Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt [a-10896]

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28. Februar 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, berichtet im April 2017, dass Menschen mit Behinderungen in Afghanistan mit sozialen Vorurteilen konfrontiert seien. Im Bericht wird unter anderem ein 25-Jähriger namens Fazluddin aus der Provinz Parwan porträtiert, dessen gesamter Haushalt von nichts anderem als der Invaliditätsbeihilfe auskommen müsse. Er selbst habe im Alter von nur zwei Jahren sein rechtes Auge verloren und mehrere Verletzungen erlitten, als seine Familie unter Taliban-Beschuss geriet. Seine Mutter, die jetzt bei ihm lebe, habe bei diesem Angriff ihren rechten Arm verloren. Trotz einer verarmten Kindheit habe Fazluddin eine weiterführende Schule („High School“) abgeschlossen und verfüge über Qualifikationen in Englisch und über Computerkenntnisse. Er habe dennoch aufgrund seiner Behinderung keine Arbeit finden können, so Fazluddin. Er habe es überall versucht, doch sobald die Menschen bemerkt hätten, dass er auf einem Auge blind sei, hätten sie ihn nicht nur für die Arbeitsstelle abgelehnt, sondern sich auch über ihn lustig gemacht. Aus Frustration habe er all seine Abschlusszertifikate zerrissen, so Fazluddin, der weiters angeführt habe, dass man in Afghanistan entweder gute Beziehungen oder Geld brauche, um seine Grundrechte durchzusetzen.

Trotz der fehlenden Grundversorgung würde es dennoch einigen Menschen mit Behinderungen gelingen, die erheblichen Hindernisse auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere zu überwinden. Mushtari Danish, eine 34-Jährige aus der Provinz Parwan, sei seit ihrer Kindheit aufgrund von Polio gelähmt. Dennoch arbeite sie seit neun Jahren als Lehrerin. Es habe sich allerdings als sehr schwierig erwiesen, diese Arbeit zu finden, so Mushtari. Als sie sich nach ihrem Abschluss als Lehrerin beworben habe, habe man ihr nur erwidert, dass sie gleich wieder nach Hause gehen könne, da selbst gesunde Menschen keine Jobs finden würden:

„Fazluddin, a tall, thin 25-year-old who lives in Dolana, central Parwan, has a whole household to support on nothing more than disability stipends. He himself lost his right eye and suffered multiple injuries aged just two when the family was caught in a Taleban bombardment. His mother, who now lives with him, lost her right arm in the same attack. […]

Despite an impoverished childhood, Fazluddin finished high school and has qualifications in English and computer skills. But he has been unable to find work, he said, because of his disability. ‘I went everywhere. When they noticed that I was blind in one eye, they not only refused me work but also made fun of me. I tore up all my school certificates in frustration,’ he said, adding, ‘You need either powerful relations or money to achieve your basic rights in this country.’ […]

Despite this lack of basic provision, some disabled people manage to overcome the considerable obstacles to pursue successful careers. Mushtari Danish, 34, a resident of Chanki Ulya village of Sayyidkhel District in Parwan, was paralysed in childhood as the result of polio. Nonetheless, she has been working as a teacher for the last nine years, although she said it had proved terribly hard to find work. After graduation, she said, ‘I went to an office and applied to be a teacher. They told me, ‘Go away my child. Even healthy people cannot find a job and you are disabled.’ I was so disappointed.‘“ (IWPR, 6. April 2017)

Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC), eine nationale Menschenrechtsorganisation in Afghanistan, die sich der Förderung, dem Schutz und der Beobachtung der Menschenrechte sowie der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen widmet, veröffentlicht im Juni 2018 einem Bericht zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen in Afghanistan. Darin wird angeführt, dass in Afghanistan bisher wenig getan werde, um die Menschenrechtssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. AIHRC komme zum Ergebnis, dass mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten eines der Hauptprobleme von Menschen mit Behinderungen in Afghanistan sei:

„It is worth mentioning that, unfortunately, to date, little work is done regarding the improvement of the human rights situation of persons with disabilities. Our findings also show that the main problems of persons with disabilities as also mentioned in the report of the human rights situation of people with disabilities (1394 - 1395), are lack of employment, lack of children with disabilities’ access to education, lake rehabilitation and restoration centers and lack of access to political rights, and so on.” (AIHRC, Juni 2018, S. 19-20)

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) veröffentlicht im Jänner 2019 einen Artikel zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen, allen voran Kriegsversehrten, in Afghanistan. Ein Mitarbeiter des Rehabilitationsprogramms des IKRK in Afghanistan habe dem Artikel zufolge angeführt, dass Menschen mit Behinderungen in Afghanistan unter einem Mangel an Beschäftigungs-, Bildungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten leiden würden. Von Seiten der Gemeinschaft und den Familien würden diese Menschen nicht auf Ablehnung stoßen, sie würden allerdings dennoch mehr Möglichkeiten benötigen, um ihr Leben wieder in Gang zu bringen:

„’The disabled population suffers from a lack of job, educational and rehab opportunities, resulting in a lack of self-confidence and self-esteem,’ said Cairo, who began working with the ICRC's rehab program the year it opened. ‘Nevertheless, they are not rejected by community and family. Still, they need more opportunities to re-start life.’” (IKRK, 23. Jänner 2019)

In einer Studie zu Armut in Afghanistan, die 2016 im wissenschaftlichen Journal Oxford Development Studies veröffentlicht wurde, gehen Jean-Francois Trani und seine KollegInnen unter anderem auf den Zusammenhang zwischen Behinderungen und Armut ein. Unter Verweis auf andere wissenschaftliche Quellen wird erwähnt, dass sich die Wahrnehmung von Behinderungen auf den Familienstand, die Ehe, das Beschäftigungsverhältnis sowie auf Bildungs- und Sozialmöglichkeiten auswirke. In Afghanistan hänge die Stigmatisierung von Behinderungen von den Arten und Ursachen dieser ab. Malul und Mayub seien gebräuchliche Begriffe zur Beschreibung von Behinderungen. Malul beziehe sich auf Personen mit körperlichen Behinderungen und auf Personen, bei denen ein Unfall oder eine andere erkennbare Ursache zur Behinderung geführt habe. Kriegsverwundete würden positiv gesehen, da sie als Märtyrer gelten würden, die für ihr Land gekämpft hätten. Mayub hingegen seien Menschen, die von Geburt an oder aufgrund von Krankheit oder einer andere unbekannten Ursache an Behinderungen leiden. Diese Ursachen würden oft dem Willen Gottes, Geistern oder der schwarzen Magie zugeschrieben. Menschen mit solchen Behinderungen würden oft stigmatisiert.

Die Ergebnisse der durchgeführten Studie würden zeigen, dass Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu nicht behinderten Menschen eine höhere Armutsquote aufweisen. Insbesondere von Geburt an behinderte Menschen seien stärker benachteiligt, sowohl im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen als auch im Vergleich zu Menschen mit Behinderungen aufgrund einer identifizierbaren Ursache. Dies gelte in Bezug auf alle K-Levels (K-Level sind ein von Gesundheitsdiensten verwendetes Bewertungssystem, das das Rehabilitationspotenzial einer Person angibt, Anm. ACCORD). Der Ausschluss vom Zugang zu öffentlichen Einrichtungen (Bildung, Gesundheitseinrichtungen), dem Arbeitsmarkt und sozialen Aktivitäten wirke sich zudem auf das Selbstwertgefühl und das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Behinderungen aus. Menschen mit Behinderungen hätten eine höhere Wahrscheinlichkeit von Armut betroffen zu sein und hätten häufig physische und soziale Barrieren beim Zugang zu öffentlichen Räumen zu überwinden:

„Perception of disability affects people’s family status, marriage, employment, and educational and social opportunities (Cerveau, 2011). Stigma of disability is linked to the types and causes of disability in Afghanistan. Malul and mayub are common terms used to describe disability. Malul relates to persons with physical disabilities and refers to those disabled by an accident or another identifiable cause. Individuals wounded by war are viewed in a positive light as they are considered martyrs who fought for their country. Mayub, on the other hand, are those disabled by birth, disease or other unknown cause often attributed to God’s will, spirits or black magic, and they are often stigmatised. Dewana is the term used for persons with mental and intellectual disabilities. Prejudice is particularly high against learning and intellectual disability in Afghanistan. Table 2 reveals that people with disabilities experienced a higher level of poverty in comparison to non-disabled people. People disabled at birth are particularly more often deprived than non-disabled people and than people disabled due to an identified cause across all k levels. Difference in intensity of poverty is also observed for all k values and is higher for people disabled at birth. Those persons disabled at birth or from an unspecified cause face greater poverty due to social and economic exclusion resulting from stigma. Furthermore, disabled women, whatever the cause, also experienced a higher level of poverty in comparison to disabled men6 (Cerveau, 2011; Trani & Loeb, 2012). Exclusion from accessing public institutions (education, health facilities), the labour market and social activities impacts the self-esteem and psychological wellbeing of persons with disabilities (Mollica et al., 1999). People with disabilities are more likely to be poorer, often face physical and social barriers in accessing public spaces, and are often the last to eat within the household, which explains the higher level of deprivation in health status (Groce, Kett, Lang, & Trani, 2011; Harriss-White, 1999).” (Trani et al., 2016, S. 234)

Das US-Außenministerium (United States Department of State, USDOS) schreibt in seinem Menschenrechtsbericht vom April 2018 (Berichtszeitraum: 2017), dass die afghanische Verfassung Diskriminierung verbiete und vermerke, dass Bürger, sowohl Mann als auch Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz hätten. Die Verfassung verbietet explizit die Diskriminierung aufgrund von Sprache, enthalte jedoch keine besonderen Bestimmungen zu Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion, nationaler Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Behinderung oder Alter. In einem weiteren Abschnitt des Menschenrechtsberichts führt das USDOS an, dass sich Menschen mit Behinderungen in Afghanistan mit Hindernissen konfrontiert sehen würden. In diesem Zusammenhang wird unter anderem der Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten und soziale Ausgrenzung angeführt:

„The constitution prohibits discrimination and notes that citizens, both ‘man and woman,’ have equal rights and duties before the law. It expressly prohibits discrimination based on language. The constitution contains no specific provisions addressing discrimination based on race, religion, national origin, color, sex, ethnicity, disability, or age.” (USDOS, 20. April 2018, Section 7d)

„Persons with disabilities faced barriers such as limited access to educational opportunities, inability to access government buildings, lack of economic opportunities, and social exclusion.” (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Weitere Informationen zum gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen in Afghanistan entnehmen Sie bitte folgender Anfragebeantwortung von ACCORD vom September 2017:

  • ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesellschaftlicher Umgang mit Menschen mit Behinderung [a-10317], 13.September 2017
    https://www.ecoi.net/de/dokument/1410160.html

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 28. Februar 2019)