Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Wardak, Distrikt Behsud: Gundstücksstreitigkeiten [a-11055-2]

6. August 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

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In seinen im August 2018 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Afghanistan geht das Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) unter Berufung auf verschiedene Quellen wie folgt auf das Thema Grundstücksstreitigkeiten ein:

„Der Nachweis von Landbesitz ist in vielen Fällen schwierig. Streitigkeiten um Land sind in Afghanistan Berichten zufolge daher häufig und nehmen nicht selten gewaltsame Formen an. Die illegale Inbesitznahme von Land, so wird berichtet, ist verbreitet und oft sollen einflussreiche Akteure mit Verbindungen zur Regierung sowie Amtsträger daran beteiligt sein. Alle formellen und informellen Mechanismen für die Grundbucheintragung, Landverteilung und Beilegung von Streitigkeiten um Landbesitz sind laut Berichten von Korruption betroffen. Zur Eindämmung der weit verbreiteten Korruption wurde am 4. März 2017 durch Präsidialerlass ein neues Raumordnungsgesetz verabschiedet. Außerdem enthält das am 15. Februar 2018 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch den Straftatbestand der widerrechtlichen Aneignung von Land. Streitigkeiten um Landbesitz und Landnutzungsrechte haben oft historische Wurzeln und eine ethnische Dimension, was zum Teil auf Bevölkerungsbewegungen zurückzuführen ist. Afghanen, die ihr Land nach ihrer Rückkehr, nachdem sie zuvor vertrieben worden sind, zurückfordern, können besonders durch Landstreitigkeiten mit ethnischer Dimension gefährdet sein. In den Provinzen Wardak und Ghazni führt die jährliche Wanderung der nomadisch lebenden Kuchis, die auf der Suche nach Weideland für ihr Vieh durch Gebiete ziehen, in denen Hazara siedeln, zu wiederkehrender Gewalt zwischen Kuchis und Hazara. Trotz Bemühungen der Regierung, diese Konflikte beizulegen, führt die fortgesetzte Gewalt zu Toten und Verletzten auf beiden Seiten und zu Vertreibung von Dorfbewohnern der Gruppe der Hazara.“ (UNHCR, 30. August 2018, S. 108-110)

UNHCR fasst in Fußnote 609 die in einem Bericht von Landinfo vom Juni 2011 angeführten historischen Hintergründe für den Konflikt wie folgt zusammen:

„Die Kuchis sind weiterhin der Auffassung, dass sie durch Verordnungen, die unter dem Rahman-Regime Ende des 19. Jahrhunderts erlassen wurden, die Befugnis erhielten, bestimmte Gebiete des Landes als Ackerland und Sommerweiden nutzen zu können. Die Hazara zweifeln dies an, indem sie vorbringen, dass die Verordnungen ungültig seien.“ (UNHCR, 30. August 2018, S. 109, Fußnote 609)

Die afghanische englischsprachige Tageszeitung Daily Outlook Afghanistan schreibt in einem Artikel vom Mai 2019, dass es mit dem Beginn der warmen Saison und dem Start einer neuen Kriegsstrategie der Taliban in den zentral liegenden Gebieten Afghanistans wiederum zu blutigen Angriffen gekommen sei. Das umstrittenste und strategisch wichtigste Gebiet der Region sei die Provinz Maidan Wardak, in der in den letzten Jahren zwischen den dortigen Bewohnern und den Streitkräften der Kuchis Konflikte um Land und Weidefläche stattgefunden hätten. Der Bezirk Behsud sei diesbezüglich von Bedeutung, weil die Taliban in Zusammenarbeit mit den Kuchis Angriffe in diesen Gebieten organisieren würden. Darüber hinaus würden auch ausländische Geheimdienstnetzwerke beschuldigt, die in diesem speziellen Gebiet stattfindenden Konflikte zu schüren:

„Now with start of warm season and Taliban’s new war strategies, these areas [central areas of Afghanistan] once again are witnessing meaningful targets and bloody attacks. The most controversial and strategic spot in this area is Maidan Wardak province where over the past years has been the scene of conflict over the land and pasture between the residents and Kuchi armed forces. Behsud district is important because the Taliban are organizing attacks in these areas in co-operation with Kuchis, and on the other hand, foreign intelligent networks are also blamed for fuelling the conflicts in this specific area.” (Daily Outlook Afghanistan, 15. Mai 2019)

Das New York Times Magazine, ein der Sonntagsausgabe der US-amerikanischen Tageszeitung New York Times beigelegtes Magazin, berichtet in einem Artikel vom Mai 2019, dass die Taliban am 12. Mai 2019 das Gebiet Mirhazar im Distrikt Hesa-e-Dowom-e-Behsud (Provinz Wardak) angegriffen hätten und dabei fünf Zivilisten getötet und zwölf weitere verletzt hätten. Fünf weitere seien nach dem Angriff vermisst. Bei dem Vorfall hätten die Taliban ein von der Hazara-Minderheit bewohntes Viertel angegriffen um ihre Unterstützung für die Kuchis zu signalisieren, ein Volk das zur paschtunischen Volksgruppe gehöre. Hazara und Kuchis würden seit vielen Jahren um in diesem Gebiet liegende Ländereien kämpfen:

„May 12 Wardak Province: five civilians killed

The Taliban attacked the area of Mirhazar in Hesa-e-Dowom-e-Behsod District, killing five civilians and wounding 12 others. Five civilians went missing after the Taliban attack. The Taliban attacked a neighborhood populated by the Hazara minority as a sign of support for the Kuchi people, who are of Pashtun ethnicity. The Hazaras and Kuchis communities have been fighting over land in the area for many years.” (New York Times Magazine, 16. Mai 2019)

Australian Policy and History (APH) ist ein Netzwerk von HistorikerInnen (vorwiegend HistorikerInnen der Universität von Melbourne und der Australischen Nationaluniversität), die es sich zur Aufgabe machen, PolitikerInnen, JournalistInnen sowie der Öffentlichkeit historisches Wissen zu vermitteln. In einem Artikel vom November 2017 zu Afghanistan schreibt APH, dass Landstreitigkeiten zwischen Hazara und Kuchis jeden Sommer ausbrechen würden, in den letzten Jahren hätten sie sich allerdings verschärft, nachdem die Kuchis begonnen hätten schwerbewaffnet in den Bezirken Behsud und Daimirdad (Provinz Maidan Wardak) zu erscheinen. Infolgedessen seien Hazara getötet und deren Häuser verbrannt worden. Im Jahr 2008 seien etwa 60.000 Menschen vertrieben worden, und ein Bericht vom Mai 2010 schätze, dass in letzter Zeit 1.800 Familien vertrieben, 68 Häuser niedergebrannt und 28 Schulen geschlossen worden seien, sodass 10.000 SchülerInnen keinen Zugang zu Schuleinrichtungen hätten. Die Kuchis seien Nomaden und eine Minderheit, würden jedoch zur in der Region dominierenden Gruppe der Paschtunen gehören. APH schreibt weiters, dass die unabhängige, gemeinnützige Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network (AAN) vermute, dass die Taliban die jahrhundertealte Fehde zwischen den Kuchis und den Hazara nutzen würden, um Angriffe der Kuchis gegen die Hazara anzufachen und zu unterstützen:

„Land disputes between Hazaras and Kuchi soften erupt each summer but have worsened in the last few years since Kuchis have begun arriving in the Behsud and Daimirdad districts in Maidan Wardak province, heavily armed for conflict. Kuchis believe the decrees issued under Rahid Rahman entitle them to access, while many Hazaras have never accepted the loss of full rights over their land. As a result, Hazaras have been killed and their homes burnt. In 2008, approximately 60 000 people were displaced, and a May 2010 report estimated that 1800 families recently had been displaced, 68 homes burnt, and 28 schools closed, leaving 10 000 students without school facilities. As nomads, the Kuchialso are a minority group, but belong to the dominant Pashtun group. The Afghanistan Analysts Network suspects that the Taliban may be exploiting this century-old feud to incite and support attacks by their fellow Pashtuns, the Kuchi, against Hazaras.” (APH, 13. November 2017)

Afghanistan-Experte vom King’s College London Dr. Antonio Giustozzi hält in einem im Juli 2017 von der unabhängigen Forschungseinrichtung Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) veröffentlichten Bericht fest, dass der Konflikt tiefe historische Wurzeln im 19. Jahrhundert habe und mit der Unterwerfung der Hazara durch die Kuchis zu tun habe. Vorläufige neue Forschungsergebnisse würden darauf hindeuten, dass sich seit damals an dem Konflikt inzwischen wenig geändert habe. Viele der im Zuge der Recherchen für den Bericht befragten Personen würden angeben, dass die Ursache für den Konflikt zwischen den Kuchis und den Bauern eine politische Ursache habe: Politische Parteien und Fraktionen würden ihre jeweiligen Wahlkreise dabei unterstützen oder sie sogar dazu ermutigen, andere Gemeinden in Fragen des Landbesitzes und des Zugangs zu Land herauszufordern:

„The conflict has deep historical origins in the use made by the nascent Afghan state in the late nineteenth century of the Kuchis to subjugate the Hazaras. The preliminary findings of the new research carried out by this project indicate that little has changed in this conflict. Many interviewees insisted in alleging that the source of the conflict between Kuchis and farmers is a political one: political parties and factions mobilise support by supporting their constituencies and even encouraging them to challenge other communities over land and access issues.” (AREU, Juli 2017, S. 3)

Es konnten keine Informationen zu Grundstücksstreitigkeiten gefunden werden, die sich unabhängig von dem oben beschriebenen Konflikt zwischen Kuchis und Hazara ereignet hätten. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass solche Vorfälle nicht stattgefunden hätten.

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 6. August 2019)