Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Lage von alleinstehenden geschiedenen Frauen mit Kind [a-10624-1]

29. Juni 2018

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Informationen zu diesem Thema entnehmen Sie bitte auch dem bereits etwas älteren Bericht des European Asylum Support Office (EASO) vom September 2014 zu Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder in Tschetschenien sowie einer Anfragebeantwortung der BFA Staatendokumentation vom Mai 2017 zur Situation von Frauen, unter anderem in Tschetschenien:

·      EASO – European Asylum Support Office: Tschetschenien: Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder in Tschetschenien, September 2014
https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf

·      BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Situation von Frauen in RUSS und TSNE (Sorgerecht, Frauenhäuser, häusliche Gewalt), 8. Mai 2017 (Login der BFA Staatendokumentation erforderlich)
https://www.ecoi.net/en/file/local/1399583/5209_1494584659_russ-mr-sog-situation-frauen-in-russ-und-tsne-sorgerecht-frauenhaeuser-haeusliche-gewalt-2017-05-09-ke.doc

 

In einem Artikel vom Jänner 2017 zu tschetschenischen Frauen, die versuchen in die EU zu gelangen, der von der unabhängigen Medienplattform openDemocracy veröffentlicht wurde, wird eine Frau namens Layla erwähnt, die sich in Tschetschenien habe scheiden lassen und danach ein neues Leben habe beginnen wollen. Der gesellschaftliche Druck und die mit der Scheidung einhergehende Stigmatisierung seien jedoch so groß gewesen, dass sie sich dazu entschieden habe, Tschetschenien zu verlassen:

„Layla is an attractive divorcee in her forties with big blue eyes and a wide shiny simile. Her headscarf has a colourful floral pattern and she gives the impression of being an optimist. But her mood often sours. ‘In such moments I would like to recall some good times, but I do not have such memories,’ Layla tells me. ‘I got married in 1993 and in 1994 the war started.’ After getting divorced Layla wanted to start a new life in Chechnya, but the social pressure and stigma associated with divorce were so unbearable she decided to leave. ’Now the situation in Chechnya is worse than during the war’, she adds. ‘At least back then you could run away, now you cannot.’“ (openDemocracy, 16. Jänner 2017)

Takie Dela, das Informationsportal des wohltätigen Fonds Nuschna Pomoschtsch (russisch für „Es wird Hilfe benötigt“), veröffentlicht im August 2017 einen Artikel zu Frauen in Tschetschenien, die unter häuslicher Gewalt leiden. Libkan Bassajewa, die Leiterin der NGO „Frauen für Entwicklung“ verteidige die Rechte von Frauen, die unter Gewalt in der Familie leiden würden. Allerdings sei es für Frauen in Tschetschenien nicht leicht, für ihre Rechte zu kämpfen, da im Nordkaukasus die Traditionen fast wichtiger als die Gesetze seien. Wenn ein Mann in Moskau oder Nischnij Nowgorod seine Frau schlage, könne sie sich scheiden lassen. In Tschetschenien sei eine Scheidung für alle Familienmitglieder eine Schande und ein Skandal. Häufig würden Verwandte die Frau nicht unterstützen und ihr sagen, dass sie selbst daran schuld sei, dass der Mann sie schlage und erniedrige. Die Frau könne nirgendwo hingehen, und wenn sie doch gehe, sehe sie vielleicht ihre Kinder niemals wieder. In Russland werde das Kind häufig bei der Mutter belassen, so Libkan Bassajewa, in Tschetschenien sei es andersherum. Wenn das Kind aufwachse, benötige es die Verbindungen der väterlichen Linie. Die Nähe zum Vater sei wichtiger als die Nähe zur Mutter. Für Jungen und Mädchen sei es eine Schande, die Verwandten väterlicherseits nicht zu kennen und nicht zu ehren. Wenn ein Mann keine Kinder habe, sei es auch eine Schande. Wenn ein Mann seine Kinder im Stich lasse und diese bei der Mutter blieben, sei es ebenfalls eine Schande und der Mann gelte als nicht vollwertig. All dies führe dazu, dass die Kinder von der Mutter getrennt würden und langwierige nervliche und psychologische Probleme beginnen würden. Laut Maret, der Psychologin der NGO, würden sich die Menschen in Russland auf menschliche Art und Weise scheiden lassen. Sie würden im Frieden auseinandergehen und sich einigen, bei wem die Kinder bleiben würden. Es gebe mehr geschiedene Paare, bei denen beide die Möglichkeit hätten, die Kinder zu sehen und sich um sie zu kümmern. In Tschetschenien gebe es praktisch noch keine Scheidungskultur, was zu vielen Problemen führe. In Tschetschenien gebe es Scheidungen nach der Scharia und ein Stempel über die Scheidung im Pass sei absolut nicht erforderlich.

Es gebe in Tschetschenien sehr große Hochzeiten, die ganze Verwandtschaft versammle sich, alles sei schön und feierlich, so Libkan Bassajewa. Die Ehe werde von einem Mullah geschlossen, dann gingen die Paare aufs Standesamt. Wenn es aber zu einer Scheidung komme, beginne das Chaos. Niemand kontrolliere die Scheidungen. Ein Mann müsse, wenn er sich scheiden lassen wolle, nur vor Zeugen zu seiner Frau sagen: „Ich habe dich verlassen“, und schon sei sie geschieden. Und es sei nicht wichtig, dass in ihrem Pass kein Stempel bezüglich der Scheidung sei. Laut Maret könnten die Menschen in Tschetschenien geschieden sein, dabei aber ihr ganzes Leben lang im Pass den Stempel über die Hochzeit haben und trotz des Stempels wieder und wieder heiraten. Gemäß dem Islam seien sie geschieden, das reiche aus. Derartige Scheidungen seien immer zu Ungunsten der Frau. Der Mann würde sie einfach rauswerfen, aber in diesem Fall werde sie wenigstens von ihren Verwandten aufgenommen. Wenn der Mann die Frau aber nicht „offiziell rauswerfe“, sei es schwerer für sie zu gehen. Wenn die Frau einfach gegangen sei, könne man ihr den Stempel „Hure“ („гулящая“) bzw. „untreu“ aufdrücken. Dann nehme sie die Familie nicht auf und schicke sie wieder zu ihrem Mann zurück.

Im Nordkaukasus gehe eine Frau, von der sich ein Mann habe scheiden lassen, als erstes ins Muftiat. Das sei die einzige Struktur, die versuche, Frauen vor Gewalt und Ungerechtigkeit zu schützen. Manchmal gingen der Mann und die Frau auch gemeinsam dorthin. Der Mufti höre sich beide Seiten an und versuche, sie vom Erhalt der Familie zu überzeugen oder sie friedlich zu scheiden, damit die Kinder geschützt seien und das Recht hätten, gleichermaßen mit Vater und Mutter Kontakt zu haben. Die Männer könnten aber auch im Muftiat alles dafür tun, um dessen Vertreter davon zu überzeugen, dass die Kinder nicht bei der Mutter bleiben sollten. Aber selbst wenn der Mufti der Mutter Recht gebe, könne der Mann einfach sagen, dass er sich dieser Entscheidung nicht beuge. Dagegen könne man nichts machen, denn alles, was der Mufti sage, seien nur Empfehlungen. Es gebe nur einen Ausweg – das Gericht. Der Gang zu Gericht wiederum sei aber ein Skandal und eine Schande für die ganze Familie, weshalb man versuche, den Gang zum Gericht zu vermeiden. Selbst wenn das Gericht auf der Seite der Frau sei, sei es möglich, dass seine Entscheidung nicht umgesetzt werde. Das Schlimmste, was dem Mann drohe, sei eine Strafe, weshalb auch das Gericht der Frau nicht wirklich helfen könne. Wenn die Frau von sich aus den Mann verlasse, behalte der üblicherweise die Kinder als Geiseln. Wenn die Frau die Kinder sehen und erziehen wolle, müsse sie bleiben und die Erniedrigungen ertragen. Es gebe Frauen, die dies täten, andere würden versuchen, für ihre Rechte zu kämpfen und zu Organisationen wie „Frauen für Entwicklung“ gehen. Laut Libkan Bassajewa könnten die Frauen kämpfen, wie sie wollten, aber ohne Unterstützung hätten sie keine Chance. Viele hätten kein Geld für einen Anwalt, sie würden ihre Rechte nicht kennen und keine Unterstützung von ihren Verwandten erhalten. Eine Scheidung in Tschetschenien sei ein richtiger Krieg und die Frauen seien meistens dazu verurteilt, diesen zu verlieren:

С утра Либкан Базаева выглядит уставшей. Не выспалась, до трех ночи в фейсбуке спорила, отвечала на комментарии. Мы сделали безобидные видеоролики о том, что детей нельзя разлучать с матерью. И такие комментарии пошли! Что женщина должна держать язык за зубами, терпеть ради детей что угодно — и тогда никто не отнимет у нее ребенка. А знаете, что им порой приходится терпеть?

Либкан 68. Она руководит в Грозном некоммерческой организацией Женщины за развитие. Вместе с психологом Марет и менеджером Бэлой они защищают права женщин, переживших насилие в семье.

Бороться за права самостоятельно женщинам в Чечне непросто. На Северном Кавказе традиции едва ли не важнее законов. Если в Москве или Нижнем Новгороде муж избивает жену, она может развестись. В Чечне развод для всех членов семьи — позор и скандал. Часто родные, вместо того чтобы поддержать, говорят женщине, что она сама виновата в том, что муж ее унижает или бьет. Не закрыла вовремя рот, не слушаешь, что говорит муж, отказываешься ему подчиняться. Идти ей некуда. А если она все-таки уйдет, может больше никогда не увидеть своих детей. […]

В России чаще всего ребенка оставляют с матерью. А у нас наоборот, — объясняет Либкан. — Ребенок вырастет, ему нужны будут связи по отцовской линии. Близость отца важнее, чем близость матери. Для парня и девушки позор не знать и не почитать свою родню по отцу. И если у мужчины нет детей, это тоже позорно. Бросил детей, оставил их с женщиной? Позор, не мужик! А заканчиваются все эти рассуждения разлукой детей с матерью и длительными нервными и психологическими проблемами.

В России люди умеют разводиться по-человечески, — рассказывает Марет. — Расходятся мирно, договариваются, с кем будут жить дети. Конечно, тоже бывает всякое. Но все-таки разведенных пар, в которых обе стороны имеют возможность видеться с детьми и заботиться о них, у вас больше, чем в Чечне. У нас культуры развода пока еще нет в принципе. И отсюда многие беды. […]

В Чечне разводятся по шариату (мусульманским законам) и штамп о разводе в паспорте вовсе не обязателен.

У нас очень пышные свадьбы. Собирается вся родня, все красиво и торжественно, — рассказывает Либкан. — Брак заключает мулла. Потом молодые идут в загс. А если доходит до развода, начинается хаос. Разводы никто не контролирует. Чтобы развестись, мужчине достаточно сказать женщине три слова при свидетеле: Я тебя оставил. И все, она разведена. И не важно, что у нее нет штампа о разводе.

Люди в Чечне могут жить в разводе, но со штампом о браке хоть всю жизнь и жениться с ним снова и снова, — говорит Марет. — По исламу разведены, и все. Такой развод всегда не в пользу женщины. Мужчина просто выставляет ее из дома: все, я тебя выгнал, уходи. Но в таком случае родные ее хотя бы принимают. А если мужчина не выгнал официально, уйти сложнее. Потому что если просто ушла, значит, можно повесить ярлыки гулящая, неверная. Семья не примет, будет отправлять женщину обратно к мужу».

На Северном Кавказе первым делом женщина, с которой развелся мужчина, идет в муфтият. Это единственная структура, которая пытается защитить женщин от насилия и несправедливости. Иногда муж и жена приходят вместе. Муфтий выслушивает обе стороны и пытается убедить сохранить семью. Или развести людей миром, чтобы дети были защищены, имели право общаться с отцом и матерью одинаково.

В муфтияте мужчины могут идти на ухищрения. Охаивают женщину, клевещут на нее, обвиняют в распутстве. Делают все, чтобы убедить представителей муфтията в том, что дети не должны быть с матерью. Но даже если муфтий оправдывает женщину, мужчина может сказать: Я не подчиняюсь вашему решению. И они ничего не могут сделать, потому что инструментов исполнения развода у муфтия нет. Все, что там говорится, носит рекомендательный характер. Выход один — суд. А суд — это скандал, позор для всей семьи. Судов стараются избегать. Но даже если суд встает на сторону матери, его решение тоже можно не исполнять. Максимум, что грозит мужчине за неисполнение, — штраф. Так что получается, что суд тоже женщине помочь не может.

В ситуации, когда женщина сама уходит от мужа, он, как правило, оставляет детей в заложниках. Хочешь их видеть и воспитывать, оставайся и терпи издевательства. Кто-то остается и терпит. Кто-то пытается бороться за свои права и идет в общественные организации, такие как Женщины за развитие‘.

Женщины борются как могут, но без поддержки им никак, — говорит Либкан. — У многих нет денег на адвоката, они не знают своих прав, их не поддерживают родственники. Развод у нас — настоящая война. И женщина чаще всего обречена ее проиграть.(Takie Dela, 18. August 2017)

Die englischsprachige russische Tageszeitung The Moscow Times berichtet in einem Artikel vom August 2017, dass in Tschetschenien eine spezielle Kommission eingerichtet worden sei, die auf Anweisung des Oberhauptes der Republik, Ramsan Kadyrow, damit begonnen habe, geschiedene Familien wiederzuvereinigen. Etwa 1.000 Familien seien nach Angaben des tschetschenischen Informationsministers wiedervereinigt worden und etwa 4.000 Familien würden noch wiedervereinigt. Kadyrow habe die Anweisung zur Wiedervereinigung der Familien erteilt, um das Problem der alleinstehenden Mütter zu lösen. Der russische Dienst von BBC News habe Kadyrow mit den Worten zitiert, dass die meisten geschiedenen Mütter den Vätern die Kinder wegnehmen wollten. Dann würden sie eine Wohnung in der Stadt mieten und um Unterstützung („charity“) bitten. Eine Frau habe ihm, Kadyrow, gesagt, sie benötige eine Unterkunft. Er habe sie nach ihrem Ehemann gefragt, worauf sie angegeben habe, dass dieser sie verlassen habe. Kadyrow habe ihr daraufhin mitgeteilt, dass er ihr geholfen hätte, wenn sie keinen Mann gehabt hätte. Sie habe aber einen Mann, den Vater ihrer Kinder. Daraufhin habe er zur Gründung der Kommission aufgerufen, um herauszufinden, warum sich die Leute scheiden lassen würden:

A special commission in Chechnya has begun ‘reuniting’ divorced families following an order earlier this year from the North Caucasus republic's leader Ramzan Kadyrov. Around 1000 separated families have been brought together again since July, Chechen Information Minister Dzhambulat Umarov told the opposition-leaning Dozhd television channel on Tuesday. ‘The reunification is like the most beautiful and romantic melodrama,’ he said, echoing the tone struck by Chechen media who have covered the initiative by airing scenes of happy couples. ‘I’ve seen this with my own eyes.’ Umarov added that another 4,000 families are due to be rejoined. ‘We need to move towards this goal,’ he said, adding ‘we will definitely achieve this.’

The Chechen strongman Kadyrov in July ordered the creation of a special commission of government officials and spiritual leaders to reunite the families and resolve the problem of single mothers. ‘Most [divorced] mothers want to take away their children from their fathers,’ he was cited as saying by BBC Russia. ‘They then rent an apartment in the city and start asking for charity. One of them told me she needs a home. I asked her: where is your husband? She said: he left me. ‘I told her: if you didn’t have a husband, I would help you. But you have a husband, the father of your children.’ Kadyrov then called for the creation of groups of spiritual leaders, village elders and district heads in every municipality to ‘figure out why people have divorced.’ ‘We need to preach, teach, help, and work on this issue,’ he said.” (The Moscow Times, 23. August 2017)

Die in Lettland ansässige, oppositionelle Internetzeitung Meduza schreibt in einem Artikel vom August 2017, dass für Ramsan Kadyrow die Wiedervereinigung von geschiedenen Partnern eine Priorität sei, weil Kinder, die bei geschiedenen Personen aufwachsen würden, empfänglicher für den Einfluss von Extremisten seien. Eine in Grosny lebende Frau namens Sarema habe angegeben, dass das Hauptargument der Behörden, die versuchen würden, Frauen zu einer Rückkehr zu ihren Männern zu bewegen, sei, dass es Kadyrows Wille sei. Wenn man sich weigere, verstoße man nicht nur gegen die Tradition und die religiösen Erwartungen, sondern auch gegen Kadyrows Wünsche. Es handle sich um eine Form der Einschüchterung. Es sei klar, dass man einwilligen müsse, wenn von allen Seiten Druck ausgeübt werde. EinwohnerInnen vor Ort hätten gemischt auf Kadyrows Aufruf zur Wiedervereinigung Geschiedener reagiert. Einige Frauen, deren Kinder bei ihren Ex-Männern geblieben seien, würden angeben, zurückzukehren, um wieder bei ihren Kindern sein zu können. Andere seien ausgesprochene KritikerInnen von Kadyrows Projekt. Eine Frau in Grosny habe angegeben, dass sie noch nicht kontaktiert worden sei, sie sich aber weigern würde, sollte sie kontaktiert werden, weil es sich bei der Wiedervereinigung um Gewalt gegenüber Personen handle. Ein Mann habe angegeben, man sei an ihn herangetreten mit dem Vorschlag, zu seiner Ex-Frau zurückzukehren, er habe sich aber geweigert. Allerdings sei die Praxis der Wiedervereinigung Geschiedener in Tschetschenien nicht neu, Irina Kosterina von der Heinrich-Böll-Stiftung habe angegeben, dass diese Praxis zumindest seit 2012 existiere:

„In early July, the head of the Chechen government, Ramzan Kadyrov, announced a new initiative to reconcile divorced partners. ‘We’ve got to wake people up, talk to them, and explain. We’ve got to return the women who left their husbands, and reconcile them. This is a priority,’ Kadyrov said, arguing that children raised in divorced homes are more susceptible to the influence of extremists. […]

According to Zarema, a woman living in Grozny, the authorities’ main argument when trying to persuade women to return to their husbands is that it’s Kadyrov’s will. ‘So it turns out, if you refuse, you’re not only going against tradition and religious expectations, but also against Kadyrov’s wishes. It’s a form of intimidation. Clearly, when everybody is pressuring you from all sides, you have to agree. How long these remarriages will last is another question,’ the woman told the website The Caucasian Knot.

Chechen locals have had mixed reactions to Kadyrov’s call for reconciliation between divorced couples. Some women whose children remained with their ex-husbands say they are returning to be with their kids again. Chechen TV is airing reports about these reunions.

Others have been outspoken critics of Kadyrov’s project. ‘I’ve been divorced for 12 years now. The commission hasn’t contacted me yet, but I’ll refuse, if it does. This is violence against people,’ Bariyat, a woman living in Grozny, told the BBC. An unidentified man told the same outlet that the commission had approached him about returning to his ex-wife, but he refused. ‘I said that I have no plans to come together again with the person whom I divorced seven years ago,’ he said.

This summer’s reconciliation efforts in Chechnya are nothing new. The practice has existed since 2012 at least, Radio Svoboda learned from Irina Kosterina, a coordinator for the Heinrich Böll Foundation. Three years ago, Kosterina says she attended a similar muftiat council meeting. She says they ‘constantly reported the resolution of something like 2,000 family conflicts.’ Kosterina says Kadyrov’s new project surprised her somewhat, insofar as officials are portraying the program to reconcile divorced spouses as something new. Historian Mairbek Vachagayev says spiritual figures were being used to reunite divorced couples during the Soviet era.“ (Meduza, 23. August 2017)

Die deutsche Tageszeitung Süddeutsche Zeitung (SZ) schreibt in einem Artikel vom Jänner 2018 Folgendes zu diesem Thema:

„Im August rief Ramsan Kadyrow, Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, eine Kommission ins Leben, die geschiedene Paare wieder zusammenbringen soll. Vertreter von Behörden, Sicherheitsorganen und Muftis sollen zusammen auf die Familien einwirken. Wie lange sie schon getrennt sind, spielt dabei keine Rolle. Mehr als 1000 Paare sollen sich diesem Druck laut Angaben der tschetschenischen Behörden schon gebeugt haben.

Ehescheidungen seien in großem Maße an den sozialen Problemen in der Region schuld, hatte Kadyrow im Sommer behauptet. Kinder von alleinerziehenden Müttern seien für Extremismus besonders empfänglich. Damit wird das Vorgehen gegen Geschiedene zu einem Teil des Kampfes gegen den Terrorismus. […]

Nicht allen Problemen in den Familien schenkt die tschetschenische Führung gleichermaßen Beachtung. In einer Umfrage der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2014 gaben 27 Prozent der befragten Frauen in der Republik an, sie seien von ihren Eltern zwangsverheiratet worden. In dieser Gruppe war die Scheidungsrate mit 65 Prozent enorm hoch. Außerdem erklärten fast 40 Prozent der Frauen, sie würden zu Hause geschlagen. Der vereinte Druck von Verwaltung und religiösen Führern trifft also gerade Frauen, die gegen ihren Willen verheiratet wurden und im schlimmsten Fall von ihren Männern geschlagen wurden.

Eine Scheidung war für viele Betroffene also schon früher kein leichter Schritt. In der stark traditionell geprägten Gesellschaft des Kaukasus setzt oft die ganze Familie die Einzelnen unter Druck, sich den Normen getreu zu verhalten. Eine geschiedene Frau kann Schande für den ganzen Klan bedeuten, während viele Männer sich Zweitfrauen nehmen und dafür nicht verurteilt werden. Zudem bleiben die Kinder in Tschetschenien traditionell nach der Scheidung bei den Vätern und werden von deren Familie versorgt und erzogen. Leichtfertig dürften Frauen daher ihre Männer nicht verlassen, bedeutet das doch oft, dass sie auch den Kontakt zu ihren Kindern verlieren.“ (SZ, 22. Jänner 2018)

Auch das US-Außenministerium erwähnt in seinem im April 2018 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2017, dass Ramsan Kadyrow Human Rights Watch (HRW) zufolge damit begonnen habe, geschiedene Familien wiederzuvereinigen. Laut Angaben von NGOs seien viele dieser Wiedervereinigungen erzwungen gewesen:

„According to Human Rights Watch, in June, Chechnya head Ramzan Kadyrov began an initiative to reunite divorced families. In August media reported the program had reunited 948 families. According to NGOs, many of these reunifications were forced.“ (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Der russische Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), einem vom US-Kongress finanzierten Rundfunkveranstalter, erwähnt in einem Artikel vom September 2017, dass es in Tschetschenien laut einer anonymen Gesprächspartnerin des Senders viele geschiedene Frauen gebe. Diese würden kein zweites Mal geheiratet, weil sie als „gebrauchtes Produkt“ angesehen würden:

Если уж речь зашла о гетеропарах, в Чечне очень много разведенных женщин. Их обычно не берут замуж второй раз, потому что считается, что это использованный продукт". Впрочем, чеченские власти озаботились и проблемой разводов: по распоряжению Рамзана Кадырова по всей республике созданы комиссии, которые мирят разведенных супругов.(RFE/RL, 16. September 2017)

Caucasian Knot, ein von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial im Jahr 2001 gegründetes Nachrichtenportal, das über menschenrechtliche Themen im Kaukasus informiert, zitiert in einem Artikel vom April 2018 den Anwalt Achmed Elmursajew, dem zufolge geschiedene Frauen im Nordkaukasus einen negativen sozialen Status in der Gesellschaft hätten:

„After appealing for help to the law enforcement bodies, victims of violence are subjected to great pressure, including from the side of society, said advocate Akhmed Elmurzaev, who cooperates with psychological support centres for women. ‘In Northern Caucasus, a woman will sometime tolerate violence from a man ... since her relatives will basically recommend her to endure the situation no matter what is happening,’ he said. The advocate explains that many cases of domestic violence could be resolved through divorces, but a divorced woman has a negative social status in a Caucasian society.“ (Caucasian Knot, 18. April 2018)

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 29. Juni 2018)

·      BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Russische Föderation: Situation von Frauen in RUSS und TSNE (Sorgerecht, Frauenhäuser, häusliche Gewalt), 8. Mai 2017 (Login der BFA Staatendokumentation erforderlich)
https://www.ecoi.net/en/file/local/1399583/5209_1494584659_russ-mr-sog-situation-frauen-in-russ-und-tsne-sorgerecht-frauenhaeuser-haeusliche-gewalt-2017-05-09-ke.doc

·      Caucasian Knot: Women murdered with impunity in Caucasus: Who is to blame?, 18. April 2018
http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43113/

·      EASO – European Asylum Support Office: Tschetschenien: Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder in Tschetschenien, September 2014
https://www.ecoi.net/en/file/local/1154982/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf

·      Meduza: Chechen ruler Ramzan Kadyrov ordered divorced spouses to get back together. Local TV says 948 couples have complied, 23. August 2017
https://meduza.io/en/feature/2017/08/23/chechen-ruler-ramzan-kadyrov-ordered-divorced-spouses-to-get-back-together-local-tv-says-948-couples-have-complied

·      openDemocracy: The women of Brest Station (Autorin: Agnieszka Pikulicka-Wilczewska), 16. Jänner 2017
https://www.opendemocracy.net/od-russia/agnieszka-pikulicka-wilczewska/women-of-brest-station

·      RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty: Каста невидимых [Die Kaste der Unsichtbaren], 16. September 2017
https://www.svoboda.org/a/28738872.html

·      SZ - Süddeutsche Zeitung: Gute Ehen, staatlich verordnet, 22. Jänner 2018
http://www.sueddeutsche.de/politik/russland-lektion-familienglueck-1.3834759

·      Takie Dela: Как три женщины в Чечне пытаются объяснить другим, что насилие в семье нельзя считать нормой [Wie drei Frauen in Tschetschenien versuchen, einander zu erklären, dass man Gewalt in der Familie nicht für die Norm halten darf], 18. August 2017
https://takiedela.ru/2017/08/razvod-po-chechenski/

·      The Moscow Times: Special Commission in Chechnya 'Reunites' 1,000 Divorced Families, 23. August 2017
https://themoscowtimes.com/news/special-chechnya-commission-reunites-divorced-families-58728

·      USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2017 - Russia, 20. April 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html