Armenien 2019

Ehemalige hochrangige Beamt_innen wurden im Zusammenhang mit früheren Fällen von Machtmissbrauch festgenommen und strafrechtlich verfolgt, wobei Besorgnis über Druck von oben auf die Justiz laut wurde. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde nicht ratifiziert, obwohl die weite Verbreitung von geschlechtsspezifischer Gewalt allmählich anerkannt wurde. Das Parlament debattierte über einen Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz, doch standen sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht auf der Liste geschützter Gründe. Proteste von Umweltschützer_innen und Anwohner_innen zwangen die Behörden, den Bau einer Goldmine zu unterbrechen und sich zur Erstellung einer weiteren Studie über deren mögliche Auswirkungen zu verpflichten.

Hintergrund

Die Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan, die 2018 nach friedlichen Protesten ins Amt gekommen war, erhielt nach wie vor relativ große Unterstützung. Sie brachte eine engagierte Kampagne gegen im System verankerte Korruption ins Rollen und versprach eine "Übergangsjustiz", die sich Fällen von Machtmissbrauch durch die Vorgängerregierung widmen soll. In der jüngst veröffentlichten Antikorruptionsstrategie der Regierung wird die Einrichtung spezieller staatlicher Organe zur Bekämpfung der Korruption versprochen.

Justizsystem

Der frühere Staatspräsident Robert Kotscharjan wurde am 25. Juni zum dritten Mal festgenommen, nachdem man ihm 2018 den "Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung" sowie Bestechlichkeit zur Last gelegt hatte. Die Anklage erklärte, der frühere Präsident sei für die gewaltsame Auflösung der Proteste im März 2008 verantwortlich gewesen, die sich gegen die von der damaligen Opposition als gefälscht bezeichneten Wahlen gerichtet hatten und bei denen zehn Personen ums Leben gekommen waren. Robert Kotscharjan bezeichnete die Vorwürfe als unbegründet und politisch motiviert und warf der Regierung vor, unzulässigen Druck auf die Justiz auszuüben. Als das Gericht Robert Kotscharjan im Mai 2019 gegen Kaution freiließ, verlangte Premierminister Nikol Paschinjan eine umfassende Justizreform, kritisierte die Richter_innen öffentlich für ihre Entscheidung, Kotscharjan freizulassen, und forderte seine Anhänger_innen auf, Gerichtsgebäude zu blockieren. 

Auch andere hochrangige Regierungsangehörige wurden im Zusammenhang mit der gewaltsamen Auflösung der Proteste vom März 2008 sowie anderen angeblichen Fällen von Machtmissbrauch strafrechtlich verfolgt. Die Verfahren waren Ende 2019 noch nicht abgeschlossen.

Frauenrechte

2019 ermittelten die Behörden in mindestens 378 Fällen von häuslicher Gewalt. Nach der Verabschiedung des Gesetzes über häusliche Gewalt im Jahr 2017 standen die Behörden unter Druck, dem Problem mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Politisch engagierte armenische Bürger_innen erklärten allerdings, dass es bei häuslicher Gewalt nach wie vor eine hohe Dunkelziffer gäbe und die Behörden nicht genug Schutzräume für Betroffene bereitgestellt hätten. 

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), das Armenien 2018 unterzeichnet hat, war 2019 noch immer nicht ratifiziert worden. Die anhaltende und stark polarisierte Debatte über die Ratifizierung wurde von einer armenischen #MeToo-Bewegung begleitet, bei der armenische Frauen öffentlich ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt teilten. Die einflussreiche Armenische Apostolische Kirche widmete sich mit ganzer Kraft dem Widerstand gegen die Ratifizierung und behauptete, diese würde die "nationalen Traditionen" und "Werte" Armeniens gefährden, da das Übereinkommen "ein drittes Geschlecht neben dem weiblichen und dem männlichen definiert". Die Behörden bedienten sich einer Verzögerungstaktik, indem sie im Juli erklärten, sie suchten bei der Venedig-Kommission Rat bezüglich der "verfassungsmäßigen Auswirkungen" der Ratifizierung. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie Trans- und Intergeschlechtliche waren nach wie vor mit Schikanen und Diskriminierung konfrontiert. In der ersten Jahreshälfte 2019 dokumentierte eine armenische LGBTI-Gruppe 24 Fälle homophober und transphober Straftaten, darunter körperliche und häusliche Gewalt sowie Erpressung. 

Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sprach eine offen transgeschlechtliche Aktivistin – Lilit Martirosyan – während einer Anhörung über Menschenrechte vor dem Parlament. Sie hob hervor, welchen Herausforderungen sich Transgender in Armenien gegenübersehen, darunter das Ausbleiben von Ermittlungen zu transphoben Straftaten, und forderte das Parlament zum Handeln auf. Anschließend wurde sie öffentlich bedroht, unter anderem mit Mord, während LGBTI-Personen zunehmend mit transphoben und homophoben Hassreden konfrontiert waren. Ein Parlamentsabgeordneter rief öffentlich dazu auf, Lilit Martirosyan bei lebendigem Leib zu verbrennen. Die Behörden lehnten es ab, den Morddrohungen strafrechtliche Ermittlungen folgen zu lassen. 

Der Entwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz wurde diskutiert. LGBTI-Aktivist_innen verurteilten, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität darin nicht explizit unter den Gründen erwähnt werden, aufgrund deren vor Diskriminierung geschützt werden muss.

Recht auf eine gesunde und nachhaltige Umwelt

Die Proteste gegen den Abbau von Gold in Amulsar in Südarmenien, die 2018 mit einer Blockade der Zufahrtsstraße zur Mine begonnen hatten, setzten sich fort. Protestierende fochten die Ergebnisse des von der Regierung in Auftrag gegebenen Gutachtens über die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Projekts an. Obwohl Hunderte neuer Arbeitsplätze versprochen worden waren, waren Anwohner_innen sowie Umweltschützer_innen unvermindert besorgt über die potenziellen sozialen und ökologischen Schäden, darunter die negativen Auswirkungen auf ihre Lebensgrundlage aufgrund der zu erwartenden Verschmutzung des Mineralwassers von Jemuk, einem Kurort und wichtigen Touristenziel. Die Regierung erklärte, sie werde nach der Veröffentlichung des Gutachtens das Projekt weiter vorantreiben, revidierte jedoch später ihre Entscheidung und willigte ein, eine weitere Studie über die ökologischen Auswirkungen des Bergbauvorhabens anfertigen zu lassen.

Rechte von Menschen mit Behinderungen

Menschen mit Behinderungen waren nach wie vor mit Diskriminierung und anderen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Barrierefreiheit in Gebäuden und in öffentlichen Verkehrsmitteln blieb weiter ein Problem, obwohl Armenien 2010 das internationale Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert hat. 

Die Rechtsprechung erlaubte weiterhin, dass Personen mit geistigen Behinderungen die Geschäftsfähigkeit entzogen und stattdessen ein Vormund bestimmt wurde, der dann Entscheidungen für sie traf und sie unter anderem vor Gericht vertrat. Dies wurde von der Menschenrechtskommissarin des Europarats kritisiert. In einem von Verteidiger_innen der Rechte von Menschen mit Behinderungen begrüßten Schritt entschied ein Kassationsgericht in Jerewan in einem Fall von körperlicher Misshandlung einer Person mit einer geistigen Behinderung im Januar, dass Ermittler_innen und Gerichte Zeugenaussagen von Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von deren Geisteszustand ignorieren dürften.

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