practice, couples get the term from the mahalla, as they are not able to apply directly to the court for a divorce. Such terms may be appointed several times. The gender aspect of discrimination is that women are often shamed publicly during these reconciliation sessions and are forced to remain in the marriage, sometimes at the expense of their physical and mental health, and even their lives. Physical violence committed against a female spouse is not usually considered to be a valid reason for divorce; members of reconciliatory commissions apply victim-blaming techniques to deprive abused wives of divorces. Meanwhile, the official number of divorces was 32,000 in 2017 and continues to grow. […]
According to unofficial data, however, the number of illegal nikah marriages (Islamic religious marriage, which allows polygamy for men) reaches into the hundreds of thousands. Economic hardship, lack of education among women, insufficient social protection, and general prejudices against divorced women, especially those with children, push women to seek a nikah marriage. It is widely believed that it is much better to have to ‘share a man’ than to live alone or—even worse—return to one’s parents’ house. “ (Dawletowa, Juli 2019, S. 5-6)
· Dawletowa, Nasima: Women’s Question in Uzbekistan: Rationalizing Traditions, 3. September 2021
https://cabar.asia/en/women-s-question-in-uzbekistan-rationalizing-traditions
„According to some reports, there have been informal restrictions on official divorce for a long time. Semi-formal procedures were carried out by the local mahalla committees (a self-government body, from 2020 elevated to the status of the mahalla and family ministry), which were supposed to issue a certificate for further judicial dissolution of marriage, although there was no legal basis for this. In turn, there were so-called conciliation commissions in mahallas, which in most cases put pressure on women in order to keep the family alive. In rural areas, such commissions consisted of women activists from the mahalla and otyn (atyn, a female religious Islamic title), who reconciled spouses in most cases, sometimes despite the objective danger to the life and health of a woman. Conciliation commissions have been abolished, but the practice of reconciliation with the aggressor, while not coercive, is still considered the most acceptable and desirable. Obviously, attempts at reconciliation and fixation on the preservation of families are associated not only with ephemeral concepts of national values. Women who traditionally have a lower socioeconomic status and rarely have their own housing are a socially vulnerable category of people not only for their families, but also for the state. Given the general economic situation in the country and the high level of unemployment, as well as the low representation of women in higher education and more profitable positions, divorce (loss of an official place of residence and running a joint household with her husband) will automatically mean a large number of women are included in the socially vulnerable categories.“ (Dawletowa, 3. September 2021)
· Kun.uz: Divorce cases sharply rise in Uzbekistan, 7. Juli 2021
https://kun.uz/en/news/2021/07/07/divorce-cases-sharply-rise-in-uzbekistan
„Earlier, the Gender Commission of Uzbekistan conducted a study on the harm caused to society as a result of divorces. The study found that the majority of divorced women had the following problems:
- the dwelling problem;
- children grow up without fatherly care. Of the 51 women surveyed, 44 had a total of 70 children, and 99% of them did not see their father at all;
- divorced women are ill-treated in society: intimate relationships are offered, they are refused to rent a house.“ (Kun.uz, 7. Juli 2021)
· UNDP Eurasia- United Nations Development Programme Eurasia: New alimony law brings relief to Uzbek women, 5. August 2019
https://undpeurasia.medium.com/alimony-law-women-uzbekistan-279c365b1ef6
„Many who apply for divorce or alimony have to travel frequently to the courthouse — sometimes dozens of kilometers away — just to submit documents. Time off work and money required for travel can be especially hard on single mothers, not to mention the public shame they often feel at the courthouse.“ (UNDP Eurasia, 5. August 2019)