Türkei 2019

Berichtszeitraum: 1. Januar bis 31. Dezember 2019

Das harte Durchgreifen gegen tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende wurde – trotz des Endes des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 – auch 2019 fortgesetzt. Tausende Menschen wurden in langer Untersuchungshaft mit Sanktionscharakter festgehalten, oft ohne glaubwürdige Beweise dafür, dass sie eine völkerrechtlich anerkannte Straftat begangen hatten. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt, und Personen, die als kritisch gegenüber der derzeitigen Regierung galten – vor allem Journalist_innen, politische Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen – wurden inhaftiert oder mit erfundenen Anklagen konfrontiert. Auch 2019 verboten die Behörden willkürlich Demonstrationen und wandten bei der Auflösung friedlicher Protestaktionen unnötige und unverhältnismäßige Gewalt an. Es gab glaubwürdige Berichte über Folter und Verschwindenlassen. Die Türkei schob syrische Flüchtlinge in ihr Herkunftsland ab, nahm aber noch immer mehr Flüchtlinge auf als jedes andere Land.

Hintergrund

Zwischen Januar und Mai 2019 schlossen sich Tausende von Gefangenen dem Hungerstreik der Parlamentsabgeordneten Leyla Güven an und forderten, dass der Führer der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, Besuche seiner Familie und seiner Rechtsbeistände erhalten darf. Die Hungerstreikenden und diejenigen, die Solidaritätsaktionen zu ihrer Unterstützung durchführten, wurden kriminalisiert und viele auf der Grundlage der Antiterrorismusgesetze strafrechtlich verfolgt.

Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Istanbul im März 2019 wurde nach dem Sieg des Kandidaten von der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), vom Obersten Wahlausschuss unter fadenscheinigen Gründen annulliert. Bei der Wiederholung der Wahl im Juni konnte der CHP-Kandidat sein Ergebnis noch verbessern. In 32 Gemeinden wurden gewählte Bürgermeister_innen der linksgerichteten pro-kurdischen HDP (Demokratische Volkspartei) mit zweifelhaften Begründungen aus dem Amt entfernt und durch nicht gewählte Beamt_innen ersetzt. Die Regierung berief sich auf laufende Ermittlungen wegen Terrorismusvorwürfen und entsprechende Strafverfolgungsmaßnahmen. Am Ende des Jahres befanden sich noch 18 der abgesetzten Bürgermeister_innen in Untersuchungshaft. 

Am 9. Oktober 2019 startete die Türkei eine Militäroffensive gegen kurdische Kräfte in Nordost-Syrien ("Operation Friedensquelle") mit dem erklärten Ziel, an der Grenze eine 32 Kilometer breite "Sicherheitszone" zu errichten. Während der Operation, die vom türkischen Militär zusammen mit verbündeten syrischen bewaffneten Gruppen durchgeführt wurde und am 22. Oktober endete, wurden nachweisbar Kriegsverbrechen begangen.

Im letzten Quartal 2019 verabschiedete das Parlament ein Justizreformpaket. Die Reformen trugen aber nicht dazu bei, die strukturellen Mängel der unter extremem politischem Druck stehenden Justiz zu beheben oder ungerechte und politisch motivierte Strafverfolgungsmaßnahmen und Schuldsprüche zu beenden.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Strafrechtliche Ermittlungen und Verfolgungsmaßnahmen nach den Antiterrorismusgesetzen sowie Untersuchungshaft mit Strafcharakter wurden weiterhin eingesetzt, um tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, die sich keiner nachweislich strafbaren Handlung schuldig gemacht hatten. Die Gerichte sperrten Online-Inhalte, und gegen Hunderte von Social-Media-Nutzer_innen wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Im August 2019 trat eine neue Bestimmung in Kraft, der zufolge Internet-Rundfunkplattformen Lizenzen beim Obersten Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) beantragen müssen. Der Inhalt der Plattformen wird vom RTÜK überwacht, was diesem breitere Zensurbefugnisse im Online-Bereich verschafft.

Mindestens 839 Social-Media-Konten wurden untersucht, weil über sie angeblich im Zusammenhang mit der "Operation Friedensquelle" stehende "kriminelle Inhalte" geteilt wurden. Hunderte von Menschen wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, und mindestens 24 kamen in Untersuchungshaft.

Journalist_innen 

Noch immer saßen Dutzende von Journalist_innen und anderen Medienschaffenden in Untersuchungs- oder Strafhaft. Einige der von Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen nach den Antiterrorismusgesetzen Betroffenen wurden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, und ihre friedliche journalistische Arbeit wurde als Beweis für eine Straftat dargestellt. 

Am 5. Juli 2019 hob das Oberste Berufungsgericht den erstinstanzlichen Schuldspruch gegen den Journalisten Ahmet Altan und die Journalistin Nazlı Ilıcak wegen "versuchten Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung" auf. Im November wurden sie in einem Wiederaufnahmeverfahren wegen "wissentlicher Unterstützung einer terroristischen Organisation ohne eigene Mitgliedschaft" zu Gefängnisstrafen von zehn Jahren und sechs Monaten bzw. acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Beide wurden am 4. November für die Zeit des Berufungsverfahrens freigelassen. Ahmet Altan wurde jedoch am 12. November erneut festgenommen, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen seine Freilassung Einspruch erhoben hatte. Ende des Jahres saß er noch immer in der Strafvollzuganstalt Silivri ein.

Auch Journalist_innen, die über Protestveranstaltungen berichteten, waren Einschüchterungen ausgesetzt. Zeynep Kuray und İrfan Tunççelik kamen am 10. Mai 2019 in Polizeigewahrsam, als sie über die Solidaritätskundgebungen für hungerstreikende Mitglieder der Demokratischen Volkspartei (HDP) im Gefängnis berichteten. Am 13. Mai wurden sie bis zum Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen auf Kaution freigelassen. Hakan Demir, der Online-Chef der Tageszeitung Birgün, und Fatih Gökhan Diler, der Chefredakteur der Nachrichtenwebsite Diken, wurden am 10. Oktober festgenommen, weil sie Artikel über die "Operation Friedensquelle" veröffentlicht hatten, die nichts strafrechtlich Relevantes enthielten und in denen auch nicht zu Gewalt aufgerufen wurde. Beide wurden noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt und bis zum Abschluss der Ermittlungen mit einem Ausreiseverbot belegt. Am 27. Oktober wurde die Anwältin und Kolumnistin Nurcan Kaya auf dem Flughafen von Istanbul festgenommen, weil sie in einem Tweet die "Operation Friedensquelle" kritisiert hatte und deshalb Ermittlungen wegen "Anstiftung zu Feindschaft oder Hass" gegen sie eingeleitet worden waren. Sie wurde am selben Tag wieder freigelassen, durfte aber bis zum Abschluss der Ermittlungen die Türkei nicht verlassen. 

Menschenrechtsverteidiger_innen

Dutzende von Menschenrechtsverteidiger_innen sahen sich mit strafrechtlichen Ermittlungen und Verfolgungen konfrontiert und wurden wegen ihrer Menschenrechtsarbeit in Polizeigewahrsam genommen oder in Haft gehalten.

Der Prozess gegen Taner Kılıç, Ehrenvorsitzender von Amnesty International in der Türkei, und İdil Eser, ehemalige Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, sowie neun weitere Menschenrechtsverteidiger_innen wurde 2019 auf Grundlage des unbegründeten Vorwurfs der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" fortgesetzt. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 15 Jahre Haft. 

Dem Intellektuellen Osman Kavala und 15 weiteren Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft wurde vorgeworfen, dass sie geplant hätten, "die Regierung zu stürzen bzw. sie von ihren Aufgaben abzuhalten", weil sie die Proteste im Gezi-Park 2013 "gelenkt" hätten. 

Im Falle einer Verurteilung droht ihnen eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung. Am Ende des Jahres befand sich Osman Kavala, der über zwei Jahre in Untersuchungshaft zugebracht hat, noch immer im Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Sein Mitangeklagter Yığıt Aksakoğlu wurde nach siebenmonatiger Haft nach seiner ersten Gerichtsverhandlung im Juni 2019 gegen Kaution freigelassen. 

Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin war weiter von Inhaftierung bedroht. Gegen Eren Keskin laufen derzeit mehr als 140 separate Strafverfahren wegen Artikeln, die sie als symbolische Chefredakteurin der inzwischen geschlossenen kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlichte. Im Oktober 2019 wurde ihr Haus durchsucht und sie wurde von Beamt_innen der Anti-Terror-Abteilung der Generaldirektion für Sicherheit – die Zentralbehörde der türkischen Polizei – in Istanbul vernommen, weil sie in Sozialen Medien Posts mit Kritik an der "Operation Friedensfrühling" geteilt hatte. 

Politiker_innen und Aktivist_innen 

Im Juli 2019 hob ein Verfassungsgericht die Urteile gegen zehn Akademiker_innen wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation" auf. Sie hatten im Jahr 2016 eine Friedenspetition unterzeichnet, in der unbefristete Ausgangssperren und Sicherheitsoperationen im Südosten der Türkei kritisiert wurden. Hunderte weitere Personen, die wegen Unterstützung dieser Petition vor Gericht standen, wurden nach dieser Entscheidung freigesprochen. Bei anderen hingegen wurde die Anklage aufrechterhalten, obwohl das Verfassungsgericht entschieden hatte, dass damit das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt werde.

Im September 2019 wurde der Lebensmittelingenieur und entlassene Wissenschaftler Dr. Bülent Şık wegen "Weitergabe geheimer Informationen" zu 15 Monaten Haft verurteilt. Er hatte eine Reihe von Artikeln über krebserregende Pestizide und andere Giftstoffe in landwirtschaftlichen Produkten und im Trinkwasser veröffentlicht. Sein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung war Ende des Jahres noch anhängig.

Die beiden ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Demokratischen Volkspartei (HDP) Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ blieben weiterhin inhaftiert. Ihre Verurteilung wegen Terrorismusverdachts stützte sich mangels glaubwürdiger Beweise weitgehend auf ihre öffentlichen Reden. Nach den Kommunalwahlen im März 2019 kamen 20 gewählte Bürgermeister_innen in Untersuchungshaft, die der HDP nahestehen.

Stattdessen wurden in den betroffenen Gemeinden regierungsnahe Vertrauenspersonen eingesetzt. 18 der Festgenommenen befanden sich am Ende des Jahres noch immer in Haft.

Im September 2019 wurde Canan Kaftancıoğlu, die Istanbuler Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP, wegen Terrorpropaganda, Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung und Beamtenbeleidigung zu neun Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt.

Versammlungsfreiheit

In mehreren Städten wurden pauschale Versammlungsverbote erlassen, ohne die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen individuell zu prüfen. Die Polizei löste eine Reihe friedlicher Proteste gewaltsam auf, und zahlreiche friedlich Demonstrierende waren mit strafrechtlichen Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen unter anderem wegen "Propaganda für eine terroristische Organisation", "Teilnahme an einer illegalen Versammlung" und "Widerstand gegen die Staatsgewalt" konfrontiert.

Mehrere Provinzgouverneure stützten sich auf die außerordentlichen Befugnisse gemäß einem nach der Beendigung des Ausnahmezustands erlassenen Gesetz, um das Recht auf friedliche Versammlung einzuschränken. 

Ein pauschales, zeitlich unbegrenztes Verbot aller Veranstaltungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI), das die Provinzverwaltung Ankara im November 2017 verhängt hatte, wurde im April 2019 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses aufgehoben. Daraufhin wurde jede LGBTI-Veranstaltung einzeln verboten. Die Pride Parade der Studierenden der Technischen Universität des Nahen Ostens (Orta Doğu Teknik Üniversitesi – ODTÜ) in Ankara im Mai wurde von der Universitätsleitung verboten und von der Polizei mit unnötiger und exzessiver Gewalt aufgelöst. Im Juni erließen auch die Provinzverwaltungen Izmir, Antalya und Mersin pauschale Verbote, um Veranstaltungen zur Pride-Woche zu verhindern. Die Istanbuler Pride Parade wurde zum fünften Mal in Folge verboten.

Im März 2019 verboten die Behörden den Marsch zum Internationalen Frauentag in Istanbul unmittelbar vor dem Beginn. Mit Tränengas und anderer unverhältnismäßiger Gewalt zerstreute die Polizei die Kundgebung Tausender friedlicher Teilnehmer_innen. Im November griff in Istanbul die Polizei Hunderte von Demonstrierenden, die sich zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen versammelt hatten, mit Tränengas und Plastikgeschossen an. In Izmir wurde gegen 25 Teilnehmer_innen einer Protestveranstaltung – auf der eine Choreographie des feministischen Kollektivs Las Tesis aufgeführt wurde, die sich von Chile aus in die ganze Welt verbreitet hatte – ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Dezember löste die Polizei einen ähnlichen Protest in Istanbul mit exzessiver Gewalt auf und nahm sechs Teilnehmer_innen fest, die am folgenden Tag wieder freigelassen wurden; in Antalya hinderte die Polizei etwa 100 Frauen daran, die Choreographie von Las Tesis aufzuführen.

Pauschal verboten wurden alle Solidaritätsveranstaltungen für die zwischen November 2018 und Mai 2019 in den Hungerstreik Getretenen sowie alle Proteste gegen die Amtsenthebung der gewählten Bürgermeister_innen und gegen die "Operation Friedensquelle". 

Für die friedlichen Versammlungen der "Samstagsmütter", einer Gruppe, die seit Mitte der 1990er Jahre auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul wöchentliche Mahnwachen für die Opfer des Verschwindenlassens abhielt, galt weiter das im August 2018 verhängte Verbot. Seit die Polizei damals den friedlichen Protest der Frauen mit Tränengas, Plastikgeschossen und Wasserwerfern aufgelöst hatte, werden auf diesem Platz keine Protestveranstaltungen mehr zugelassen. 

Auch 2019 wurden Universitätsstudierende wegen der Teilnahme an friedlichen Protesten strafrechtlich verfolgt. Unter ihnen waren 30 Studierende der Universität Boğaziçi in Istanbul, die friedlich gegen das militärische Vorgehen der Türkei im syrischen Afrin protestierten, und vier Studierende der Technischen Universität des Nahen Ostens (Orta Doğu Teknik Üniversitesi – ODTÜ) in Ankara, die auf einer Abschlussfeier eine Karikatur mit Präsident Erdoğan in Gestalt verschiedener Tiere gezeigt hatten. In beiden Fällen dauerten die 2018 begonnenen Strafverfolgungsmaßnahmen am Ende des Jahres noch an. Achtzehn Studierende und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der ODTÜ wurden wegen ihrer angeblichen Teilnahme an der verbotenen Pride Parade im Mai 2019 strafrechtlich verfolgt.

Recht auf Arbeit und Freizügigkeit

Mehr als 115.000 der insgesamt 129.411 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes – darunter Wissenschaftler_innen, Soldat_innen, Polizist_innen, Lehrer_innen und Ärzt_innen – die nach dem Putschversuch von 2016 willkürlich per Notverordnung entlassen worden waren, blieben von der Arbeit im öffentlichen Dienst weiter ausgeschlossen und erhielten keine Pässe. Viele von ihnen und ihre Familien leiden unter Mittellosigkeit und einer dramatischen gesellschaftlichen Stigmatisierung, da sie in den Vollstreckungsanordnungen als Personen mit Verbindungen zu "terroristischen Organisationen" aufgeführt wurden. Bevor die gegen die Suspendierungen eingelegten Rechtsmittel zur gerichtlichen Überprüfung zugelassen wurden, wurden sie durch eine dafür eingerichtete Untersuchungskommission geprüft. Von den 126.300 bei ihr eingegangenen Anträgen überprüfte die Kommission 98.300. Davon lehnte sie 88.700 ab. 

Unter Rückgriff auf das 2018 verabschiedete Gesetz Nr. 7145, das die Verlängerung der Entlassung aus dem öffentlichen Dienst um weitere drei Jahre ermöglicht (mit der gleichen vagen Begründung angeblicher Verbindungen zu "terroristischen Organisationen"), entließ der Rat der Richter und Staatsanwälte im Lauf des Jahres mindestens 16 Richter_innen und 7 Staatsanwälte. Dies stellte eine weitere Untergrabung der Unabhängigkeit und Integrität des Justizsystems dar.

Mehrere Fälle von Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst waren am Ende des Jahres noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig. Dazu gehörten die Fälle des Beamten Hamit Pişkin und der drei Wissenschaftler_innen Alphan Telek, Edgar Şar und Zeynep Kıvılcım. Sie waren nach der Unterzeichnung einer Petition, in der die Sicherheitsoperationen im Südosten der Türkei kritisiert wurde, aus dem öffentlichen Dienst entlassen und mit Passentzug bestraft worden.

Folter und andere Misshandlungen

Auch 2019 gab es glaubwürdige Berichte über Folter und andere Misshandlungen. 

Im osttürkischen Urfa wurden nach einem bewaffneten Zusammenstoß zwischen den Sicherheitskräften und der bewaffneten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) im Mai 2019 zahlreiche Personen festgenommen. Einige von ihnen gaben über ihre Rechtsbeistände bekannt, dass sie unter anderem mit Elektroschocks an den Genitalien gefoltert worden waren. 

Andere Rechtsbeistände berichteten, dass sich einige der ehemaligen Außenministeriumsmitarbeiter_innen, die im Mai 2019 in der Generaldirektion für Sicherheit von Ankara wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation, schwerem Betrug und Fälschung zu terroristischen Zwecken" festgehalten wurden, nackt ausziehen mussten und dass ihnen mit Vergewaltigung mit Schlagstöcken gedroht wurde. 

In beiden Fällen gaben die Rechtsbeistände an, dass ihre Mandant_innen nicht die Möglichkeit einer Untersuchung durch eine_n Ärzt_in ihres Vertrauens hatten. 

Verschwindenlassen

Im Februar 2019 verschwanden sechs Männer mit vermeintlichen Verbindungen zur Fethullah-Gülen-Bewegung. Fünf bis neun Monate später tauchten sie im Polizeigewahrsam wieder auf. Die Behörden gaben weder der Öffentlichkeit noch den Familien der Männer Informationen über die Umstände ihres Verschwindens oder darüber, wie fünf von ihnen Monate nach ihrem Verschwinden in die Antiterror-Abteilung des Polizeipräsidiums Ankara gelangen konnten und der sechste in das Polizeipräsidium in Antalya. Nach Angaben ihrer Angehörigen hatten die sechs Männer sehr stark an Gewicht verloren und waren blass und nervös. Berichten zufolge haben die Männer nicht erklärt, was ihnen in den Monaten ihres Verschwindens widerfahren ist. Nach bis zu zwölf Tagen in Polizeigewahrsam wurden sie alle ohne Wissen ihrer Rechtsbeistände oder Familien vor Gericht befragt und wegen Terrorismusvorwürfen in Untersuchungshaft genommen.

Schicksal und Verbleib eines siebten Mannes, Yusuf Bilge Tunç, der im August 2019 unter ähnlich verdächtigen Umständen verschwand, waren am Ende des Jahres noch ungeklärt. 

Flüchtlinge und Asylsuchende

Die Türkei nahm mit über 3,6 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und etwa 400.000 Flüchtlingen und Asylsuchenden aus anderen Ländern weiterhin mehr Zuflucht suchende Menschen als jedes andere Land auf. 

Im Jahr 2019 nahm die politische Polarisierung im Land zu und die wirtschaftlichen Aussichten verschlechterten sich. Diese Situation trug zu wachsender öffentlicher Kritik und Intoleranz gegenüber den syrischen Flüchtlingen bei, die sich mit immer mehr Problemen konfrontiert sahen. 
Das 2016 abgeschlossene EU-Türkei-Abkommen, das u.a. im Gegenzug für die Zusammenarbeit der Türkei bei der Verhinderung der Weiterflucht von Flüchtlingen und Asylsuchenden in die Europäische Union Finanzmittel für die Beherbergung von Flüchtlingen in der Türkei vorsieht, war weiterhin in Kraft. Bis zum 30. September 2019 waren von den insgesamt zugesagten 6 Milliarden Euro etwa 2,57 Milliarden Euro ausgezahlt worden. 

Zwischen Juli und Oktober 2019 wurden mindestens 20 Syrer_innen rechtswidrig in den Nordwesten Syriens abgeschoben, wo ihnen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohten. Es lagen keine offiziellen Schätzungen zur Zahl abgeschobener Personen vor, aber nach den bei Amnesty International eingegangenen Informationen wurden in diesem Zeitraum jeweils Dutzende von Menschen abgeschoben, was den Schluss zulässt, dass die Gesamtzahl der zurückgeführten Personen mindestens in die Hunderte ging. Berichten zufolge hat die türkische Polizei vor dem militärischen Einmarsch der Türkei in Nordost-Syrien im Oktober in die Türkei geflohene Syrer_innen geschlagen, bedroht oder irregeführt, um sie zur Unterzeichnung der Formulare für die "freiwillige Rückkehr" zu zwingen. Die Behörden verwahrten sich gegen Vorwürfe der Zurückweisung von Syrer_innen an der türkischen Grenze und erklärten ihrerseits, es seien insgesamt 315.000 Syrer_innen "freiwillig" zurückgekehrt.

Migrant_innen und Asylsuchende mussten auf den türkischen Flughäfen, wo sie weder Zugang zu einem Asylverfahren hatten noch Unterstützung erhielten, mit willkürlicher Inhaftierung und Zurückweisung rechnen. Im Januar 2019 wurde auf einem Istanbuler Flughafen ein Mann willkürlich festgenommen und nach Ägypten abgeschoben, wo er ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten wurde und mit seiner Hinrichtung rechnen musste. Im Mai wurde ein palästinensischer Asylsuchender aus Syrien auf dem neuen Flughafen von Istanbul mehrere Wochen lang willkürlich festgehalten, und es wurden Versuche unternommen, ihn in den Libanon abzuschieben, mit dem Risiko einer Kettenabschiebung nach Syrien.

Veröffentlichungen von Amnesty International

Turkey: 'Judicial reform' package is a lost opportunity to address deep flaws in the judicial system (EUR 44/1161/2019)

Turkey: 'We can’t complain’ – Turkey’s continuing crackdown on dissent over its military operation 'Peace Spring’ in northeast Syria (EUR 44/1335/2019

Turkey: A dark day for press freedom in politically-motivated trial injustice (News story, 12 November)

Turkey: Judicial farce must end with acquittal of human rights defenders (News story, 8 October)

Turkey: 700 days on, Osman Kavala must be released and charges against him and 15 others dropped (News story, 7 October)

Turkey: Charges against whistleblower who exposed public health dangers must be dropped (News Story, 25 September)

Turkey: Farcical criminal charges against students who celebrated Pride must be dropped (News story, 11 November)

Turkey: Hunger strikes – Rights violations faced by prisoners on hunger strikes and those protesting in solidarity (EUR 44/0835/2019

Turkey: Sent to a war zone – Turkey's illegal deportations of Syrian refugees (EUR 44/1102/2019
 
Turkey: Palestinian held in airport risks deportation – Mohamed Ajlani Younes (EUR 44/0670/2019

Associated documents