Amnesty International Report 2020/21; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Ungarn 2020

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Ungarn

STAATSOBERHAUPT

János Áder

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Viktor Orbán

Stand:
 

1/2021

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Frauen und Transpersonen wurden 2020 im Gesetz und in der Praxis diskriminiert. Asylsuchenden wurde der sichere Zugang an den Grenzen verwehrt und sie wurden abgeschoben. Gesetzesänderungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungfreiheit ein. Die Regierung untergrub weiterhin die richterliche Unabhängigkeit und das öffentliche Vertrauen in die Justiz.

Hintergrund

Im März 2020 verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf zum Schutz vor der Corona-Pandemie (Gesetzentwurf T/9790). Das Gesetz erweiterte die Befugnisse der Regierung per Dekret zu regieren, indem es sie von der parlamentarischen Kontrolle entband, ohne diese Befugnisse zeitlich klar zu begrenzen. Der Gesetzentwurf wurde Mitte Juni zwar durch einen anderen abgelöst, doch die Regierung hielt eine Reihe von Übergangsbefugnissen aufrecht, die Einschränkungen der Menschenrechte, wie das Recht auf Versammlungsfreiheit, sowie eine Beschränkung des Zugangs zu Asyl ermöglichten.

Im September 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren ersten Rechtsstaatlichkeitsbericht, in dem die Behörde ernsthafte Bedenken mit Blick auf Ungarn äußerte.

Die richterliche Unabhängigkeit war auch 2020 durch Angriffe hoher Regierungsangehöriger in Gefahr. Sie stellten richterliche Entscheidungen in den Medien und offiziellen Kommunikationskanälen der Regierung in Frage und verzögerten damit ihre Umsetzung. Gegen die allmähliche Aushöhlung der institutionellen Unabhängigkeit der Justiz wurde nichts unternommen. Dadurch herrschte unter den Richter_innen weiterhin Angst vor Repressalien durch die Exekutive.

Diskriminierung

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI)

Im Mai 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die offizielle Anerkennung der gewünschten Geschlechtsidentität von Transpersonen und intergeschlechtlichen Menschen untersagt. Das Gesetz schreibt vor, dass das Geschlecht bei der Geburt auf der Grundlage biologischer Geschlechtsmerkmale und der Chromosomen bestimmt werden muss und später nicht mehr geändert werden kann. Das heißt, transgeschlechtliche Menschen können ihr Geschlecht in offiziellen Dokumenten und Zeugnissen nicht mehr ändern, um es mit ihrer Geschlechtsidentität in Einklang zu bringen. Diese Maßnahmen verstoßen gegen die international anerkannten Rechte auf Menschenwürde und Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie gegen das Diskriminierungsverbot.

Im Juli 2020 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Ungarn das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eines Transmanns aus dem Iran verletzt habe. Er war in Ungarn wegen der Verfolgung aufgrund seiner Geschlechtsidentität als Flüchtling anerkannt worden, doch die Behörden weigerten sich, sein Geschlecht und seinen Namen rechtlich anzuerkennen.

Im Dezember 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen das Recht auf Adoption verwehrt. Gleichzeitig führte das Parlament diskriminierende Verfassungszusätze ein, die festschreiben, dass "die Mutter eine Frau und der Vater ein Mann ist" und dass das Geschlecht eines Menschen zum Zeitpunkt der Geburt zu definieren ist und nicht geändert werden kann.

Frauenrechte

Im Mai 2020 bestätigte das höchste Gericht Ungarns, die Kúria, dass die Entbindungsstation eines Krankenhauses der Stadt Miskolc schwangere Romnija aus unterprivilegierten und finanziell schwachen Haushalten diskriminere, weil es die Geburtsbegleiter_innen zwang, aus hygienischen Gründen "Geburtskleidung" zu kaufen und zu tragen. Dies führte dazu, dass viele der betroffenen Romnija ohne ihre Geburtsbegleiter_innen gebären mussten. Das Gericht ordnete die Beendigung dieses Vorgehens an.

Geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsplatz und auf dem Arbeitsmarkt traf insbesondere schwangere Frauen und Frauen mit kleinen Kindern, die wieder arbeiten wollten. Die Behörden stellten keinen Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen sicher, um gegen eine rechtswidrige Entlassung vorgehen zu können.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Im Mai 2020 verabschiedete das Parlament eine politische Erklärung, in der die Regierung aufgefordert wurde, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) nicht zu ratifizieren, obwohl Ungarn die Konvention 2014 unterzeichnet hatte.

Recht auf Bildung

Im Januar 2020 startete die Regierung eine Kommunikations- und Medienkampagne, um 63 Rom_nja, die als Kinder eine Grundschule in der Stadt Gyöngyöspata besucht hatten, zu diskreditieren. Diese hatten zuvor ein von ihnen angestrengtes Gerichtsverfahren gegen die segregierte und qualitativ schlechtere Schulbildung für Rom_nja gewonnen. Trotz der Regierungskampagne bestätigte die Kúria im Mai 2020, dass die Entschädigung, die den 63 Betroffenen zugesprochen worden war, umgehend in voller Höhe zu entrichten sei.

Im März 2020 äußerte sich der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mit großer Sorge über die anhaltende Segregation von Rom_nja-Kindern in Sonderschulen, das immer weiter auseinanderklaffende Bildungsniveau von Rom_nja- und Nicht-Rom_nja-Kindern sowie die fehlenden Daten zu Rom_nja-Kindern im Bildungssystem.

Im September 2020 trat in den Grund- und weiterführenden Schulen ein neuer nationaler Lehrplan in Kraft, obwohl er ohne breite öffentliche Konsultation und gegen umfassende Proteste der Lehrenden verabschiedet worden war.

Zwischen September und November 2020 besetzten Studierende der Universität für Theater- und Filmwissenschaften in der Hauptstadt Budapest ihre Fakultät, um gegen die neue Universitätsleitung, eine regierungsnahe Stiftung, zu protestieren. Ihrer Einschätzung nach hätte dies eine Einschränkung der akademischen Freiheit zur Folge. Mehrere bekannte Lehrende verließen die Universität.

Im Oktober 2020 kam der Europäische Gerichtshof (EuGH) zu dem Schluss, dass Ungarn mit den Änderungen des Gesetzes zur Hochschulbildung im Jahr 2017 gegen die EU-Vorschriften zur akademischen Freiheit verstoßen hatte. Diese Gesetzesänderungen zwangen die Privatuniversität Central European University zum Verlassen des Landes.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Ein im März 2020 verabschiedeter Gesetzentwurf erhöhte die Strafen für das Verbrechen "Verbreitung und Weitergabe falscher Informationen" mit Bezug auf die Corona-Pandemie und die Antwort der Regierung darauf. Es führte die Straftat der Behinderung der Durchsetzung einer Quarantäne oder Isolierungsanordnung ein.

Mitte Juni 2020 wurden Übergangsbestimmungen verabschiedet, die die anzuwendenden Vorschriften während eines "medizinischen Ausnahmezustands" reformierten und der Regierung die Möglichkeit einräumten, die Rechte auf Bewegungsfreiheit und friedliche Versammlung einzuschränken.

Ebenfalls im Juni urteilte der EuGH, dass die Einschränkungen der Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen durch ausländische Geldgeber_innen durch das Gesetz über die Transparenz von aus dem Ausland finanzierten Organisationen gegen die EU-Gesetzgebung verstoße.

Im Juli 2020 traten die Redaktion und fast 100 angestellte Journalist_innen von Index, dem größten unabhängigen Online-Nachrichtenportal, zurück und reagierten damit auf die Entlassung ihres Chefredakteurs. Die Redakteur_innen hatten öffentlich verkündet, dass ihre Unabhängigkeit in Gefahr sei, da die Werbeabteilung durch einen Medienmanager mit engen Verbindungen zur Regierung übernommen worden war.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migrant_innen

Die Regierung verlor drei Gerichtsverfahren wegen Verstößen gegen internationale Verpflichtungen. Im April 2020 entschied der EuGH, dass Ungarn gegen die EU-Gesetzgebung verstoßen habe, indem sich das Land geweigert hatte, an der Umverteilung von Asylsuchenden aus Griechenland und Italien teilzunehmen, die im Rahmen eines verpflichtenden Programms festgelegt worden war.

Im Mai 2020 entschied das Gericht, dass Ungarns automatische Inhaftierung von Asylsuchenden in den als "Transitzonen" bekannten Hafteinrichtungen an der Grenze gegen EU-Recht verstoße. Als Gründe nannte das Gericht, dass die Haftmaßnahmen unverhältnismäßig seien und vor Gericht nicht angefochten werden könnten. Außerdem werde die festgelegte Höchstdauer einer Inhaftierung häufig überschritten. Die Regierung protestierte erst gegen das Urteil, räumte dann aber noch im selben Monat diese Haftzentren.

Im Juni 2020 wurden neue Vorschriften eingeführt, die das Recht auf Asyl stark einschränkten. Vorübergehende Maßnahmen, die auch vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge kritisiert wurden, schafften die Möglichkeit ab, Asylanträge in Ungarn einzureichen und verlangten stattdessen von Flüchtenden die Einreichung einer "Absichtserklärung" bei ausgewählten Botschaften außerhalb des Landes. Zu Ende des Jahres war nur eine Handvoll dieser Erklärungen bei den Asylbehörden registriert und nur einer Familie wurde die Einreise nach Ungarn gestattet, um einen Asylantrag zu stellen. Im Oktober leitete die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein und begründete ihren Schritt mit der Rechtswidrigkeit dieser Einschränkungen.

Asylsuchenden wurde ihr Recht auf sicheren Zugang nach Ungarn weiterhin verweigert, gleichzeitig wurden alle Einreisenden ohne regulären Aufenthaltsstatus – überwiegend aus Serbien – abgeschoben, häufig in Sammelverfahren. Ende 2020 hatte die Polizei in Form von Push-Backs mehr als 30.000 Personen hinter den Grenzzaun zurückgeschoben und verstieß damit gegen die Verpflichtung, die Gefahr des Refoulement, die Rückführung von Menschen in Länder, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, individuell zu prüfen. Im Dezember entschied der EuGH, dass solche Rückführungen gegen EU-Recht verstoßen.

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