Amnesty International Report 2020/21; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Russland 2020

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Russische Föderation

STAATSOBERHAUPT

Wladimir Putin

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN

Michail Mischustin (löste im Januar 2020 Dmitri Medwedew im Amt ab)

Stand:
 

1/2021

Die Corona-Pandemie machte die chronische Unterfinanzierung des russischen Gesundheitswesens deutlich. Die Behörden nutzten sie als Vorwand, um weiter hart gegen jede Form von Kritik vorzugehen, unter anderem durch die Änderung eines vage formulierten Gesetzes über "Falschinformationen" und weitere Einschränkungen für öffentliche Versammlungen. Friedlich Demonstrierende, Menschenrechtsverteidiger_innen sowie gesellschaftliche und politische Aktivist_innen wurden inhaftiert und strafrechtlich verfolgt. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas verschärfte sich. Folter war weiterhin an der Tagesordnung und blieb in aller Regel straffrei. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde routinemäßig verletzt, und mehrere Gesetzesänderungen untergruben die Unabhängigkeit der Justiz noch mehr. Während des Corona-Lockdowns nahmen Berichte über häusliche Gewalt stark zu, gleichzeitig blockierte das Parlament noch immer einen Gesetzentwurf zu häuslicher Gewalt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) waren weiterhin Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Tausende Arbeitsmigrant_innen verloren während der Pandemie ihren Arbeitsplatz, konnten aber auch nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, weil die Grenzen geschlossen waren. Es tauchten Beweise auf, die den Vorwurf bestätigten, dass russische Streitkräfte in Syrien Kriegsverbrechen verübten.

Hintergrund

Fallende Ölpreise, schwindende Investitionen und ausländische Sanktionen trugen 2020 zu einem wirtschaftlichen Abschwung bei, der sich durch die Corona-Pandemie noch verschärfte und für eine fortschreitende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten sorgte. Die allgemeine Unzufriedenheit wuchs, und Protestaktionen nahmen langsam, aber stetig zu. Es gab eine steigende Zahl von Korruptionsvorwürfen gegen staatliche Stellen auf allen Ebenen, die von der Regierung jedoch ignoriert wurden. Die Maßnahmen, die Präsident Wladimir Putin und seine Regierung als Reaktion auf die Corona-Krise ankündigten, wie bezahlte arbeitsfreie Tage für alle Arbeitnehmer_innen, gingen an den wirklichen Problemen der Bevölkerung vorbei.

2020 gab es mehrere Verfassungsänderungen, die ganz offensichtlich dazu dienten, Präsident Putin eine Kandidatur bei künftigen Präsidentschaftswahlen zu ermöglichen.

Russland übte weiterhin starken Einfluss auf seine unmittelbaren Nachbarstaaten aus und hielt die Besetzung der Krim und anderer Gebiete aufrecht.

Recht auf Gesundheit

Die Corona-Pandemie stellte eine zusätzliche Belastung für das russische Gesundheitssystem dar und machte dessen chronische Unterfinanzierung deutlich. Berichten zufolge mangelte es im ganzen Land an Krankenhausbetten, Schutzausrüstung, medizinischen Geräten und Medikamenten. Außerdem hieß es, die Gehälter des Personals im Gesundheitswesen würden häufig verspätet ausgezahlt. Offizielle und unabhängig erhobene Angaben zu Infektions- und Sterblichkeitsraten wichen stark voneinander ab, was darauf hindeutete, dass die Regierung zu niedrige Zahlen angab.

Gesundheitspersonal

Beschäftigte im Gesundheitswesen oder in anderen Bereichen, die als Whistleblower agierten, mussten mit Disziplinarmaßnahmen und strafrechtlicher Verfolgung wegen Verbreitung von "Falschinformation" sowie mit anderen Repressalien rechnen.

Die Ärztin Tatyana Revva war Repressalien ausgesetzt und wurde mit Entlassung bedroht, weil sie sich wiederholt über den Mangel an Schutzausrüstung und deren Unzulänglichkeit beklagt hatte. Nachdem der Chefarzt der Klinik eine Beschwerde eingereicht hatte, überprüfte die Polizei den gegen Tatyana Revva erhobenen Vorwurf der Verbreitung von "Falschinformationen" und ließ ihn fallen.

Haftbedingungen

Die Gesundheitsversorgung und die sanitären Anlagen in den Strafvollzugsanstalten waren nach wie vor mangelhaft, und durch die Corona-Pandemie wurde die Situation noch verschlimmert. Die Behörden setzten zwar Kontroll- und zusätzliche Hygienemaßnahmen um, taten aber nichts, um die Belegung der Gefängnisse zu verringern. Unabhängige Beobachter_innen bewerteten die offiziellen Zahlen zu Corona-Infektionen in Haftanstalten als unglaubwürdig.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Das Recht auf Versammlungsfreiheit war weiterhin eingeschränkt und wurde im Dezember 2020 durch restriktive Maßnahmen weiter beschnitten. Mit Verweis auf die Pandemie wurden die Auflagen für öffentliche Versammlungen und Mahnwachen von Einzelpersonen verschärft, in einigen Regionen wurden sie ganz verboten. Öffentliche Proteste umfassten in der Regel nur wenige Teilnehmer_innen, fanden aber ungeachtet aller Repressalien regelmäßig statt. Die Zahl der Einzelpersonen, die wegen einer Mahnwache festgenommen und strafrechtlich verfolgt wurden, stieg stark an.

Am 15. Juli 2020 nahmen die Sicherheitskräfte in Moskau mehr als 100 Demonstrierende willkürlich fest, die friedlich gegen Verfassungsänderungen protestierten. Mindestens drei wurden von der Polizei brutal geschlagen. Dutzende Protestierende wurden mit hohen Geldstrafen belegt oder für fünf bis 14 Tage inhaftiert.

Am 9. Juli wurde Sergej Furgal festgenommen, der 2018 die Wahl zum Gouverneur der fernöstlichen Provinz Chabarowsk gegen den kremlfreundlichen Kandidaten gewonnen hatte. Seine Festnahme führte zu wöchentlichen friedlichen Massenprotesten in Chabarowsk sowie zu Solidaritätskundgebungen in ganz Russland. Anders als erwartet, durften Zehntausende zunächst mehrfach in Protestzügen durch die Stadt Chabarowsk marschieren, ehe die Polizei am 18. Juli mit Festnahmen begann. Am 10. Oktober 2020 löste die Polizei die Proteste dann zum ersten Mal auf und nahm mindestens 25 Personen fest, von denen mindestens fünf später zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Proteste in Chabarowsk fanden auch am Jahresende noch immer regelmäßig statt.

Im Dezember 2020 wurde der friedliche Demonstrant Konstantin Kotov freigelassen, der 2019 wegen "wiederholter Verletzung" von Vorschriften für öffentliche Versammlungen inhaftiert worden war. Im Januar 2020 hatte das Verfassungsgericht eine Überprüfung seines Falls angeordnet, und im April hatte das Moskauer Stadtgericht seine Strafe von vier Jahren auf 18 Monate herabgesetzt. Zu den weiteren Aktivist_innen, die wegen desselben Vergehens strafrechtlich verfolgt wurden, zählten Yulia Galyamina, die im Dezember zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde, Vyacheslav Egorov, gegen den in Kolomna ein Gerichtsverfahren eröffnet wurde, sowie Aleksandr Prikhodko aus Chabarowsk, dessen Anklage im Dezember fallengelassen wurde.

Die Polizei ging routinemäßig mit unnötiger und exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, und sie ließ zu, dass andere die Protestierenden gewaltsam angriffen. In Baschkortostan wurden friedliche Umweltaktivist_innen, die sich gegen ein Bergbauvorhaben am "heiligen" Berg Kuschtau wehrten, wiederholt von privaten Sicherheitsdiensten angegriffen, die gelegentlich mit der Polizei zusammenarbeiteten und keine Bestrafung befürchten mussten. Am späten Abend des 9. August 2020 griffen etwa 30 private Sicherheitsleute und etwa 100 maskierte Männer ein Camp von zehn Umweltaktivist_innen an. Die Polizei wurde gerufen, griff aber nicht ein. Der Vorfall löste weitere Proteste vor Ort aus, die dazu führten, dass das Bergbauprojekt Ende August eingestellt wurde.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung war nach wie vor eingeschränkt. Am 1. April 2020 wurde ein Gesetz aus dem Jahr 2019 geändert, das "Falschinformationen" unter Strafe stellt. Die neuen Bestimmungen verbieten es, "wissentlich Falschinformationen über Ereignisse zu verbreiten, die eine Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung darstellen, und/oder über Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung". Einzelpersonen drohen bis zu fünf Jahre Haft, wenn die Verbreitung der Information zu einer Körperverletzung oder zum Tod eines Menschen führt, für Medien sind hohe Geldstrafen vorgesehen. Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden Hunderte Menschen in Verwaltungsverfahren zu Geldstrafen verurteilt, und gegen mindestens 37 Personen wurden Strafverfahren eingeleitet. Bei den Betroffenen handelte es sich zumeist um zivilgesellschaftliche Aktivist_innen, Journalist_innen und Blogger_innen. Gegen mindestens fünf Medienunternehmen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Die Zeitung Nowaja Gaseta und ihr Chefredakteur wurden im August und im September 2020 wegen Berichten über Corona zu Geldstrafen verurteilt und angewiesen, die entsprechenden Artikel im Internet zu löschen.

Journalist_innen

Journalist_innen wurden weiterhin schikaniert, strafrechtlich verfolgt und tätlich angegriffen. Am 30. Juni 2020 attackierten Polizisten in einem Wahllokal in Sankt Petersburg den Reporter David Frenkel und brachen ihm den Arm. Am 15. Oktober wurde Sergej Plotnikov, ein Journalist aus Chabarowsk, von maskierten Männern entführt, in den Wald getrieben, geschlagen und einer Scheinhinrichtung unterzogen. Nach seiner Freilassung zeigte er den Vorfall bei der Polizei an, doch bis zum Jahresende war ihm nicht mitgeteilt worden, dass Ermittlungen eingeleitet worden wären.

Die Journalistin Irina Slavina aus Nischni Nowgorod wurde regelmäßig von den Behörden schikaniert. Am 1. Oktober 2020 wurde ihre Wohnung durchsucht, und die Polizei lud sie als Zeugin in einem Strafverfahren gegen einen örtlichen Aktivisten vor, der auf Grundlage des Gesetzes über "unerwünschte Organisationen" angeklagt war. Am 2. Oktober starb sie, nachdem sie sich vor der regionalen Vertretung des Innenministeriums aus Protest selbst angezündet hatte.

Am 6. Juli verurteilte ein Militärgericht in Pskow die Journalistin Svetlana Prokopieva wegen "öffentlicher Rechtfertigung von Terrorismus" zu einer Geldstrafe von 500.000 Rubel (etwa 5.500 Euro). Sie hatte in einem Kommentar geäußert, dass möglicherweise die repressive Politik einen 17-Jährigen dazu motiviert haben könnte, sich vor einem Gebäude des Inlandsgeheimdienstes in Archangelsk in die Luft zu sprengen.

Internet

Das Internet wurde 2020 nach wie vor zensiert. Im Juni 2020 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Vladimir Kharitonov gegen Russland und in drei weiteren Fällen, dass die Maßnahmen zur Sperrung des Internets "exzessiv und willkürlich" seien und das Recht auf Erhalt und Weitergabe von Information verletzten. Im August verurteilte ein Moskauer Gericht das Unternehmen Google zu einer Geldstrafe von 1,5 Mio. Rubel (etwa 16.400 Euro) und im Dezember zu einer Geldstrafe von 3 Mio. Rubel (etwa 33.000 Euro), weil die Suchmaschine "gefährliche Inhalte" auflistete, die die russischen Behörden verboten hatten. Im Dezember 2020 unterzeichnete Präsident Putin ein Gesetz zur Einführung von Sanktionen gegen ausländische Internetplattformen, die russische Medieninhalte blockieren. Ein weiteres im Dezember verabschiedetes Gesetz führte Haftstrafen für Verleumdungen im Internet ein.

Unterdrückung Andersdenkender

Oppositionelle und andere kritische Stimmen waren harten Repressalien ausgesetzt. Im Januar 2020 froren die Behörden im Zuge des politisch motivierten Strafverfahrens gegen den Antikorruptionsfonds des Oppositionsführers Alexej Nawalny 126 Bankkonten von Unterstützer_innen ein und leiteten anschließend straf- und zivilrechtliche Verleumdungsverfahren gegen ihn und andere ein. Am 20. August 2020 klagte Alexej Nawalny auf einem Flug von Tomsk nach Moskau plötzlich über heftige Übelkeit. Er wurde umgehend in ein Krankenhaus eingeliefert und später nach Deutschland geflogen, wo man eine Vergiftung mit dem militärischen Nervengift Nowitschok diagnostizierte. Die russischen Behörden unternahmen nichts, um dem Vergiftungsvorwurf nachzugehen.

Der sibirische Schamane Aleksandr Gabyshev, der geschworen hatte, den Kreml von Putin zu "säubern", wurde am 12. Mai 2020 gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, weil er angeblich einen Corona-Test verweigert hatte. Nach Kritik im In- und Ausland wurde er am 22. Juli aus der Klinik entlassen.

Im Juni 2020 wurde der politische Blogger Nikolay Platoshkin wegen "Aufruf zu Massenunruhen" und "wissentlicher Verbreitung von Falschinformationen" unter Hausarrest gestellt, weil er einen friedlichen Protest gegen die Verfassungsänderungen geplant hatte.

Menschenrechtsverteidiger_innen

Schikanen, Strafverfahren und körperliche Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger_innen waren auch 2020 an der Tagesordnung.

Die Aktivistin Alexandra Koroleva aus Kaliningrad und der Aktivist Semyon Simonov aus Sotschi wurden unter Anklage gestellt, weil ihre NGOs willkürliche und hohe Geldstrafen nicht gezahlt hatten. Beiden drohte die Verhängung einer Freiheitsstrafe.

Die Journalistin Elena Milashina und die Anwältin Marina Dubrovina wurden am 6. Februar 2020 in einem Hotel in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny von einem Mob attackiert. Im März wurde eine formelle Untersuchung dazu eingeleitet, die aber ohne Ergebnis blieb. Währenddessen äußerte der tschetschenische Republikchef Ramsan Kadyrow kaum verhohlene Morddrohungen gegen Elena Milashina, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Im Oktober 2020 begann das Berufungsverfahren des Menschenrechtsanwalts Mikhail Benyash gegen seine Verurteilung, die zu einem Berufsverbot führen könnte. Das Verfahren war am Jahresende noch nicht abgeschlossen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Gesetze zu "ausländischen Agenten" und "unerwünschten Organisationen" wurden dazu genutzt, unabhängige NGOs zu verleumden, ihnen die Finanzmittel zu entziehen und ihre Mitglieder streng zu bestrafen. Nach weiteren drakonischen Gesetzesänderungen, die im Dezember 2020 in Kraft traten, können jetzt auch Mitarbeiter_innen von NGOs, nicht registrierte Gruppen und Einzelpersonen als "ausländische Agenten" eingestuft werden.

Im April 2020 musste sich die Bildungsorganisation Projectoria als "ausländischer Agent" registrieren, um Geldstrafen zu vermeiden, während ihr ausländischer Geldgeber, das Project Harmony, für "unerwünscht" erklärt wurde.

Im Oktober 2020 wurde die Aktivistin Yana Antonova aus Krasnodar zu 240 Stunden Zwangsarbeit verurteilt, weil sie mit einer "unerwünschten Organisation" in Verbindung stand, Materialien der Menschenrechtsgruppe Offenes Russland im Internet veröffentlicht und Mahnwachen abgehalten hatte. Kurz darauf wurde sie in einem neuen Ordnungswidrigkeitenverfahren erneut zu einer Geldstrafe verurteilt.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas unter dem Vorwurf des "Extremismus" nahm zu, was sich an einer steigenden Zahl von Verurteilungen und längeren Haftstrafen zeigte. Dies betraf auch die besetzte Halbinsel Krim. Ende 2020 waren 362 Personen von Ermittlungen oder Gerichtsverfahren betroffen, gegen 39 waren Urteile ergangen, und sechs saßen in Haft. Einer von ihnen, Artem Gerasimov, wurde im Juni im Berufungsverfahren vom obersten De-facto-Gericht der Krim zu sechs Jahren Haft und einer Geldstrafe von 400.000 Rubel (etwa 4.400 Euro) verurteilt.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren noch immer allgegenwärtig, die dafür Verantwortlichen wurden aber nur äußerst selten zur Rechenschaft gezogen. Die Anklagen lauteten in der Regel auf "Amtsmissbrauch" und zogen milde Strafen nach sich.

Zwölf ehemalige Vollzugsbeamte der Strafkolonie Jaroslawl erhielten Haftstrafen von bis zu vier Jahren und drei Monaten, nachdem ein Video an die Öffentlichkeit gelangt war, das zeigte, wie ein Häftling im Jahr 2017 geschlagen wurde. Sechs der Vollzugsbeamten wurden unter Anrechnung der Untersuchungshaft sofort freigelassen. Der ehemalige Leiter der Kolonie und sein Stellvertreter wurden freigesprochen.

Unfaire Gerichtsverfahren

Auch 2020 wurde immer wieder gegen das Recht auf ein faires Verfahren verstoßen. Oft wurde den Inhaftierten der Kontakt zu ihrem Rechtsbeistand verweigert, und nach wie vor fanden zahlreiche Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, oft mit dem fadenscheinigen Hinweis auf die Corona-Pandemie.

Im Februar bzw. Juni 2020 wurden sieben junge Männer aus Pensa und zwei aus Sankt Petersburg wegen konstruierter Terrorismusvorwürfe zu Haftstrafen von bis zu 18 Jahren verurteilt. Sie sollen an einer nicht existierenden Organisation namens Netzwerk beteiligt gewesen sein. Zahlreiche Vorwürfe, die Folter und andere Misshandlungen sowie gefälschte Beweise betrafen, wurden ignoriert.

Verfassungs- und Gesetzesänderungen höhlten das Recht auf ein faires Verfahren weiter aus. So erhielt etwa der Staatspräsident die Befugnis, die Richter des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs zu nominieren und die Ernennung aller Bundesrichter sowie die Entlassung hochrangiger Bundesrichter zu veranlassen.

Terrorismusbekämpfung

Die Anti-Terror-Gesetzgebung wurde häufig missbraucht, um gegen Andersdenkende vorzugehen.

Der Journalist Abdulmumin Gadzhiev aus Dagestan wurde unter fingierten Vorwürfen der Terrorismusfinanzierung und der Beteiligung an terroristischen und extremistischen Organisationen weiter in Haft gehalten. Sein Prozess begann im November 2020.

Auf der besetzten Krim wurde der Vorwurf der Mitgliedschaft in der islamischen Organisation Hizb-ut-Tahrir, die 2003 von Russland als "terroristische" Bewegung eingestuft worden war, häufig herangezogen, um ethnische Krimtataren zu inhaftieren. Im Juni 2020 verlor der Krimtatar und Menschenrechtsverteidiger Emir-Usein Kuku das Rechtsmittelverfahren gegen seine Verurteilung zu zwölf Jahren Haft. Im September wurde Server Mustafayev, ein weiterer Menschenrechtsverteidiger von der Krim, zu 14 Jahren Haft verurteilt.

Im September 2020 wurden die Rechtsmittel von 19 Männern aus dem baschkirischen Ufa zurückgewiesen, die wegen angeblicher Hizb-ut-Tahrir-Mitgliedschaft zu Haftstrafen zwischen zehn und 24 Jahren verurteilt worden waren; für einen der Angeklagten wurde die Strafe um ein Jahr reduziert.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Gesetzentwürfe zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt wurden 2020 noch immer im Parlament blockiert, obwohl NGOs über einen starken Anstieg der häuslichen Gewalt während des Corona-Lockdowns berichteten.

Im Juni 2020 urteilte der EGMR im Fall Polshina gegen Russland, dass die Mängel im Rechtssystem bezüglich häuslicher Gewalt gegen das Verbot von Folter und Diskriminierung verstießen. Der Gerichtshof betonte, dass Russland es konsequent unterlassen habe, entsprechende Vorfälle zu untersuchen, und jahrelang ein Klima geduldet habe, das häusliche Gewalt befördere.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche waren weiterhin Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Verfassungsänderungen definierten die Ehe als "Verbindung zwischen Mann und Frau" und verfestigten damit die geltenden Einschränkungen für gleichgeschlechtliche Ehen und andere Beschränkungen, die zum Beispiel die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare betrafen.

Die Aktivistin Yulia Tsvetkova, die sich für die Rechte von LGBTI engagiert, wurde zu einer Geldstrafe von 75.000 Rubel (etwa 820 Euro) verurteilt, weil sie Zeichnungen zur Unterstützung gleichgeschlechtlicher Paare online gestellt hatte. Sie musste außerdem mit weiteren Strafen rechnen. Weil sie Zeichnungen veröffentlicht hatte, die weibliche Genitalien zeigten, war unter anderem eine Anklage wegen Pornografie gegen sie anhängig.

Rechte von Migrant_innen

Mehr als ein Drittel der ausländischen Arbeitsmigrant_innen verloren Berichten zufolge aufgrund der Corona-Pandemie ihre Arbeit, und Tausende saßen wegen Grenzschließungen in Russland fest. Ein Präsidialerlass lockerte im April 2020 die Bestimmungen bezüglich Arbeitserlaubnis und Aufenthalt von Migrant_innen und Flüchtlingen und setzte die Rückführungen ausländischer und staatenloser Personen vorübergehend aus. Einige Regionalbehörden verzichteten darauf, Migrant_innen zeitweise in Haft zu nehmen, doch wurden auch neue Beschlüsse zu Abschiebungen gemeldet

Rechtswidrige Luftangriffe

Zeugenaussagen, Videoaufnahmen, Fotos und Satellitenbilder von sieben Luftangriffen russischer Militärflugzeuge und vier weiteren Angriffen syrischer oder russischer Flugzeuge auf medizinische Einrichtungen und Schulen in Syrien zwischen Mai 2019 und Februar 2020 untermauerten den Vorwurf schwerer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die als Kriegsverbrechen einzustufen sind (siehe Länderkapitel Syrien).

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