Document #2002955
Rohde, Achim (Author), published by bpb – Federal Agency for Civic Education (Germany)
9.2.2018 | Von:
Der Islamwissenschaftler und Nahostexperte Achim Rohde ist wissenschaftlicher Koordinator des vom BMBF geförderten Forschungsnetzwerkes "Re-Konfigurationen. Geschichte, Erinnerung und Transformationsprozesse im Mittleren Osten und Nordafrika" an der Philipps-Universität Marburg. Rohde ist Autor von "State-Society Relations in Ba’thist Iraq. Facing Dictatorship" (London: Routledge, 2010, 2014), Herausgeber von "Iraq between Occupations. Perspectives from 1920 to the Present" (New York: Palgrave Macmillan, 2010) und zahlreicher Aufsätze zur irakischen Geschichte vor und nach 2003.
Der Irak ist in vieler Hinsicht ein gescheiterter Staat. Nach der Zerschlagung des IS ist das Land ethnisch und religiös gespalten. Die befreiten Gebiete liegen in Trümmern. Die Verwaltung funktioniert nur rudimentär. Die Wirtschaft ist im Niedergang begriffen. Die Folgen sind Vertreibung, Arbeitslosigkeit und Armut.
[IMG | SOURCE: /cache/images/0/215200-3x2-article620.jpg?CA6DD | ALT: Schiitische Milizen posieren im Nordirak in der Nähe von Baidschi am 25.10.2015 mit Mörsergranaten des IS.] Schiitische Milizen posieren im Nordirak in der Nähe von Baidschi am 25.10.2015 mit Mörsergranaten des IS. (© picture-alliance/dpa)
[IMG | SOURCE: /cache/images/6/257826-st-article620.jpg?7CBA5 | ALT: Bürgerkrieg im Irak] Bürgerkrieg im Irak [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
Der Aufstieg konfessioneller und tribaler Milizen und privater Gewaltunternehmer geht auf den Bürgerkrieg zurück. Die mit der Zentralregierung in Bagdad verbündeten schiitischen Milizen unterscheiden sich hinsichtlich ihres reaktionären Gesellschaftsbildes und ihrer Brutalität gegenüber Andersgläubigen, kritischen Journalisten und Menschen mit anderer sexueller Orientierung kaum vom IS. Diese mächtigen Akteure bilden einen Staat im Staate. Einige militärische Verbände und Milizen agieren sogar ganz offiziell auf Weisung der iranischen Regierung.
Die kurdischen Peschmerga kämpften zwar seit 2014 an der Seite der Zentralregierung gegen den IS, doch diese Koalition zerbrach, nachdem die Kurdische Regionalregierung (KRG), trotz der Warnungen aller relevanten Akteure, im September 2017 ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt hatte. Ziel des Referendums, in dem fast 93% für die Unabhängigkeit stimmten, war es, den kurdischen Proto-Staat im Nordirak in die Unabhängigkeit zu führen. Doch die Interessen Bagdads, Teherans und Ankaras stehen einem solchen Schritt entgegen. Die irakische Zentralregierung hat das Referendum umgehend zum Anlass genommen, um die Peschmerga aus großen Teilen der Gebiete zu verdrängen, die diese vorher vom IS befreit hatten, aber vom irakischen Zentralstaat beansprucht werden. Dazu gehört auch und vor allem die strategisch und wirtschaftlich wichtige Erdöl- und Erdgasregion um Kirkuk.
Die irakische Armee wurde bei ihrem Vormarsch nicht zum ersten Mal von iranischen Einheiten unterstützt. Zudem begann Bagdad, die bisher weitgehende Autonomie der kurdischen Region einzuschränken, etwa durch die Übernahme der Grenzposten entlang internationaler Grenzen durch die irakische Armee. Seither ist die kurdische Position geschwächt, und die KRG sah sich gezwungen, der Zentralregierung Verhandlungen über den künftigen Status der Kurdengebiete auf der Grundlage der irakischen Verfassung anzubieten. Die Verfassung verbietet die Abspaltung von Gebieten. Das Ziel der Zentralregierung ist die Sicherung der territorialen Integrität des irakischen Staates. Doch überlegene militärische Macht ersetzt keine gute Regierungsführung.
Die 2017 mit 37 Mio. bezifferte irakische Bevölkerung zeichnet sich durch eine große religiöse, kulturelle und ethnische Diversität aus. Seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 und der Besatzung des Landes durch eine westliche Allianz unter Führung der USA sind verstärkt konfessionelle Spannungen sichtbar geworden, vor allem zwischen sunnitischen und schiitischen Akteuren.
Die Folge der interethnischen und interreligiösen Gewalt war die zunehmende räumliche Entflechtung und Fragmentierung der irakischen Gesellschaft entlang konfessioneller Linien sowie die Verschlechterung der Lage religiöser und ethnischer Minderheiten (Christen, Jesiden, Turkmenen, Assyrer u.a.). Die Schreckensherrschaft des IS und der Kampf gegen die Dschihadisten verschlimmerten ihre Lage zusätzlich. Innerhalb Iraks bietet die seit den 1990er Jahren autonome kurdische Region heute die größte Sicherheit und auch wirtschaftlich die besten Lebensbedingungen. Sie ist daher das Ziel vieler Binnenflüchtlinge.
Angesichts der allgemeinen Perspektivlosigkeit und der Angst, in die Kampfhandlungen verwickelt zu werden, fliehen gerade junge und gut ausgebildete Leute ins Ausland. Dieses "brain drain" schwächt das Land zusätzlich und mindert die Chancen auf einen erfolgreichen Wiederaufbau. Dabei hätte der Irak genügend natürliche Ressourcen, um seiner Bevölkerung ein gutes Leben zu ermöglichen.
[IMG | SOURCE: /cache/images/8/257838-1x1-article620.jpg?0C64F | ALT: Religions- und Bevölkerungsgruppen im Irak] Religions- und Bevölkerungsgruppen im Irak [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
Die in der irakischen Verfassung von 2005 angelegte Konkordanzdemokratie erweist sich in der Praxis als dysfunktional, zementiert ethno-konfessionelle Identitäten und vertieft so die Fragmentierung des Landes. Interkonfessionelle Spannungen wurden zudem durch den von 2006 bis 2014 amtierenden Premierminister Nuri al-Maliki angeheizt. Vor allem arabisch-sunnitische Iraker wurden systematisch benachteiligt und unterdrückt. Malikis Politik hat den IS in den sunnitisch geprägten Provinzen des Landes erst hoffähig gemacht. Wenn diese Ursachen arabisch-sunnitischen Grolls gegen die Zentralregierung nach dem militärischen Sieg über den IS nicht behoben werden, ist das Wiederaufleben des sunnitischen Aufstandes nur eine Frage der Zeit.
Noch weisen Meinungsumfragen seit 2003 kontinuierlich auf ein weiterhin bestehendes irakisches Nationalgefühl hin, dessen Anfänge bis in die späte osmanische Zeit zurückreichen. Unter dem Einfluss des von den staatsbildenden Eliten proklamierten arabischen Nationalismus waren vor allem in den 1940er bis 1960er Jahren Fortschritte auf dem Weg zu einer nationalen Integration zu verzeichnen. Jenseits konfessionalistischer Narrative entstanden eine vielfältige politische Landschaft und eine lebendige Zivilgesellschaft.
[IMG | SOURCE: /cache/images/1/55561-3x2-article620.jpg?C3857 | ALT: Ein Tag nach dem US-Truppen sich aus dem Irak zurückgezogen haben, sind mehrere Bomben in Bagdad explodiert.] Bombenanschlag in Bagdad, 2011. (© picture-alliance/AP)
Auch wenn die Gefahr eines Zerbrechens des irakischen Staates gegenwärtig gebannt scheint, bleibt die Zukunft des Landes aufgrund interner Probleme und der Verwobenheit mit regionalen und globalen Machtkämpfen ungewiss. Eine Internationalisierung der Anstrengungen zur Konfliktlösung und zum Wiederaufbau des Irak (und anderer von Kriegen zerrütteter Länder der Region) unter der Führung der Vereinten Nationen, flankiert durch verstärktes diplomatisches wie wirtschaftliches Engagement der EU, könnte einen Ausweg aus der verfahrenen Situation bieten.
Der Irak ist am Ende des 1. Weltkrieges auf britische Initiative als Zusammenschluss von drei osmanischen Provinzen um die Städte Mosul, Bagdad und Basra zunächst als Monarchie unter kolonialer Vorherrschaft entstanden. Die Revolution von 1958 führte zur Gründung einer Republik und zu Versuchen, das Land unabhängig von den beiden Machtblöcken des Kalten Krieges zu entwickeln. Bis in die späten 1960er Jahre wechselten sich von unterschiedlichen Teilen der Armee gestützte, mehr oder weniger populäre autokratische Regenten in schneller Folge ab. Im Juli 1968 übernahm die Ba’th-Partei nach einem Putsch für mehr als drei Jahrzehnte die Macht.
Nach seiner Wahl zum Präsidenten (1979) etablierte Saddam Hussein eine Diktatur, die durch extreme Repression nach innen und wiederholte Kriege nach außen charakterisiert war. In den 1980er Jahren galt Saddam Hussein zwar als autoritärer Herrscher, aufgrund seiner Prellbock-Funktion gegen den revolutionären Iran jedoch auch als nützlicher Verbündeter des Westens. Nach der irakischen Besetzung Kuwaits im August 1990 fiel er im Westen in Ungnade. Der Irak wurde im Golfkrieg von 1991 weitgehend zerstört und konnte aufgrund des bis 2003 andauernden UN-Embargos nur unzureichend wiederaufgebaut werden. Dadurch wurden alle Entwicklungserfolge der 1970er zunichtegemacht. Das Regime konnte sich allerdings weiterhin an der Macht halten. Die zuvor säkulare Diktatur entdeckte in den 1990er Jahren zunehmend die Religion und tribale Strukturen als Mittel des Machterhalts. Seit dem Sturz Saddam Husseins durch eine von den USA geführte westliche Militärallianz im Jahr 2003 geriet der Irak zunehmend in den Sog innergesellschaftlicher und regionaler Konflikte, die inzwischen seine Existenz bedrohen.
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