Anfragebeantwortung zu Marokko: Lage von alleinstehenden Frauen ohne familiäre Unterstützung: Schutz durch den Staat, insbesondere vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, Aufbau eines eigenständigen Lebens [a-11184]

3. Februar 2020

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten keine spezifischen Informationen zur Lage von alleinstehenden Frauen ohne familiäre Unterstützung gefunden werden. Wir haben daher mit der Fragestellung zwei Frauenrechtsorganisationen und eine Expertin kontaktiert. Im Falle einer Antwort werden wir Sie umgehend benachrichtigen.

Im Folgenden werden Informationen zu alleinstehenden Frauen in Marokko und Frauen in der marokkanischen Gesellschaft sowie zu staatlichem Schutz im Falle sexueller und (anderer) gewalttätiger Übergriffe zusammenfassend dargestellt.

Bitte beachten Sie auch unsere Anfragebeantwortungen vom 19.12.2019 zum Thema „Rückkehr für unverheiratete alleinstehende Frauen mit Kindern“ und „Verurteilungen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr; Nennung von konkreten Fällen“, die über www.ecoi.net zugänglich sind (siehe Quellenverzeichnis).

Gesellschaftliche Situation alleinstehender Frauen

In einem Bericht zu Gewalt gegen Frauen vom März 2018 beruft sich EuroMed Rights (EMHRN), ein Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, Menschenrechte und demokratische Reformen in Europa und dem Mittelmeerraum zu stärken, auf einen im Juli 2016 veröffentlichten Jahresbericht zu 2015 des Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes (ONVEF), das 2014 im marokkanischen Ministerium für Soziale Entwicklung, Familien und Solidarität eingerichtet wurde. Demnach seien unverheiratete Frauen in der marokkanischen Gesellschaft stigmatisiert und es bestehe für sie ein erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Da die Arbeitslosigkeit unter Frauen hoch sei, und die Zahl der Frauen mit Bildungsabschluss, die in den Arbeitsmarkt eintreten würden, sinke, seien sie außerdem anfälliger für Armut:

„Unmarried women are stigmatised in Moroccan society and run a higher risk of suffering sexual violence according to the ONVEF’s report. They are more vulnerable to poverty, given that unemployment is high among women and the number of female graduates entering employment is in decline.” (EMHRN, März 2018, S. 4-5)

Der oben von EMHRN erwähnte Bericht von ONVEF aus dem Jahr 2016 konnte nicht gefunden werden.

Der Jahresbericht von ONVEF aus dem Jahr 2015, vergleicht Daten von Klägerinnen, welche Fälle von (sexueller Gewalt) vor Gericht gebracht haben, aus den Jahren 2013 und 2014. Demnach betrafen 2014 mehr als die Hälfte aller sexuellen Übergriffe alleinstehende Frauen (781 Fälle, 53,6%), im Vergleich zu 20,19% verheirateten und 22,9% geschiedenen Frauen. 2013 wurden 862 der Klagen von unverheirateten, 242 von verheirateten und 319 von geschiedenen Frauen eingebracht:

„Réparties par l’état matrimonial, les agressions sexuelles touchent essentiellement les femmes célibataires. 781 (53,6%) femmes célibataires ont subi des violences sexuelles contre 293 (20,1%) femmes mariées et 333 (22,9%) femmes divorcées en 2014 (en 2013, 862 célibataires, 242 mariées et 319 divorcées).“ (ONVEF 2015, S. 22)

In einem Interview mit dem marokkanischen Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, das im Jänner 2018 auf der Webseite der Universitat Oberta de Catalunya (UOC) veröffentlicht wurde, äußert sich der Soziologe zu gesellschaftlichen Verhältnissen in Marokko. Während die Ehe in der westlichen Welt schwierige Zeiten durchmache, sei sie in Marokko nach wie vor sehr bedeutend, sie sei die Norm. Um sozial integriert und anerkannt zu werden, müsse man heiraten. Blieben sie unverheiratet, machten sich Männer verdächtig, für Frauen sei es unehrenhaft. Nach der Volkszählung von 2014 sei das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen 26 Jahre und für Männer 31:

“Marriage is experiencing difficult times in the Western world and yet in Morocco it continues to be very important. It is the norm. To be socially integrated and recognized, you need to marry. Staying single is suspicious for men and dishonourable for women. According to the 2014 national census, the average age for marriage is 26 for women and 31 for men.” (UOC, 9. Jänner 2018)

In einem Artikel über Frauengesundheit in Marokkos soziokulturellem Kontext der englischen Online-Zeitung The Maghreb Times vom August 2019 wird über Schwierigkeiten der Ausübung von Sexualität von unverheirateten Frauen berichtet. Frauen, die sich dazu entschließen würden unverheiratet Geschlechtsverkehr zu haben, stünden einem Dilemma gegenüber. Wenn sie schwanger würden, wäre das der Beweis für ihr unakzeptables sexuelles Verhalten. Dieser Skandal könne zu familiären und sozialen Problemen führen. Eine Frau könne dazu gedrängt werden einen Mann zu heiraten, den sie nicht wolle oder es riskieren wegen eines unehelichen Kindes stigmatisiert zu werden. Der logische Schritt für eine sexuell aktive Frau, in dieser außerehelichen Sex stigmatisierenden Atmosphäre, sei, alle Schritte zu unternehmen, dass es nicht zu einer Schwangerschaft außerhalb einer ehelichen Beziehung komme. An dieser Stelle würden Dinge allerdings kompliziert, da eine unverheiratete Frau, die Verhütungsmittel verwende, dadurch offensichtlich mache, dass sie ein verbotenes Sexualleben habe. Die Angst, dass ihre Freunde, Familie oder die Gemeinschaft (community) es herausfinden könnten, würde es für eine Frau fast unmöglich machen, an Verhütungsmittel zu kommen. Das starke kulturelle Ideal, welches verneine, dass Frauen unabhängig von ihrem Beziehungsstatus ein Recht auf Sexualität hätten, schafft eine Situation in welcher der beides stigmatisiert sei, Schwangerschaft außerhalb der Ehe sowie Maßnahmen um eine solche zu verhindern:

„Women who choose to have sex outside of the realm of marriage face a dilemma. If they become pregnant, they will have proof that they have engaged in unacceptable sexual behavior. This scandal could lead to family and social problems. A woman may be pressured into marrying a man she does not want to or risk being stigmatized for having a child outside of marriage. The logical step for a sexually active woman to take, in this atmosphere stigmatizing extramarital sex, would be taking all steps to prevent pregnancy outside of marriage. This is where things get difficult, however. An unmarried woman using contraception would make it obvious that she is having a forbidden sexual life. Anxiety around her friends, family, or community finding out that she has been procuring contraceptives may make it nearly impossible for a woman to access these items. The strong cultural ideal against women having a free right to sex regardless of their relationship status creates a situation in which both extramarital pregnancy and methods taken to prevent pregnancy are stigmatized.” (The Maghreb Times, 24. August 2019)

Situation und Stellung der Frau in der marokkanischen Gesellschaft

Auf dem Länder-Informations-Portal der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), eine staatliche Entwicklungszusammenarbeitsorganisation der Bundesrepublik Deutschland, finden sich auf der Länderseite zu Marokko unter der Überschrift Geschlechterverhältnisse folgende Informationen:

„In Sachen Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen hat Marokko im weltweiten Vergleich Nachholbedarf. Beim Gender-Ranking des Weltwirtschaftsforums von Davos bildet Marokko regelmäßig das Schlusslicht (aktuell Platz 143 von 149). Maßgeblich für die schlechte Platzierung sind die rechtliche Diskriminierung marokkanischer Mädchen und Frauen sowie die geringe Partizipation am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft. Im Landesdurchschnitt sind nur 22 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter berufstätig: In den Städten sind es noch weniger.“ (GIZ, Dezember 2019)

Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schildert in einem Länderreport vom Juni 2019 die gesellschaftliche Stellung von Frauen in der marokkanischen Gesellschaft wie folgt:

„Marokko ist eine eher männlich dominierte Gesellschaft. Trotz der in der neuen Verfassung von 2011 festgeschriebenen Gleichberechtigung von Männern und Frauen und Verbesserungen im Familienrecht im Jahr 2004 (z.B. gerichtliche Scheidung und weitgehende Gleichstellung im Scheidungsrecht, Abschaffung der Gehorsamspflicht und der einseitigen Verstoßung, Festlegung der Ehefähigkeit der Frau auf 18 Jahre und Polygamie nur im Ausnahmefall) sind Frauen rechtlich und sozial nicht gleichgestellt. Defizite gibt es weiterhin insbesondere in erbrechtlichen Angelegenheiten. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist nach wie vor verbreitet. Frauen können Opfer von Belästigung, Handgreiflichkeiten und Vergewaltigung in und außerhalb der Familie, Zwangsverheiratung oder Menschenhandel werden. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge und traditionelle Einstellungen fort. Der rechtliche Rahmen zum Schutz von Frauen wurde in den letzten Jahren zwar immer wieder verbessert, jedoch verläuft die Umsetzung im Alltag der patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft zäh.“ (BAMF, 3. Juni 2019, S. 11)

Freedom House, eine Nichtregierungsorganisation mit Hauptsitz in Washington, D.C., die sich mit der Untersuchung und Förderung von Demokratie, politischer Freiheit und Menschenrechten weltweit beschäftigt, schreibt in ihrem Bericht Freedom in the World 2019 zum Thema Gleichberechtigung verschiedener Gruppen in den Bereichen Gesetzgebung, Politik und Umsetzung (laws, policies and practices), dass die Gleichberechtigung der Geschlechter zwar in der Verfassung von 2011 anerkannt ist, auf gesellschaftlicher Ebene Frauen aber nach wie vor signifikanter Diskriminierung ausgesetzt und am Arbeitsmarkt stark unterrepräsentiert seien:

„Gender equality was […] recognized in the 2011 constitution, but women continue to face significant discrimination at the societal level and are seriously underrepresented in the labor force.” (Freedomhouse, 4. Februar 2019, Abschnitt F4)

In dem zuvor erwähnten Interview mit dem Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, antwortet Dialmy auf die Frage wie die Kultur der Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen weitergegeben werde, dass dies in der Familie selber in einer frühen Phase der Sozialisierung passiere. Die Aufgaben würden nach sozialem Geschlecht (gender) bereits in einem frühen Alter verteilt: die Buben gehen hinaus und die Mädchen bleiben zu Hause. Der Mann hat in der Öffentlichkeit Präsenz und eine Stimme, während Frauen dies nur zu Hause zusteht. Die Schule vermittle ebenfalls diese Kultur, dass Frauen minderwertiger wären, dass sie ihren Körper verbergen müssten und sie der Ursprung sozialen Chaos‘ und des Bösen wären:

„ How is this culture of men's superiority over women transmitted?

[Abdessamad Dialmy:] Within the family itself, in the early stages of socialization. The domestic chores are divided according to gender from a very early age: boys go out and girls stay at home. The man has a presence and a voice in the public sphere but women only in the home. The school transmits this culture that women are inferior, that they must conceal their body, that they are the origin of social chaos and evil.” (UOC, 9. Jänner 2018)

Umfassende Informationen zu weiblicher Mobilität in Rabat finden sich in einer älteren Forschungsarbeit der Soziologin Safaa Monqid aus dem Jahr 2011. Sie führte in den Jahren von 2000 bis 2003 eine Studie in Rabat durch, um das Verhältnis von Frauen zu privaten und öffentlichen Räumen der Stadt zu untersuchen. Für die Studie wurden 53 Frauen im Alter von 19 bis 70 interviewt. Unter anderem thematisiert sie Einschränkungen in der Mobilität von Frauen durch sexistische soziale Normen (Vorbehalt öffentlicher Räume für Männer), die Erhöhung dieser Mobilität und Zugang zum öffentlichen Raum durch ökonomische Besserstellung, dass weibliche Präsenz in der Stadt in der Nacht sozial kaum toleriert werde, die Angst vor sexuellen Übergriffen und von Bewältigungsmechanismen (coping mechanisms):

·      Monqid, Safaa: Heavy wings: women’s urban lives in deprived neighbourhoods of Rabat, Morocco, 2011
https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01722414/document
 

Sexuelle und (andere) gewalttätige Übergriffe auf Frauen und staatlicher Schutz

Ein Artikel der deutschsprachigen Online-Nachrichtenseite Maghreb-Post berichtet in einem Artikel vom Mai 2019, dass die Ministerin für Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, im Mai 2019 eine Studie über die Verbreitung von Gewalt gegen Frauen vorgestellt habe, bei der insgesamt 8.000 Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt worden seien. Die Studie ergebe, dass Gewalt gegen sowie Belästigung von Frauen weit verbreitet seien:

„54,4% der befragten marokkanischen Frauen gaben an, dass sie in ihrem Leben schon einmal eine Form von Gewalt erlebt haben. […] Anzügliche Bemerkungen, Pfeifen, Beleidigungen, körperliche Annäherungen, Gewalt sowie Schikanen auf offener Straße sind einige der am häufigsten hervorgehobenen Formen, wenn es darum geht, dieses gesellschaftliche Problem anzugehen. Laut der Studie des Ministeriums von Bassima Hakkaoui haben 12,4% der marokkanischen Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren bereits in der Vergangenheit Gewalt an öffentlichen Orten erlitten. Ein Prozentsatz, der sich im Vergleich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten unterscheidet, in dem Sinne, dass Frauen in ländlichen Gebieten, insbesondere im Eheleben, mit 19,6% stärker der Gewalt ausgesetzt sind, gegenüber 16,9% für Frauen in städtischen Gebieten. Eine Erkenntnis, die sich auch in der Studentengemeinde bemerkbar macht. Die Umfrage zeigt, dass 25,5% der Studentinnen in ländlichen Gebieten Gewalt ausgesetzt sind, verglichen mit 21,5% in städtischen Gebieten. Insgesamt gaben 54,4% der befragten Frauen an, dass sie mindestens eine Form von Gewalt erlebt haben und etwa ein Drittel (32,8%) von ihnen sogar in mehreren Formen. […]

Opfer wagen sich selten an die Öffentlichkeit

Das Schweigen zu brechen ist weiterhin ein schwieriger Schritt.

Nur 6,6% der misshandelten Frauen reichen eine Anzeige oder Beschwerde gegen ihren Täter ein. Ein sehr niedriger Wert, der in ländlichen Gebieten noch geringer ist (4,2% gegenüber 7,7% in städtischen Gebieten). Die Ministerin für Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, erklärte, dass Schweigen einer der erschwerenden Faktoren für die ‚Tragödie misshandelter Frauen‘ sei, berichtete die marokkanische – staatliche Nachrichtenagentur MAP. Nur 28,2% der Frauen wagten es, über die Gewalt zu sprechen, die ihnen durch eine Person oder Institution widerfahren war. In ländlichen Gebieten haben weniger als 21% von ihnen sich einer dritten Person anvertraut.“ (Maghreb-Post, 17. Mai 2019)

Am 5. Juli 2018 wurde im Amtsblatt des Königreichs Marokko das Dekret Nr. 1-18-19 (Dahir n° 1-18-19) betreffend das Gesetz Nummer 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen veröffentlicht (Dahir n° 1-18-19, 5. Juli 2018). Laut dem US-Außenministerium (USDOS) und der Maghreb-Post ist das Gesetz im September 2018 in Kraft getreten (Maghreb-Post, 17. Mai 2019; USDOS, 13. März 2019, Section 6). USDOS schreibt in seinem Country Report on Human Rights Practices vom März 2019, dass es einen stärkeren rechtlichen Rahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, sexueller Belästigung und Misshandlung biete. Laut dem neuen Gesetz könne die Verurteilung aufgrund eines sexuellen Übergriffs zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren und einer Strafe von 2.000 bis 10.000 Dirham (ca. 190 bis 940 Euro) führen. Für Beleidigung und Diffamierung aufgrund des Geschlechts könne eine Strafe von 60.000 bis 20.000 Dirham (ca. 5650 bis 11.300 Euro) verhängt werden:

„On September 12, a new law came into effect that provides a stronger legal framework to protect women from violence, sexual harassment, and abuse. Under the new law, a sexual assault conviction may result in a prison sentence of six months to five years and a fine of 2,000 to 10,000 dirhams ($210 to $1,050). For insults and defamation based on gender, an individual may be fined up to 60,000 dirhams for insults and up to 120,000 dirhams for defamation ($6,300 to $12,600).” (USDOS, 13. März 2019, Section 6)

Gemäß USDOS haben Nichtregierungsorganisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen, kritisiert, dass es an Klarheit in Verfahren und an Schutzmechanismen im Falle des Meldens von Übergriffen fehle. In der Vergangenheit hätten Behörden Gesetze gegen sexuelle Belästigung nicht wirksam verfolgt, die Auswirkungen des neuen Gesetzes seien zum Ende des Jahres 2018 noch nicht klar gewesen. Gemäß lokalen Nichtregierungsorganisationen würde die große Mehrheit von Fällen sexueller Belästigung aufgrund sozialen Drucks und der Sorge, dass die Gesellschaft höchstwahrscheinlich die Opfer dafür verantwortlich mache, nicht der Polizei gemeldet werden. Die Polizei würde selektiv Fälle untersuchen, unter den wenigen die zu Gericht gebracht würden, seien die erfolgreichen Verurteilungen selten:

„Some women’s rights NGOs criticized the lack of clarity in procedures and protections for reporting abuse under the new law. In the past, authorities did not effectively enforce laws against sexual harassment; the impact of the new law was not yet clear by year’s end. According to local NGOs, survivors did not report the vast majority of sexual assaults to police due to social pressure and the concern that society would most likely hold the victims responsible. Police selectively investigated cases; among the minority brought to trial, successful prosecutions remained rare.” (USDOS, 13. März 2019, Section 6)

In einem Artikel vom September 2018 schreibt die Maghreb-Post in einem Artikel zum neu verabschiedeten Gesetz 103-13:

„Neben der positiven Bewertung gibt es auch Kritik. Für einige Frauenverbände ist die Anwendung in der Praxis nicht klar genug geregelt. Daher befürchten sie, dass vor allem die Sicherheitsbehörden nicht in die Lage versetzt wurden, mit Beschwerden und Anzeigen von Frauen umzugehen. Administrative Defizite drohen Gesetz auszuhöhlen. Nur ein Gesetz zu erlassen, wird nicht reichen. Die Gewalt gegen Frauen, vor allem die sexuelle Gewalt, ist meist ein Ausdruck der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft und ein Instrument der Unterdrückung sowie Demütigung. Daher wird viel davon abhängen, dass über die Gesetzeslage breit informiert wird. Genau dies wird kritisiert. Viele Frauen sehen sich zu wenig über die neue Gesetzeslage aufgeklärt und haben kaum Kenntnis darüber, an wen sie sich ggf. wenden können. Zu befürchten ist, dass es viel Zeit bedarf, bis sich die Einstellung gegenüber Anzeigen von Frauen in Behörden und im öffentlichen Raum ändert. […] Die deutlichste Kritik an der Gesetzesnovelle ist die fehlende Ausarbeitung von Handlungsvorgaben für Polizei und Staatsanwaltschaft. Beobachter kritisieren, dass es zwar deutliche Strafanhebungen und die Schaffung neuer Straftatbestände gibt, aber die Beweisführung hat sich nicht geändert. Die betroffene Frau muss im konkreten Falle die Belästigung oder die Gewalt gegen sich nachweisen. So muss das Opfer z.B. aus eigenem Antrieb ein medizinisches Attest über die Gewalt und ihre Verletzungen beibringen, bevor die Staatsanwaltschaft ermitteln darf. Solange ist die Frau zunächst auf sich gestellt.“ (Maghreb-Post, 13. September 2018)

Die GIZ stellt auf der Länder-Informationsportalseite zu Marokko einen positiven Trend in der Meldung von Übergriffen fest:

„Doch es gibt auch positive Entwicklungen. 2018 wurde ein Gesetz zum Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt und Belästigung verabschiedet. Die Zahl der Frauen, die sich trauen, Vergewaltigungen und Übergriffe bei der Polizei anzuzeigen, ist rapide gestiegen.“ (GIZ, Dezember 2019)


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 3. Februar 2020)

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Rückkehr für unverheiratete alleinstehende Frauen mit Kindern [a-11154-1], 19. Dezember 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2023859.html

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Verurteilungen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr; Nennung von konkreten Fällen [a-11154-2 (11155)], 19. Dezember 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2023860.html

BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland): Länderreport 11 - Algerien, Marokko, Tunesien - Menschenrechtslage - Im Fokus: Vulnerable Personen, 3. Juni 2019
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2019/laenderreport-11-algerien-marokko-tunesien.pdf?__blob=publicationFile&v=5

·      Dahir n° 1-18-19 du 5 joumada II 1439 (22 février 2018) portant promulgation de la loi n° 103-13 relative à la lutte contre les violences faites aux femmes [Dekret Nr. 1-18-19 vom 22. Februar 2018 betreffend die Verkündung des Gesetzes 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen], veröffentlicht im Bulletin Officiel Nr. 6688, 5. Juli 2018
http://www.sgg.gov.ma/BO/FR/2018/BO_6688_Fr.pdf?ver=2018-07-11-124300-213

·      EMHRN – EuroMed Rights: Situation report on violence against women, März 2018
https://euromedrights.org/wp-content/uploads/2018/03/Factsheet-VAW-Morocco-EN-Mar-2018.pdf

·      Freedom House: Freedom in the World 2019 - Morocco, 4. Februar 2019
https://www.ecoi.net/en/document/2006451.html

·      GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit: LIPortal, Marokko, Dezember 2019
https://www.liportal.de/marokko/gesellschaft/

·      Maghreb-Post: Marokko – Mehr als jede zweite marokkanische Frau Opfer von Gewalt, 17. Mai 2019
https://www.maghreb-post.de/politik/marokko-mehr-als-jede-zweite-marokkanische-frau-opfer-von-gewalt/

Maghreb-Post: Marokko – Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt und sexueller Belästigung tritt in Kraft, 13. September 2018
https://www.maghreb-post.de/gesellschaft/marokko-gesetz-zum-schutz-von-frauen-vor-gewalt-und-sexueller-belaestigung-tritt-in-kraft/

·      Monqid, Safaa: Heavy wings: women’s urban lives in deprived neighbourhoods of Rabat, Morocco, 2011
https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01722414/document

·      ONVEF - Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes, Premier Rapport Annuel sur la Violence à l’Ègard des Femmes, 2015
http://www.social.gov.ma/sites/default/files/e%D8%AA%D9%82%D8%B1%D9%8A%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B1%D8%B5%D8%AF%20%D8%A7%D9%84%D9%88%D8%B7%D9%86%D9%8A%20%D9%84%D9%84%D8%B9%D9%86%D9%81%20%D9%8DFR%20OK.pdf

·      The Maghreb Times: Women Health Concerns in the Sociocultural Context of Morocco, 24. August 2019
https://themaghrebtimes.com/08/24/women-health-concerns-in-the-sociocultural-context-of-morocco/

·      UOC – Universitat Oberta de Catalunya: “Arab men are told they are superior to women from a very early age”, 9. Jänner 2018
https://www.uoc.edu/portal/en/news/entrevistes/2018/001-abdessamad-dialmy.html

·      USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2018 - Morocco, 13. März 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2004244.html