Anfragebeantwortung zum Irak: Informationen zu den seit Sommer 2018 stattfindenden Protesten sowie die Rolle der Milizen und der übrigen Sicherheitskräfte bei den Protesten; Schutzgewährung des Staates bei Verfolgung durch Milizen [a-10698-5 (10702)]

7. September 2018

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Informationen zu den seit Sommer 2018 stattfindenden Protesten sowie die Rolle der Milizen und der übrigen Sicherheitskräfte bei den Protesten

Der in Doha ansässige arabische Nachrichtensender Al Jazeera schreibt in einem Artikel vom 4. September 2018, dass sich am ersten September 2018 etwa 150 DemonstrantInnen beim Haupteingang des großen irakischen Ölfeldes Nahr Bin Omar versammelt und gedroht hätten, in das Gelände einzudringen und die Ölförderung zu stören. Tausende Weitere hätten sich in der naheliegenden Stadt Basra vor dem Hauptquartier der Provinzialregierung versammelt und die unverzügliche Aufhebung der Missstände bezüglich der Erbringung von Dienstleistungen, der Arbeitslosigkeit und der Wasserverschmutzung gefordert. Mindestens sechs Personen seien bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt und 16 Personen verhaftet worden. Diese Demonstrationen seien kein Einzelfall. Die Proteste hätten sich im Sommer 2018 in den südlichen Provinzen des Irak ausgebreitet. Anfang des Sommers hätten mit Milizen verbündete irakische Sicherheitskräfte mindestens 14 Demonstranten getötet und mehr als 200 verhaftet. Gleichzeitig sei das Internet abgeschaltet worden, um die Kommunikation zwischen den AktivistInnenen zu unterbinden:

„On September 1, some 150 protestors gathered at the main entrance of Iraq's large oilfield, Nahr Bin Omar, threatening to break in and disrupt production. Thousands of others assembled in front of the provincial government's headquarters in the nearby city of Basra, demanding that their grievances over service provision, unemployment and water pollution be addressed immediately. At least six were injured in clashes with the police and 16 arrested. These demonstrations have not been an isolated incident. Protests spread across the southern provinces of Iraq this summer, fuelled by frustration over lack of services, economic inequality and unemployment in a region full of lucrative oil deposits. Incapable of meeting the demands of protesters, the Iraqi government has resorted to a combination of coercive measures and collective bribing. Earlier in the summer, Iraqi security forces, allied with militias, killed at least 14 protesters and arrested more than 200, while the internet was shut down to prevent communication between activists.” (Al-Jazeera, 4. September 2018)

Die US-amerikanische Tageszeitung Washington Post (WP) schreibt in einem Artikel vom 5. September über dieselben Proteste. Laut dem Artikel hätten die Sicherheitskräfte am 3. und 4. September 2018 bei wütenden Protestmärschen, die in der Stadt Basra stattgefunden hätten und die sich gegen Regierungskorruption und mangelnde Grundversorgung gerichtet hätten, sechs Demonstranten getötet. Die Gewaltspirale habe im ganzen Land Aufrufe zu Solidaritätsprotesten hervorgerufen. AktivistInnen würden versuchen, eine Protestkampagne wiederzubeleben, die Anfang Juli 2018 begonnen habe und die sich gegen die unregelmäßige Elektrizitätsversorgung, das ungenießbare Wasser, die Arbeitslosigkeit und die Frustration mit dem politischen System wende, das fast vier Monate nach den Parlamentswahlen noch keine neue Regierung gebildet habe. Premierminister Haider al-Abadi, der mit der Unterstützung Washingtons eine zweite Amtszeit anstrebe, habe eine Untersuchung zum Tod eines Demonstranten angeordnet, der mutmaßlich am 3. September 2018 in Basra durch scharfe Munition getötet worden sei. Abadi habe die Sicherheitskräfte aufgefordert, friedliche Demonstrationen abzusichern und zu ermöglichen und er habe die Demonstranten ermahnt, das Provozieren von Behörden und das Beschädigen von Regierungseigentum zu unterlassen. Dies habe das Stattfinden erneuter Demonstrationen tags darauf nicht verhindert, bei denen Steine und Molotow-Cocktails auf Gebäude der lokalen Regierung geworfen worden seien, was wiederum Warnschüsse und Tränengas vonseiten der Sicherheitskräfte nach sich gezogen habe. Gesundheitsbeamte in Basra, der größten Stadt im südlichen, schiitischen Kernland des Irak, hätten gesagt, dass in der Nacht des 4. September fünf Demonstrierende getötet und fast zwei Dutzend verletzt worden seien. Ein Sicherheitsoffizier habe dem irakischen Staatsfernsehen gegenüber gesagt, dass auch 22 Mitglieder der Sicherheitskräfte verletzt worden seien:

„Iraqi authorities braced for a fresh round of violent protests Wednesday after security forces killed six demonstrators over the last two days during angry marches in the southern city of Basra over government corruption and a lack of basic services. The spasm of violence has raised calls for solidarity protests throughout the country, as activists seek to revive a campaign that began in early July over spotty electricity, undrinkable water, unemployment and frustrations with a political system that has failed to name a new government nearly four months after national elections. […] Prime Minister Haider al-Abadi, who is seeking a second term in office with Washington’s backing, ordered an investigation into the death of a protester who was apparently killed by live fire late Monday in Basra. He also told security forces to protect and facilitate peaceful demonstrations and urged protesters to refrain from provoking authorities and damaging government property. That did not deter renewed demonstrations Tuesday in which stones and molotov cocktails were hurled at local government buildings, drawing warning shots and tear gas from security forces. Local health officials in Basra, Iraq’s largest city in the nation’s southern Shiite heartland, said five demonstrators were killed Tuesday night and nearly two dozen were injured. A security official told Iraq’s state television that 22 members of security forces were also injured.” (WP, 5. September 2018)

Laut einem Artikel des deutschen Auslandsrundfunksenders Deutsche Welle (DW) vom Juli 2018 hätten im Juli 2018 im Südirak enorme Temperaturen geherrscht, die zu einer Massenmobilisierung des Volkes gegen Korruption, desolate Dienstleistungen und Arbeitslosigkeit eskaliert seien. Die - zwei Wochen vor Veröffentlichung des Artikels - in Basra begonnenen Massenproteste hätten sich seither auf neun überwiegend schiitische Provinzen im Süden des Landes und auf die Hauptstadt Bagdad ausgeweitet. Gebäude des Provinzrates seien belagert, Büros der politischen Parteien gestürmt und schiitische Milizen angegriffen worden. Ein Flughafen sei in Brand gesteckt und Öl- und Hafenanlagen seien blockiert worden. Mindestens ein Dutzend Demonstrierende seien getötet und hunderte verwundet worden, entweder von Milizen oder von unbekannten Bewaffneten. Hunderte Weitere seien verhaftet worden und der Internetzugang sowie der Zugang zu Social-Media seien - in dem Bestreben, die Proteste zu stoppen - eingeschränkt worden.

Die Proteste im Südirak des Sommers 2018 würden sich jedoch von den Protesten vorangegangener Sommer unterscheiden. Sie seien „organisch“, führungslos, größer in Umfang und Reichweite und vor allem würde es darum gehen, dass sich die Schiiten des Südens gegen die schiitische politische Klasse und die Milizen, die vorgeben würden, sie zu repräsentieren, auflehnen würden:

„July has witnessed soaring temperatures in southern Iraq that have boiled over into popular mass mobilization against corruption, wretched services and unemployment. Mass protests that started in Basra two weeks ago have since spread to nine predominantely Shiite southern provinces and the capital, Baghdad. Provincial governorate buildings have been sieged, political party offices stormed, Shiite militias attacked, an airport torched, and oil and port facilities blocked. At least a dozen protesters have been killed and hundreds wounded, either by militia or unknown gunmen. Hundreds more have been arrested and internet and social media curtailed in a bid to stop the protests. […]

However, this summer's protests in southern Iraq are distinct from previous ones. They are organic and leaderless; larger in scale and scope; and pivotally, constitute Shiites of the south rising up against the Shiite political class and militias that claim to represent them. Few political parties have been spared from the backlash, including Prime Minister Haider al-Abadi's Dawa and Badr Organization leader Hadi al-Ameri's Fatah Alliance, made up of Iran-backed Shiite militia that fought against the ’Islamic State‘ (IS).” (DW, 22. Juli 2018)  

Middle East Eye (MEE) ist eine in London ansässige, unabhängig finanzierte Online-Nachrichtenorganisation, die Artikel freiberuflicher Journalisten und Beiträge von Think Tanks veröffentlicht. MEE schreibt in einem Artikel vom Juli 2018, dass am 20. Juli 2018 im gesamten Irak große Proteste angesetzt gewesen seien, da sich die Wut über Stromausfälle, Arbeitslosigkeit und Wasserknappheit im Süden sowie die grobe Reaktion der Regierung auf die Demonstrationen weiter gesteigert habe. Die Demonstranten hätten versucht, sich auf dem Tahrir-Platz in Bagdad sowie auf öffentlichen Plätzen im ganzen Land zu versammeln, nachdem eine steigende Zahl von Todesopfern und Berichte über willkürliche Verhaftungen durch Sicherheitskräfte und Milizen die Ressentiments verstärkt hätten. Tausende hätten sich in der Stadt Nasirija (Provinz Dhi Qar) versammelt, die ein Brennpunkt für Proteste im Süden gewesen sei. Seit die Proteste vor weniger als zwei Wochen vor Veröffentlichung des Artikels begonnen hätten, seien mindestens 16 Menschen getötet und Hunderte verwundet oder verhaftet worden.

Einige AktivistInnen hätten die Zahl der Todesopfer wesentlich höher angesetzt, aber das wiederholte Abschalten des Internets habe das Dokumentieren der gewaltsamen Übergriffe erschwert. Das Verteidigungsministerium habe behauptet, dass 274 Mitglieder der Sicherheitskräfte verletzt worden seien. Das irakische Hochkommissariat für Menschenrechte habe mitgeteilt, dass während der Proteste im Süden 336 Personen verhaftet und anschließend wieder freigelassen worden seien. Amnesty International habe Quellen aus Bagdad zitiert, nach denen DemonstrantInnen - unter Ausnützung der Internet-Blackouts - geschlagen und getötet worden seien.

In den Provinzen Basra, Maisan, Dhi Qar, Babil, Diwaniya (Hauptstadt der Provinz Qadisiya, Anmerkung ACCORD), Wassit, Nadschaf, Muthanna und Kerbala sei es zu Massenprotesten gekommen. Abgesehen von den Klagen über Korruption, unzureichende öffentliche Dienstleistungen und den Mangel an Arbeitsplätzen hätten Viele ihre Wut auf den Iran gerichtet, der im Irak als überwältigende Macht wahrgenommen werde und der eine Reihe von bewaffneten Gruppierungen unterstütze. Bei einem Protest in Bagdad am 19. Juli 2018 hätten die Demonstranten "Nicht Sunni, nicht Shia, säkular, säkular, säkular!" gesungen und wären anschließend auf iranischen Flaggen herumgetrampelt, sowie auf Flaggen der Haschd al-Scha’abi (auch Popular Mobilization Forces, PMF oder Popular Mobilization Units, PMU), mächtiger Milizen, die von der Islamischen Republik unterstützt würden und beschuldigt worden seien, konfessionell motivierte Übergriffe auf Sunniten verübt zu haben:

„Major protests were set to take place across Iraq on Friday as anger continued to mount over power cuts, unemployment and water shortages in the south, as well as the heavy-handed government response to demonstrations. Protesters attempted to gather in Baghdad's Tahrir Square, as well as in public spaces across the country, as a mounting death toll and reports of arbitrary arrests by security forces and militias stoked resentment. Thousands gathered in Nasiriyah, Dhi Qar province, which has been a hotspot for protests in the south. Placards and Twitter hashtags referred to a ‘hunger revolution’. At least 16 people have been killed and hundreds wounded and arrested since protests began less than two weeks ago in Basra over power cuts and high water salination. Some activists have put the death toll much higher, but repeated government shutdowns of the internet have made documenting the violence difficult. The Ministry of Defence has claimed that 274 security personnel have been injured. In a statement on Friday, military spokesperson Brigadier General Yahya Rasool said that the ‘right to peaceful protest is guaranteed by the Iraqi constitution’ and that Prime Minister Haider al-Abadi had ‘instructed the security forces to facilitate and protect peaceful protests’. However, the Iraqi High Commission for Human Rights said on Friday that 336 people had been arrested and then released during the protests in the south. Amnesty International quoted sources in Baghdad saying that protesters were being ‘beaten and killed’ under the cover of the internet blackouts. […]

The provinces of Basra, Maysan, Dhi Qar, Babil, Diwaniyah, Wassit, Najaf, Muthanna and Kerbala have all seen mass protests. In addition to complaints about corruption, poor public services and a lack of jobs, many have directed their anger towards Iran, which is seen as holding overwhelming power in the country, supporting a number of armed groups. A protest in Baghdad on Thursday evening saw protesters chanting ‘Not Sunni, not Shia, secular, secular!’ and then stamping on the flags of Iran and the Hashd al-Shaabi, powerful militias backed by the Islamic Republic which have been accused of sectarian abuses against Sunnis[.]” (MEE, 20. Juli 2018)

Laut einem Artikel der israelischen Tageszeitung The Jerusalem Post (JPost) vom Juli 2018 würden die Massenproteste im Irak auf pro-iranische Milizen und Parteien abzielen. Die JPost schreibt, dass im Zuge der Proteste der Flughafen von Nadschaf geplündert, die Grenze zu Kuwait von Demonstranten besetzt, und die Straßen zu den großen Ölfeldern im Südirak blockiert worden seien. Der Stützpunkt einer iranfreundlichen Kata'ib Hisbollah-Miliz sei in Brand gesteckt worden. Als Reaktion darauf habe Bagdad den Zugang zu Internet- und Social-Media-Apps unterbunden und Eliteeinheiten zur Terrorismusbekämpfung sowie die Armee entsandt, um die sich ausbreitenden Proteste einzudämmen.

Die DemonstrantInnen – obwohl viele von ihnen selbst Schiiten seien– hätten sich über den überwältigenden Einfluss des Iran im Irak beklagt. Am Freitag hätten sich die DemonstrantInnen auch gegen die Miliz und die Parteibüros der Kata'ib Hisbollah in Nadschaf sowie der Dawa-Partei, der Badr-Organisation und der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq gewandt, die alle eng mit dem Iran und dessen islamischen Korps der Revolutionsgarden (IRGC) verbunden seien. Laut dem Irakexperten Haydar Al-Khoei hätten die DemonstrantInnen unter Bezugnahme auf das Persische Reich "die iranische Dawa-Partei, die Safawiden" skandiert - ein Versuch, die modernen vom Iran unterstützten Parteien im Irak als eine Form der iranischen Übernahme des Landes darzustellen.

Die Regierung in Bagdad habe auf die Unruhen reagiert, indem sie Polizeibeamte entlassen und - um die Ordnung aufrechtzuerhalten - die Sicherheitskräfte entsandt habe, einschließlich der von der Koalition gegen den „Islamischen Staat“ (IS) trainierten Eliteeinheit zur Terrorismusbekämpfung, dem Counter-Terrorism Service (CTS). Die Entsendung der Eliteeinheiten für das Vorgehen gegen Randalierer werde als Bagdads Art angesehen, eine unparteiische anstelle einer miliznahen Einheit zur Bewältigung des Problems zu entsenden. Die CTS-Mitarbeiter sollten als unparteiische Akteure und als Helden des Krieges gegen den IS wahrgenommen werden. Es handle sich dabei jedoch um eine plumpe Taktik, die nach hinten losgehen könne, da sich die CTS und andere Streitkräfte mitten im Kampf gegen den IS nördlich von Bagdad befunden hätten und ihre Versetzung den Druck von den Extremisten nehmen werde:

„Mass protests sweep Iraq, target pro-Iran militias and parties

Najaf airport has been sacked. The border with Kuwait has been occupied by protesters and roads to major oil fields blocked in southern Iraq. The base of a Kata’ib Hezbollah pro-Iranian militia was set on fire. In response Baghdad has cut off access to Internet and social media apps, and sent elite counter-terrorism units, as well as the army, to quell the spreading protests. […]

Many Shi’ite pilgrims come from Iran to Iraq, and although many of the protesters were also Shi’ite, they were complaining that Iran’s influence in Iraq was overbearing. On Friday, protesters also targeted militia and party offices of Kata’ib Hezbollah in Najaf as well as of Dawa, Badr and Asa’ib Ahl al-Haq, all of which are closely connected to Iran and the Islamic Revolutionary Guard Corps. According to Iraq expert Haydar Al-Khoei, the protesters chanted ’the Iranian Dawa party, the Safavids,’ a reference to the Persian Empire and an attempt to portray modern day Iranian-backed parties in Iraq as a form of Iranian takeover of the country. […]

Baghdad has responded to the unrest by sacking police officials and dispatching the security forces, including the elite coalitiontrained Counter-Terrorism Service [CTS], to maintain order. Sending the elite units to deal with rioters is seen as Baghdad’s way of sending a non-partisan unit, rather than militia-aligned ones, to tackle with the problem. The CTS personnel are supposed to be perceived as neutrals and heroes of the war on ISIS. However, it is a heavy-handed tactic that could backfire. The CTS and other forces were in the middle of fighting ISIS north of Baghdad; redeploying them will take the pressure off the extremists.” (JPost, 16. Juli 2018)

Middle East Eye (MEE) schreibt in einem Artikel von 17. Juli 2018, dass seit Beginn der Demonstrationen am 8. Juli 2018 die DemonstrantInnen Regierungsgebäude und Zweigniederlassungen von politischen Parteien und mächtigen schiitischen bewaffneten Gruppierungen angegriffen und den internationalen Flughafen in der heiligen Stadt Nadschaf gestürmt hätten. Am 17. Juli hätten Mitglieder der vom Iran unterstützten Asa‘ib Ahl al-Haqq-Miliz davor gewarnt, hart gegen DemonstrantInnen vorzugehen, die versuchen würden, ihre Büros anzugreifen. Sie hätten in einer Pressekonferenz gesagt, dass sie jenen, die ihre Büros angreifen wollten, die Hände abhacken würden. Darüber hinaus hätten sie die DemonstrantInnen als Teil eines zionistisch-amerikanischen, golfarabisch-türkischen Komplotts bezeichnet:

„Since demonstrations began nine days ago, protesters have attacked government buildings, branches of political parties and powerful Shia armed groups, and stormed the international airport in the holy city of Najaf. On Tuesday, members of the Iran-backed Asaib Ahl al-Haq militia warned that they would deal harshly with protesters who attempted to target their offices. ‘If your hands reach our offices, we will cut them off,’ they said in a news conference. ‘These evil crows are part of a Zionist-American, Gulf-Turkish plot.’” (MEE, 17. Juli 2018)

Die israelische Tageszeitung Haaretz schreibt im Juli 2018, dass ein Sicherheitsbeamter am 20. Juli 2018 laut polizeilicher Quellen außerhalb einer Zweigstelle einer der mächtigsten paramilitärischen Gruppen des Irak einen Demonstrierenden erschossen habe, während er versucht habe, eine Menschenmenge zurückzudrängen. Zwei Menschen seien verwundet worden, als DemonstrantInnen vor dem örtlichen Hauptquartier der vom Iran unterstützten Badr-Organisation mit Ziegelsteinen und Steinen geworfen hätten:

„A security guard outside a branch of one of Iraq's most powerful paramilitary groups shot and killed a protester on Friday while trying to push back a crowd, police sources said, ratcheting up tensions over a lack of basic services sweeping southern cities. Two people were wounded when demonstrators throwing bricks and stones gathered outside the local headquarters of the Iranian-backed Badr Organisation.” (Haaretz, 21. Juli 2018) 

The New Arab (Al Araby Al Jadeed), ein 2014 in London gegründetes Medienunternehmen, berichtet in einem Artikel vom Juli 2018, dass der Zornesausbruch der Bevölkerung Premierminister Haider al-Abadi gezwungen habe, seine Reise zum NATO-Gipfel in Brüssel zu verkürzen und direkt nach Basra zu reisen, um zu versuchen, die öffentlichen Wutbekundungen zu besänftigen, nachdem die Sicherheitskräfte einen unbewaffneten Demonstrierenden getötet hätten. Anstatt eine Eskalation der Gewalt zu verhindern und zu versprechen, gewalttätige schiitische Milizen und unbändige Sicherheitskräfte zur Rechenschaft zu ziehen, seien bis Anfang der Woche neun weitere Iraker getötet worden, wobei weitere Videoaufnahmen veröffentlicht worden seien, auf denen die leblosen Körper der Opfer von Staats- und Milizengewalt zu sehen seien. DemonstrantInnen und deren UnterstützerInnen in den sozialen Medien hätten Abadi beschuldigt, außerstande zu sein, gewalttätige Polizei-, Militär- und paramilitärische Einheiten zu kontrollieren, einschließlich der vom Iran unterstützten schiitischen Milizionären in den PMF - einer militanten Gruppe, die nun offiziell zu den irakischen Streitkräften gehöre. Die PMF und ihre einzelnen Milizen würden oft nur den Befehlen ihrer eigenen lokalen Kommandeure oder denen des iranischen Islamischen Korps der Revolutionsgarden (Islamic Revolutionary Guard Corps, IRGC) folgen und würden damit die Rolle des Premierministers als Oberbefehlshaber völlig untergraben.

PMF-Milizen, darunter die berüchtigte konfessionell motivierte Asa'ib Ahl al-Haqq-Miliz, die Harakat Hisbollah al-Nudschaba-Gruppe und die Kata'ib Hisbollah, hätten alle an der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste teilgenommen; dies habe sich in der ersten Protestwoche im Anschluss an das in Brand setzen der Büros der Dawa-Partei und der mit dem IRGC verbündeten Milizen durch Demonstranten ereignet. Schiitische arabische Demonstranten seien gehört werden, wie sie verschiedene politische Parteien und militante Gruppen als "Iraner" beschimpft und sie als "Safawiden" bezeichnet hätten, in Anlehnung an das schiitisch-persische Reich, das jahrhundertelang gegen die osmanischen Türken gekämpft habe, um die Kontrolle über den Irak zu erlangen. Die Verwendung des Begriffs "Safawide" werde in der Regel mit sunnitischen Gruppen in Verbindung gebracht, die das ehemalige persische Reich auf Grund ihrer konfessionell motivierten Pogrome in Bagdad und anderen Städten kritisch sehen würden. Somit sei seine Verwendung durch schiitische Iraker möglicherweise ein Hinweis auf das Ausmaß und die Tiefe des Zorns gegenüber dem iranischen Interventionismus im Irak. Offene Kritik an pro-iranischen Gruppen werde im Irak jedoch selten geduldet, und Funktionäre der Dawa-Partei hätten schnell reagiert, besonders nachdem sich die Proteste nach Bagdad ausgebreitet hätten, was dazu geführt habe, dass Politiker und Milizführer nervös geworden seien. In der arabischsprachigen Ausgabe des New Arab sei berichtet worden, dass Saad al-Muttalibi, ein dem ehemaligen Premierminister Nuri al-Maliki treuer Parteifunktionär der Dawa, die Demonstranten als kleine Kinder bezeichnet und behauptet habe, sie seien mit der verbotenen Baath-Partei des ehemaligen Diktators Saddam Hussein verbündet. Muttalibi, der auch im Sicherheitsrat von Bagdad tätig sei, habe gesagt, dass seine Partei Informationen habe, nach denen DemonstrantInnen im Distrikt Schola versucht hätten, Sabotageakte zu unterstützen, was jedoch von politischen Parteien und Sicherheitskräften vereitelt worden sei – diese hätten eine brutale Razzia auf Dissidenten durchgeführt. AktivistInnen in Bagdad hätten gesagt, sie hätten Kundgebungen organisiert, aus Solidarität mit ihren Landsleuten in Basra, Nadschaf und anderen Großstädten, und weil bei ihnen die gleichen Missstände vorherrschen würden. Nichtsdestotrotz seien Anti-Terror-Einheiten gegen sie entsandt worden. Dies sei nicht das erste Mal, dass Muttalibi eine große Kontroverse entfacht habe. Anfang 2017, während der Schlacht um Mosul, habe Muttalibi bei einem Auftritt beim türkischen Nachrichtensender TRT World offen zugegeben, dass seine Regierung Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren durchführe. Als er von einem anderen Diskussionsteilnehmer darüber informiert worden sei, dass er offensichtlich dabei sei, Kriegsverbrechen zuzugeben, sei er in Gelächter ausgebrochen. Eine solche Missachtung der internationalen Menschenrechtsgesetze habe wohl ein Umfeld der Straflosigkeit gefördert, in dem PMF-Milizionäre und Sicherheitskräfte DemonstrantInnen entführen, foltern und manchmal sogar töten würden. Der irakische Redakteur von Al Jazeera Arabic, Hamid Hadeed, hätte berichtetet, dass ein junger Mann, Mohammed al-Schakir, entführt und ermordet worden sei, bevor er auf den Straßen von Nadschaf „abgeladen“ worden sei - als Botschaft für andere Demonstranten. Das Opfer sei ein schiitischer Aktivist gewesen, der von schiitischen Milizen ermordet worden sei:

„The eruption of anger forced Prime Minister Haider al-Abadi to cut short his trip to the NATO summit in Brussels last week and head straight to Basra to try and calm public fury after security forces killed an unarmed demonstrator. Rather than prevent an escalation of the violence, and promising to hold violent Shia militias and unruly security forces to account, nine more Iraqis were killed by the start of the week, with more video footage emerging showing the lifeless bodies of victims of state and militia violence. Demonstrators and their supporters on social media have accused Abadi of being incapable of controlling violent police, military and paramilitary units, including Iran-backed Shia militants in the Popular Mobilisation Forces (PMF) - a militant group that is now formally a part of the Iraqi armed forces. The PMF and its constituent militias often only follow the orders of their own local commanders, or Iran's Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC), completely undermining the prime minister's role as commander-in-chief. […]

PMF militants, including the notoriously sectarian Asa'ib Ahl ul-Haq militia, the Harakat Hizballah al-Nujaba group, and Kata'ib Hizballah, have all taken part in violently suppressing protests. This follows the torching of the ruling Dawa Party's offices and those of IRGC-linked militias by demonstrators in the first week of the protests. Shia Arab protesters could be heard cursing various political parties and militant groups as ‘Iranians’ and not Iraqis, and branding them ‘Safavids’, in reference to the Shia Persian empire who fought against the Ottoman Turks for control over Iraq for centuries. The use of the term ‘Safavid’ is more usually associated with Sunni groups who remain critical of the former Persian empire for their sectarian pogroms in Baghdad and other cities - so its use by Shia Iraqis is perhaps indicative of the scale and depth of the anger against Iranian interventionism in Iraq. Open criticism against pro-Iran groups is rarely tolerated in Iraq, however, and Dawa Party officials have been quick to react, especially after protests spread to Baghdad, causing politicians and militia leaders to become jittery. The New Arab's Arabic language service reported that Saad al-Muttalibi, a Dawa Party official loyal to former Prime Minister Nouri al-Maliki, described the protesters as ‘little children’ and claimed they were linked to the proscribed Baath Party of former dictator Saddam Hussein. Muttalibi, who also serves on the Baghdad security council, said his party had information that demonstrators in the Shola district were attempting to ‘encourage acts of sabotage’, but had been thwarted by political parties and security forces, who arranged a brutal crackdown on dissent. Activists in Baghdad say they organised demonstrations in solidarity with their countrymen in Basra, Najaf and other major cities, and because they shared the same grievances. Nevertheless, counter-terrorism forces have been deployed against them. This is not the first time that Muttalibi has fuelled major controversy. In early 2017, during the battle for Mosul, Muttalibi openly admitted during an appearance on TRT World [TRT: Turkish Radio and Television Corporation] that his government was conducting executions without trial. When he was informed by another panellist that he was in fact admitting to war crimes, Muttalibi burst out in laughter. Such disregard for international human rights law has likely encouraged an environment of impunity, as PMF militants and security forces abduct, torture and sometimes kill demonstrators. Al Jazeera Arabic's Iraq editor, Hamid Hadeed, reported that a young man, Mohammed al-Shakir, was kidnapped and murdered before being dumped on the streets of Najaf as a message to other protesters. The victim was a Shia activist killed by Shia militias.“ (The New Arab, 19. Juli 2018)

Schutzgewährung des Staates bei Verfolgung durch Milizen

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll und die Mitgliedsstaaten unter anderem durch Recherche von Herkunftsländerinformationen und entsprechende Publikationen unterstützt, veröffentlicht im Juli 2017 einen Bericht über ein Meeting zum Irak, in dem Experten ihre Einschätzung zur aktuellen Lage abgeben. Joost Hiltermann, der Direktor des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika von der International Crisis Group (ICG), gibt an, dass die Milizen der Volksmobilisierungseinheiten auf Grund der Schwäche des irakischen Staates ungestraft handeln könnten. Ihre vor kurzem vollzogene Eingliederung in die Regierungskräfte sei nach Hiltermann eher formaler als realer Natur - eine Formalität, um den Schein zu wahren. Dies bedeute laut Hiltermann, dass es keine formale Autorität gebe, die die Fähigkeit besäße, die Milizen zu kontrollieren:

„The militias have been able to act with impunity because of the weakness of the Iraqi state. Their recent integration into government forces is, according to Dr. Hiltermann, more nominal than real, a formality to keep up appearances; meaning there is no formal authority with the capacity to control them. Their involvement in the fight against IS in the north has created new geopolitical problems.” (EASO, Juli 2017, S. 12)

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im April 2018 erschienenen Bericht zur Menschenrechtslage, dass die Regierung, darunter auch das Amt des Premierministers, im Berichtszeitraum 2017 Vorwürfe von Missbrauch und Gräueltaten durch die irakischen Sicherheitskräfte untersucht habe; bis Ende des Jahres 2017 seien die Ergebnisse einiger dieser Ermittlungen öffentlich bekannt gegeben worden. USDOS schreibt weiters, dass es für Regierungsbeamte und Sicherheitskräfte, einschließlich der kurdischen Peschmerga und der PMF in der Praxis Straflosigkeit gebe:

„The government, including by the Office of the Prime Minister, investigated allegations of abuses and atrocities perpetrated by the ISF; by year’s end the results of some of these investigations were made public. The Kurdistan Regional Government (KRG) High Committee to Evaluate and Respond to International Reports reviewed charges of Peshmerga abuse, largely against IDPs, and exculpated them in public reports and commentaries. Impunity effectively existed for government officials and security force personnel, including the Peshmerga and PMF.” (USDOS, 20. April 2018, Executive Summary)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. September 2018)