Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Chile

Berichtszeitraum: 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016

Amtliche Bezeichnung: Republik Chile
STAATS- UND REGIERUNGSCHEF_IN: Michelle Bachelet Jeria

Es bestand weiterhin die Befürchtung, dass in der Vergangenheit verübte und anhaltende Menschenrechtsverletzungen straflos bleiben könnten. Die Gerichtsverfahren wegen völkerrechtlicher Verbrechen und anderer Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit der Militärregierung unter General Pinochet (1973–90) gingen 2016 weiter. In einigen wenigen Fällen kamen die Verantwortlichen in Haft. Fälle unnötiger und exzessiver Polizeigewalt wurden weiterhin vor Militärgerichten verhandelt. Dies änderte sich allerdings im November durch ein neues Gesetz, das der Militärjustiz die Zuständigkeit für Zivilpersonen entzog. Schwangerschaftsabbrüche standen weiterhin ausnahmslos unter Strafe, es gab jedoch Bemühungen, sie unter bestimmten Bedingungen straffrei zu stellen.

HINTERGRUND

Als ersten Schritt hin zu einer neuen Verfassung organisierte die Regierung von April bis August 2016 einen Bürgerdialog, an dem sich alle Bürger beteiligen konnten. Die derzeitige Verfassung stammt aus der Zeit der Militärregierung und enthält einige Bestimmungen, die nicht den internationalen Menschenrechtsnormen entsprechen.

Im Januar 2016 wurde ein neues Gesetz veröffentlicht, das ein neues Staatssekretariat für Menschenrechte im Justizministerium vorsieht. Die erste Staatssekretärin wurde im September ernannt.

Im April 2016 teilte die Regierung mit, die geplante Reform des Einwanderungsgesetzes werde auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Dezember kündigte sie einen entsprechenden Gesetzentwurf für Januar 2017 an.

POLIZEI UND SICHERHEITSKRÄFTE

2016 gab es weiterhin Berichte über unnötigen oder exzessiven Gewalteinsatz der Polizei, insbesondere gegen Demonstrierende. Zu den Opfern zählten Minderjährige, Frauen, Journalisten und Mitarbeiter des Nationalen Menschenrechtsinstituts, die als Beobachter agierten.

Fälle von Menschenrechtsverletzungen, an denen Angehörige der Sicherheitskräfte beteiligt waren, wurden weiterhin vor Militärgerichten verhandelt. Im November 2016 wurde allerdings ein neues Gesetz eingeführt, wonach Zivilpersonen von der militärischen Gerichtsbarkeit ausgeschlossen sind – sowohl als Angeklagte wie auch als Opfer.

Im Januar 2016 reichte das Nationale Menschenrechtsinstitut Klage ein, um weitere Ermittlungen zum Verschwindenlassen des 16-jährigen José Huenante durch ordentliche Gerichte zu erwirken. Er war zuletzt bei seiner Festnahme durch Polizisten im September 2005 gesehen worden. Die Klage führte dazu, dass auch die Militärjustiz wieder Ermittlungen aufnahm. Das Schicksal und der Verbleib von José Huenante waren Ende 2016 jedoch noch immer unbekannt, da beide Ermittlungsverfahren weder die Hintergründe des Falls aufgeklärt noch die dafür Verantwortlichen identifiziert hatten.

STRAFLOSIGKEIT

Gerichte bestätigten 2016 mehrere Urteile wegen völkerrechtlicher Verbrechen und anderer Menschenrechtsverletzungen, die während der Militärregierung unter Augusto Pinochet Ugarte verübt worden waren. Im September bestätigte das Oberste Gericht die vierjährigen Freiheitsstrafen gegen zwei frühere Militärangehörige wegen der Folterung von General Alberto Bachelet im Jahr 1973.

Opfer, deren Angehörige und zivilgesellschaftliche Organisationen lehnten 2016 mehrere Versuche ab, Personen, die wegen Menschenrechtsverletzungen während des Militärregierung verurteilt worden waren, vorzeitig auf Bewährung freizulassen. Ende 2016 lag dem Parlament ein Gesetzentwurf vor, der die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausschließt.

Im November 2016 trat ein Gesetz in Kraft, das Folter als Straftat im chilenischen Recht verankerte. Der UN-Unterausschuss zur Verhütung von Folter hatte Chile im September auf die Liste der Länder gesetzt, die das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch nicht erfüllt hatten, weil kein nationaler Mechanismus zur Verhütung von Folter existierte.

RECHTE INDIGENER BEVÖLKERUNGSGRUPPEN

Im Januar 2016 setzte das Parlament eine Untersuchungskommission zu gewaltsamen Vorfällen in der Region Araukanien ein, in der es die meisten Landstreitigkeiten gab, die Mapuche betrafen. Die Kommission konzentrierte sich auf Straftaten, die Mapuche im Zuge von Protesten verübt haben sollen. Anhaltende Vorwürfe über exzessive Gewaltanwendung und willkürliche Festnahmen bei Polizeieinsätzen gegen Mapuche wurden hingegen nicht untersucht, da die Kommission hierfür kein Mandat hatte. Im September billigte die Abgeordnetenkammer den Abschlussbericht der Kommission.

Im Mai 2016 dehnte die Interamerikanische Menschenrechtskommission die von ihr im Oktober 2015 angeordneten Schutzmaßnahmen für die Mapuche-Sprecherin Juana Calfunao aus. Die Maßnahmen galten nun auch für weitere Mitglieder ihrer Familie, die in der südchilenischen Gemeinde Juan Paillalef lebten und die im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten Todesdrohungen und Einschüchterungen ausgesetzt waren.

Im August 2016 sprach ein Gericht den Fotografen Felipe Durán und den Mapuche Cristián Levinao in allen Anklagepunkten frei. Den beiden Männern waren illegaler Waffenbesitz und Drogendelikte vorgeworfen worden. Sie hatten mehr als 300 Tage in Untersuchungshaft verbracht.

Die Mapuche-Heilerin (Machi) Francisca Linconao wurde im März 2016 festgenommen und musste die Zeit bis zu ihrem Prozessbeginn im Gefängnis verbringen. Ein Richter erlaubte im Laufe des Jahres viermal, sie aus gesundheitlichen Gründen in den Hausarrest zu überstellen. Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung jedoch jedes Mal auf, so dass sie stets nach wenigen Tagen ins Gefängnis zurückgebracht wurde. Im November 2016 verlegte man sie vorübergehend in ein Krankenhaus. Im Dezember 2016 trat Francisca Linconao in den Hungerstreik, um ihrer Forderung nach Hausarrest bis zum Beginn ihres Verfahrens Nachdruck zu verleihen. Zum Jahresende dauerte ihr Hungerstreik noch an. Ihre Rechtsbeistände beantragten ebenfalls Hausarrest, um das Leben ihrer Mandantin zu schützen.

SEXUELLE UND REPRODUKTIVE RECHTE

Schwangerschaftsabbrüche blieben 2016 unter allen Umständen strafbar. Einige Frauen, die sich nach unprofessionellen Abtreibungen wegen Komplikationen medizinisch behandeln ließen, mussten mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, nachdem medizinisches Personal sie bei den Behörden angezeigt hatte.

Im März 2016 billigte die Abgeordnetenkammer ein Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche in Fällen von Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Frau und bei schwerer fötaler Missbildung straffrei stellt. Ein Passus, der medizinischem Personal verbot, Frauen anzuzeigen, wurde von den Abgeordneten jedoch abgelehnt und deshalb aus dem Gesetz gestrichen. Die Zustimmung des Senats zu dem Gesetz stand Ende 2016 noch aus.

RECHTE VON LESBEN, SCHWULEN, BISEXUELLEN, TRANSGESCHLECHTLICHEN UND INTERSEXUELLEN

Die Menschenrechtskommission des Senats befürwortete im September 2016 einen Gesetzentwurf zum Recht auf geschlechtliche Identität. Dies bedeutete einen ersten Schritt hin zu einer Verabschiedung des Gesetzes, über das drei Jahre lang debattiert worden war. Ende 2016 stand die Zustimmung des Senats und der Abgeordnetenkammer jedoch noch aus. Laut Gesetzentwurf können transgeschlechtliche Personen über 18 Jahre ihre Geschlechtsidentität amtlich anerkennen lassen, indem sie ihren Namen und ihr Geschlecht in offiziellen Dokumenten durch einen Verwaltungsakt ändern. Bislang ist dafür eine operative Geschlechtsangleichung oder ein ärztliches Gutachten notwendig.

Im Juni 2016 kam es vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu einer gütlichen Einigung zwischen der Regierung und drei homosexuellen Paaren, die Beschwerde dagegen eingelegt hatten, dass ihnen ihr Recht auf Heirat verweigert wurde. Bestandteil der Einigung waren politische Maßnahmen, um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen zu stärken. Als ersten Schritt der Umsetzung kündigte die Regierung im August 2016 an, unter Beteiligung der Zivilgesellschaft einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, der eine Gleichstellung bezüglich des Rechts auf Eheschließung gewährleisten soll.

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