Perspectivas, politische Analysen und Kommentare: Kommen, Gehen, Bleiben, Weiterziehen; Facetten der Migration in Lateinamerika

LATE NAMER KA
Ausgabe 3
Juni 2017
Kommen, Gehen, Bleiben, Weiterziehen
Facetten der Migration in Lateinamerika
MEXIKO-STADT
SAN SALVADOR
BOGOTÁ
RIO DE JANEIRO
SANTIAGO DE CHILE
Perspectivas Lateinamerika erscheint in enger Zusammenarbeit
mit den Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Lateinamerika.
Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine politische Stiftung und steht
der Partei Bündnis 90 / Die Grünen nahe. Sie hat ihren Hauptsitz
in Berlin und unterhält derzeit 32 Büros weltweit. In Lateinamerika
engagieren wir uns gemeinsam mit vielen Partnerinnen
und Partnern insbesondere in der Klima- und Ressourcenpolitik,
wir fördern Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit und
die Umsetzung der Menschenrechte. Elementar wichtig ist uns die
Stärkung und Unterstützung lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Die Stiftung bemüht sich um die intensive Vermittlung
von Wissen und Verständnis zwischen den Akteurinnen und Akteuren
in Europa und Lateinamerika; dazu gehört auch die Förderung
internationaler Dialoge, denn sie sind die Voraussetzung für
konstruktives Handeln.
Heinrich-Böll-Stiftung
Titelfoto: Simone Dalmasso / Plaza Pública
Inhalt
2 Vorwort
4 Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump
Lourdes Cárdenas
9 Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung
Mario Zetino Duarte und Dilsia Avelar
14 Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung
Myriam Hernández Sabogal
19 Zahlen und Fakten zur Migration in Lateinamerika
22 Dieser Ort ist nicht zum Schlafen da:
Migr
antenherbergen als Orte der Zuflucht und des politischen Kampfes
Daniela Rea
27 Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens
Susana Novick
32 Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien
Rodrigo Borges Delfim
36 Julia. Das Leben einer Migrantin
Glória Branco
Doch Europa reagiert inzwischen mit Härte und Abschottung und versucht, auch die letzten Zugangslücken zu schließen. In dem Maße, wie das gelingt, versuchen auch vermehrt diese Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten über Brasilien und Ecuador durch Zentralamerika und Mexiko in die USA zu gelangen. Wurden z.B. 2013 noch 545 Menschen aus Afrika auf ihrer Durchquerung Mexikos an die US-amerikanische Grenze registriert, waren es 2015 schon 2000 und 2016 bereits 16.268.
Wir möchten mit Perspectivas Nr. 3 den Blick auf den Umgang mit Migration in Lateinamerika lenken. Unsere Autorinnen und Autoren analysieren Ursachen und staatliche Politiken, zeigen auf, welche Auswirkungen das für Migrantinnen und Migranten hat, und berichten von Solidaritätsstrukturen, die praktische und politische Unterstützung leisten.
Im ersten Artikel beschreibt Lourdes Cárdenas, wie schnell sich die Situation von Migrantinnen und Migranten in den USA nach dem Wahlsieg Donald Trumps geändert hat. Die von ihm angekündigte Mauer zwischen den USA und Mexiko wurde in vielen Köpfen bereits errichtet. Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben zugenommen, und es gibt immer wieder Berichte über tätliche Angriffe. Die rechtliche Situation wurde im Turbotempo verschärft, und die Voraussetzungen für eine Abschiebung wurden gesenkt. Doch nicht alle im Land sind damit einverstanden, und so gibt es auch viel Unterstützung und Solidarität.
Mario Zetino Duarte und Dilsia Avelar aus El Salvador gehen in ihrem Beitrag auf die Migration von (häufig allein reisenden) Kindern und Jugendlichen ein, die in
Lateinamerika hat eine lange und bewegte Migrationsgeschichte. Immer wieder war der Kontinent Ziel von Einwanderern und Flüchtlingen aus Europa, Asien, aus dem Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Die vielen unterschiedlichen Kulturen in Lateinamerika sind lebendiger Ausdruck davon.
Auch die Migration innerhalb des Kontinents spielt eine wichtige Rolle. Sie macht etwa 34 Prozent der lateinamerikanischen Migration aus. In Zeiten autoritärer politischer Regime und politischer Verfolgung, in Zeiten von Bürgerkriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen haben Menschen andernorts Zuflucht gesucht. Heute sind es vor allem Armut, Gewalt und Terror, die die Menschen migrieren lassen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Lateinamerika von einem Ziel internationaler Migration zu einer Auswanderungsregion. Die meisten Lateinamerikaner migrieren in die USA, viele von ihnen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung. Die über 3.000 km lange Grenze zwischen Mexiko und den USA wird nach Schätzungen unterschiedlicher Quellen jährlich von 140.000 bis 400.000 Menschen ohne Papiere überwunden. Die meisten von ihnen kommen aus Zentralamerika, zuletzt auch verstärkt aus Kuba und Haiti.
Auch Europa ist in den letzten Jahren verstärkt zur Zukunftshoffnung für viele Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten – vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika – geworden. Viele fliehen vor Krieg, Gewalt und Verfolgung, andere möchten der Armut und Perspektivlosigkeit ihrer Länder entkommen.
Vorwort
2
Vorwort
den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist. Sie beschreiben, wie die nationale und familiäre Migrationsgeschichte Identitäten prägt und Lebenspläne beeinflusst. Sie kritisieren die salvadorianische Regierung, die über kein migrationspolitisches Konzept verfügt und falsche Prioritäten setzt. Staatliche Maßnahmen setzen, wenn überhaupt, erst bei der Rückführung an, Prävention ist FehlanzeiWge.
Um Zwangsvertreibung und Binnenmigration in Kolumbien geht es in dem Artikel von Myriam Hernández Sabogal. Nach Syrien steht das Land weltweit an zweiter Stelle von Vertreibungen. Die Ursachen sind nicht nur in den bewaffneten Auseinandersetzungen verschiedener Akteure im langjährigen Bürgerkrieg zu finden, sondern haben auch handfeste ökonomische Ursachen, nämlich die territoriale Umstrukturierung hin zu Megaprojekten sowie Boden- und Ressourcenkonzentration. Über 80 Prozent der Opfer stammen aus ländlichen Gebieten. Der mit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen Regierung und FARC eingeleitete Friedensprozess muss die Folgen der Zwangsvertreibung Schritt für Schritt überwinden – eine Herkulesaufgabe.
In Mexiko, dem wichtigsten Durchgangsland für Migrantinnen und Migranten ohne Papiere in die USA, hat sich im Laufe der Jahre eine sehr aktive Unterstützerszene für die Migrantinnen und Migranten herausgebildet. Daniela Rea beschreibt die Arbeit dieser zivilgesellschaftlichen Netzwerke. Begonnen hat es zunächst mit sehr konkreter Hilfe, etwa durch die Bereitstellung von sicheren Unterkünften für ein paar Nächte (den Migrantenherbergen), von Versorgung mit Nahrung und Getränken, medizinischer Hilfe usw. Im Laufe der Jahre hat sich diese Unterstützung aber immer stärker politisiert, und heute geht praktische Hilfe mit politischen Forderungen und Aktivitäten für eine menschenrechtsbasierte Migrationspolitik einher.
Als beispielhaft galt das Migrationsgesetz, das 2003 in Argentinien verabschiedet wurde. Es markiert eine kategorische Wende in der bisherigen Politik, da es den Abschied von der Doktrin der Nationalen Sicherheit eingeleitet und das Menschenrecht auf Migration anerkannt hat, wie Susana Novick in ihrem Beitrag erläutert. Das Ende des Kirchnerismus in Argentinien und der Wahlsieg des neuen wirtschaftsliberalen Präsidenten Macri bedeuten auch das Ende der liberalen Migrationspolitik des Landes. Mit dem Verweis auf die Bekämpfung von Terrorismus und Drogenhandel wird Migration wieder zum Sicherheitsproblem deklariert. Eine Gesetzesänderung vom Januar 2017 schränkt die Rechte von Migrantinnen und Migranten ein und weitet die Macht der Polizei aus.
Etwas positiver sieht der Autor Rodrigo Borges Delfim im letzten Artikel dieses Heftes die Entwicklungen in Brasilien. Das Erdbeben in Haiti 2010 und der Bauboom zur Fußball-WM und Olympiade hatten viele Haitianerinnen und Haitianer nach Brasilien migrieren lassen. Mit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise wurden jedoch die Defizite des geltenden brasilianischen Ausländergesetzes deutlich. Die Präsenz der Haitianerinnen und Haitianer hat entscheidend zum Wandel der Zuwanderungsdebatte in Brasilien beigetragen. Zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen und Medien ist es maßgeblich zu verdanken, dass eine gesellschaftliche Debatte über eine humane und effektive Migrationspolitik und ein neues Migrationsgesetz angestoßen wurde.
In der Heftmitte finden Sie einige Zahlen und Fakten zu den Migrationsbewegungen in Lateinamerika und zur Grenze zwischen Mexiko und den USA, eine der weltweit am häufigsten überquerten Grenzen und gleichzeitig für viele Flaschenhals für die Verwirklichung ihres «amerikanischen Traums».
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.
Berlin, im Juni 2017
Ingrid Spiller
Leiterin des Regionalreferats Lateinamerika der Heinrich-Böll-Stiftung
3
Vorwort
Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump
Lourdes Cárdenasihre Staatsbürgerschaft zu erhalten. «Ich habe einen ausgeprägten mexikanischen Akzent, und wenn ich in meinem Büro am Telefon Fragen beantwortete, legten sie auf, nachdem sie gesagt hatten: «Ich möchte mit jemandem sprechen, der gut Englisch spricht».
Estrada versichert, dass sie auf der persönlichen Ebene keine Ablehnung zu spüren bekommt aufgrund der Tatsache, dass sie Ausländerin ist, und dass sie sogar von vielen weißen Amerikanern, die nicht mit Trump einverstanden sind, Zeichen der Unterstützung und Solidarität erhält. Sie gibt aber auch zu, privilegiert zu sein, weil sie sich legal im Land aufhält. «Das ist etwas ganz Anderes für Leute, die keine Papiere haben», versichert sie.
Nach Trumps Wahlsieg im November 2016 gab es in Schulen, auf der Straße und in Einkaufszentren mehrerer Bundesstaaten der USA sofort Äußerungen von Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
In den ersten zehn Tagen nach der Wahl dokumentierte das Southern Poverty Law Center (SPLC),1 eine gemeinnützige Organisation, die rassistische Gruppen in den USA beobachtet, 867 Fälle von Hass, Einschüchterung und Belästigung von Minderheiten. Betroffen waren Afroamerikaner, Muslime, Latinos sowie Schwule und Lesben.
In mehreren Schulen des Landes wurden Schüler, die Minderheiten angehören, von ihren Mitschülern belästigt. Es wurde von Sprüchen wie «geh zurück in dein Land», «only English, please» und «laßt uns die Mauer bauen» berichtet. In einigen Universitäten zirkulierten Flugblätter gegen Muslime und Afroamerikaner.
Ein noch viel extremerer Fall geschah am 24. Februar 2017 in einer Kommune in
Für einen großen Teil der Migrantinnen und Migranten in den Vereinigten Staaten gibt es ein Vorher und ein Nachher. Eine Zeit vor Donald Trump, während der immer Angst und Unsicherheit herrschten. Und eine Zeit nach der Amtsübernahme Donald Trumps, in der noch ein weiteres Gefühl hinzugekommen ist: das Bewusstsein, dass es ein Risiko bedeutet, anders zu sein, eine andere Hautfarbe zu haben und einen anderen Akzent; nicht vollkommen akzeptiert zu sein in einer Gesellschaft, die angesichts des Themas Migration gespalten ist.
Die Debatte über Migration wird in den USA seit Jahrzehnten geführt und war immer mit der jeweiligen wirtschaftlichen Lage verknüpft. Geht es der Wirtschaft schlecht, macht man die Migrantinnen und Migranten für alle Übel im Land verantwortlich, einschließlich des Fehlens von Arbeitsplätzen, der niedrigen Löhne und der Kriminalität. Aber noch nie hatte der Diskurs eines Präsidentschaftskandidaten zum Thema Einwanderung eine so spaltende Wirkung. Trump brachte die Migrantinnen und Migranten mit dem Mangel an Arbeitsplätzen und Terrorismus in Zusammenhang und bezichtigte sie, «Vergewaltiger, Kriminelle und Drogenhändler» zu sein. Damit entfesselte er die Wut eines Teils der US-amerikanischen Wählerschaft gegenüber Ausländern, und gab ihr mit dem Plan des Baus einer Mauer nicht nur physisch, sondern auch mental einen Ausdruck: mit der Mauer des Hasses.
«Ich glaube, dass Trump viele Menschen ermutigt hat, sich berechtigt zu fühlen, offen zu sagen, dass keiner, der nicht weiß ist, das Recht hat, in diesem Land zu leben», erklärt Patricia Estrada, die seit circa 20 Jahren in Dallas lebt und kurz davor ist,
Lourdes Cárdenas ist eine mexikanische und US-amerikanische Journalistin mit Wohnsitz in El Paso, Texas. Sie hat als Reporterin, Korrespondentin, Herausgeberin und Produzentin für verschiedene Printmedien und Fernsehkanäle in Mexiko und USA gearbeitet. Sie ist Professorin für Journalismus an der New Mexico State University. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Themen Gewalt und Drogen an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, mit der Migration in die USA sowie mit Medien und neuen Technologien. Sie ist Autorin des Buchs Marihuana. El Viaje a la Legalización, das die Legalisierungsprozesse von Cannabis in den USA untersucht.
4
Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump
Kansas, wo ein Mann aus nächster Nähe auf
zwei indische Migrantinnen und Migranten
in einer Bar schoss, nachdem sie sich geweigert
hatten, ihn über ihren rechtlichen Status
zu informieren. «Haut aus meinem Land
ab», schrie er, bevor er schoss. Die beiden
Migrantinnen und Migranten waren Ingenieure
und hatten Arbeitsvisa. Einer starb,
der andere wurde verletzt. Der Fall wird
zurzeit als ein mögliches Hassverbrechen
untersucht.
Das Southern Poverty Law Center versichert,
dass die Zahl der Hassgruppierungen
im Land von 892 im Jahr 2015 auf 917 im
letzten Jahr gestiegen sei. Der dramatischste
Zuwachs fand bei Gruppierungen statt, die
den Hass auf Muslime fördern: 2016 stiegen
sie von 34 auf 101. Die Organisation bringt
diesen Zuwachs mit Trumps Hetzparolen
in Zusammenhang, die unter anderem das
Versprechen enthielten, die Einreise von
Muslimen aus bestimmten Ländern in die
USA zu verbieten.
Viele Äußerungen von Ablehnung und
Hass bestehen aus tätlichen Angriffen und
Beleidigungen. Die von den Migrantinnen
und Migranten am meisten gefürchtete
Bedrohung aber ist die Abschiebung und
mögliche Trennung von der Familie. Diese
Drohung nahm Ende Januar Gestalt an,
als der Präsident seine Migrationspolitik
bekanntgab, die de facto tausende von Einwanderern
ohne Papiere als «Kriminelle»
klassifiziert.
«Meine Frau und ich leben seit 15 Jahren
hier; wir bezahlen unser Haus ab, wir haben
zwei Kinder (Bürger der USA), und wir sind
immer gute Menschen gewesen», sagt Noé,
der auf einer Ranch in New Mexico arbeitet.
«Aber jetzt fühlen wir uns sehr allein und
traurig, weil wir wissen, dass sich alles jeden
Moment ändern kann».
Nach Trumps Dekret zur «Stärkung
der nationalen Sicherheit innerhalb der
Vereinigten Staaten»2 wird ein Immigrant,
der mit einem abgelaufenen Visum auf
US-amerikanischem Staatsgebiet geblieben
ist, als «Bedrohung für die nationale
Sicherheit» betrachtet, und folglich muss er
aus dem Land entfernt werden. Die Verfügung
verordnet die sofortige Abschiebung
von Menschen, die wegen eines Verbrechens
verurteilt oder einer Straftat beschuldigt
wurden – ohne dieses zu spezifizieren,
was die Möglichkeit offen lässt, dass das
Nicht-Bezahlen eines Verkehrsdelikts als
«Verbrechen» eingestuft wird. Das betrifft
auch Menschen, die irgendein Programm
öffentlicher Zuwendungen missbraucht
haben oder der Anordnung, das Land zu
verlassen, nicht nachgekommen sind. Die
Politik erlaubt außerdem, dass die Einwanderungsbehörde
oder die lokale Polizei jede
Person festnehmen kann, die ihrer Meinung
nach eine Gefahr für die nationale Sicherheit
darstellt.
«Nach diesen Kriterien läuft jeder Immigrant
Gefahr, als Krimineller angesehen zu
werden», sagt Fernando García, Direktor
des Border Network for Human Rights mit
Sitz in El Paso, Texas. «Die Einwanderungspolizei
sucht jeden möglichen Vorwand,
um Menschen über ihre legale Situation zu
befragen… In der Praxis handelt es sich um
eine Anti-Einwanderer-, eine fremdenfeindliche
Politik».
Das Memorandum3 des US-Ministeriums
für innere Sicherheit, «Umsetzung
der Richtlinien für die Verbesserung der
Grenzsicherheit und der Durchsetzung des
Einwanderungsrechts», belebt ein umstrittenes
Programm mit dem Namen «Sichere
Gemeinden» wieder. Es erlaubt die Zusammenarbeit
zwischen Bundes-, Staats- und
lokaler Polizei bei der Identifizierung mittels
einer biometrischen Datenbank von
Menschen ohne gültige Papiere, die eine
Straftat begangen haben, und sie an die
Einwanderungsbehörde zu übergeben. Das
Programm wurde unter der Administration
von Barack Obama 2014 abgeschafft,
nachdem dokumentiert wurde, dass mehrere
tausende Menschen betroffen waren,
die keine gravierenden Straftaten begangen
hatten. Stattdessen wurde ein neuer
Mechanismus mit dem Namen «Programm
zum Vollzug dringender Fälle» eingeführt,
das theoretisch nur verurteilte Kriminelle
Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump 5
Migrant/innen insgesamt
in den USA, 2015:
46.627.102 Menschen
(14,49 Prozent der
Gesamtbevölkerung).
10-13 Millionen Migrant/innen
sind ohne Papiere.
Gesamtbevölkerung
IOM, 2017
für den Abschiebeprozess im Visier hatte.
Tatsächlich wurden schließlich tausende
Menschen ohne Strafregister des Landes
verwiesen.
«Obama hat den Mechanismus geschaffen
– obwohl er ihn dann nicht voll ausgeschöpft
hat –, den Trump nutzen wird, um
viele Menschen auszuweisen», meint Sarah
Silva, Leiterin der gemeinnützigen Organisation
New Mexico Comunidades en Acción
y Fe (NMCafe). «George Bush hat das Programm
287(g) kreiert, das es der lokalen und
staatlichen Polizei erlaubt, wie Vertreter der
Einwanderungsbehörde zu agieren. Beide
politische Maßnahmen haben das System
erschaffen, das Trump helfen wird, Millionen
auszuweisen», versichert Silva.
Das erwähnte Memorandum kriminalisiert
die Eltern von zentralamerikanischen
Minderjährigen, die über die
Grenze kommen, und betrachtet sie aufgrund
des Delikts des Menschenhandels als
sofort abschiebbar. Die einzige Ausnahme
bezüglich Abschiebung betrifft Jugendliche,
die im Programm für aufgeschobene
Maßnahmen (DACA)4 eingeschrieben sind,
wenngleich nicht festgelegt ist, für welchen
Zeitraum die Ausnahme gilt.
Dieses Programm entstand 2012 unter
der Regierung von Barack Obama mit der
Idee, Jugendliche zu schützen, die als Kinder
in die Vereinigten Staaten kamen, und
sie nicht für die Entscheidungen ihrer
Eltern verantwortlich zu machen. Über
dieses Programm bekommen die Jugendlichen
eine Arbeitserlaubnis, die alle zwei
Jahre verlängert werden kann. Circa 750.000
Jugendliche nehmen an dem Programm teil.
Sergio Baray kam in die USA als er vier
Jahre alt war und war in den letzten zwei
Jahren dem Schutz des DACA unterstellt.
Im November dieses Jahres muss er seine
Arbeitserlaubnis erneuern. Allerdings
beunruhigt ihn nicht so sehr seine jetzige
Situation als vielmehr die Möglichkeit, dass
seine Eltern, die 23 Jahre lang ohne gültige
Papiere in den USA gelebt haben, nun ausgewiesen
werden. «Wenn sie abgeschoben
würden, müsste ich die Schule verlassen
und mich um meine Geschwister (13 und
17 Jahre) und um die Geschäfte meines
Vaters kümmern», sagt Baray, der an der
staatlichen Universität von New Mexico studiert.
«Meine Eltern haben Angst, aber wir
haben noch Hoffnung, weil wir mit unseren
Restaurants zur Wirtschaft dieses Landes
beigetragen haben, wir haben Steuern
bezahlt, wir haben amerikanischen Bürgern
Arbeit gegeben». Angesichts der Möglichkeit,
dass er selbst abgeschoben werden
könnte, meint Baray: «Es wäre sehr schwer
für mich. Die Leute verstehen nicht, dass
wir hier aufgewachsen sind. Seit meinem
vierten Lebensjahr bin ich nicht mehr in
Mexiko gewesen, ich kenne das Land nicht.
Dies hier ist mein Land…»
Das Pew Research Center5 schätzt, dass
in den Vereinigten Staaten zwischen 11
und 12 Millionen Einwanderer ohne gültige
Papiere leben. Mehr als die Hälfte von
ihnen stammt aus Mexiko. Eine Studie des
Institute of Taxation and Economic Policy
(ITEP)6 schätzt, dass die Einwanderer ohne
Papiere 11.6 Milliarden Dollar pro Jahr zur
Wirtschaft der USA beitragen. «Die Migrantinnen
und Migranten ohne Papiere zahlen
andere karibische Staaten: 2.243.645
Mexiko: 11.643.298
Brasilien: 361.374
Kolumbien: 699.399
andere südamerikanische Staaten: 1.857.256
El Salvador: 1.352.357
andere zentralamerikanische Staaten: 2.032.272
Kuba: 1.210.674
Insgesamt: 22.111.409
Jamaika: 711.134
US State Immigration Data Profiles, in Zong und Batalova, MPI, 2015
6 Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump
Registrierte Migrant/innen aus Lateinamerika in den USA nach Regionen, 2015:
durchschnittlich 8 Prozent ihrer Einkünfte für lokale und staatliche Steuern», stellt eine Analyse fest.
Der Beitrag der Einwanderer ohne Papiere zur Wirtschaft war kein häufiges Thema in Trumps Wahlkampf. Er zog es vor, seine Hassideen zu verbreiten, wenn er über sie sprach, vor allem über Mexikaner, die er als «Vergewaltiger, Mörder und Kriminelle» bezeichnete.7 Sein Vorschlag, eine Mauer entlang der Grenze zu Mexiko zu bauen, um die USA vor dem Migrantenstrom zu schützen, fand bei Abertausenden von US-Bürgern Anklang, die diese Idee durch ihre Stimme unterstützt haben.
Aber nicht alle US-Amerikaner sind für Trumps Politik. Das Land ist tief gespalten, wenn es um das Thema Migration geht. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage8 hat gezeigt, dass fast die Hälfte der US-Bürger das Einreiseverbot von Muslimen aus sieben Ländern gutheißt, während die andere Hälfte ihre Ablehnung zum Ausdruck brachte. Beim Thema Mauer scheint der größte Teil der US-Amerikaner dazu zu tendieren, den Bau abzulehnen und ist der Meinung, dass sie die illegale Einwanderung nicht verringern werde. Im ganzen Land gab es Demonstrationen zur Unterstützung und Solidarität mit den Migrantinnen und Migranten, und mehrere Bundesstaaten haben den Verordnungen Trumps die Stirn geboten.
Unter den Menschen, die die Mauer ablehnen, sind tausende junge Hispanos wie Jianna Vásquez, 19 Jahre alt. Die Tochter mexikanischer Einwanderer ist in den USA geboren. Sie versichert, dass die vier Jahre Regierung Trump das Land nicht wesentlich verändern werden. «Ob es uns gefällt oder nicht, Trump ist Präsident, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht protestieren, nicht unsere Meinung sagen und uns nicht gegen das wehren können, was er tut», meint Jianna. «Jetzt ist der Moment zu handeln und nicht, Schwäche zu zeigen.»
Die tatsächliche Reichweite dieser Aussagen bleibt noch abzuwarten und wird in hohem Maße davon abhängen, inwieweit sie mit nationalen Bewegungen in Verbindung stehen, die die Legalität und Verfassungsmäßigkeit von Trumps Politik infrage stellen. Währenddessen wird die Mauer weiter wachsen und immensen Schaden anrichten. Diese Mauer wird aus den USA kein besseres Land machen; sie wird ihm auch nicht die verlorenen Arbeitsplätze zurückgeben oder das Land sicherer machen. Sie kann das Land aber weniger tolerant machen und weiter von seiner eigenen Geschichte entfernen. Man wird viel dafür tun müssen, damit Besonnenheit, Vernunft und gesunder Menschenverstand sich gegen den Hassdiskurs durchsetzen.
Aus dem Spanischen von Gudrun Birk
1 Southern Poverty Law Center (2017): «Hate Groups Increase for Second Consecutive Year as Trump Electrifies Radical Right», 15. Februar 2017. Verfügbar unter: https://www.splcenter.org/news/2017/02/15/hate-groups-increase-second-consecutive-year-trump-electrifies-radical-right, [abgerufen am 14. März 2017].
2 White House (2017): Executive Order: Enhancing Public Safety in the Interior of the United States, 25. Februar 2017. Verfügbar unter: https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2017/01/25/presidential-executive-order-enhancing-public-safety-interior-united, [abgerufen am 14. März 2017].
3 U.S. Department of Homeland Security (2017): Implementing the President’s Border Security and Immigration Enforcement Improvement Policies, 20. Februar 2017. Verfügbar unter: https://www.dhs.gov/sites/default/files/publications/17_0220_S1_Implementing-the-Presidents-Border-Security-Immigration-Enforcement-Improvement-Policies.pdf, [abgerufen am 14. März 2017].
4 USCIS (2016): Consideration of Deferred Action for Childhood Arrivals (DACA). Verfügbar unter:
https://www.uscis.gov/humanitarian/consideration-deferred-action-childhood-arrivals-daca, [abgerufen am 14. März 2017].
5 Pew Research Center (2006): U.S. Unauthorized Immigration Population Estimates. 3. November 2006. Verfügbar unter: http://www.pewresearch.org/fact-tank/2016/11/03/5-facts-about-illegal-immigration-in-the-u-s/, [abgerufen am 14. März 2017].
6 Christensen, L., Gardner M. (2016): «Undocumented Immigrants’ State and Local Tax Contributions». Institute of Taxation and Economic Policy, Februar 2016. Verfügbar unter: http://www.itep.org/pdf/immigration2016.pdf, [abgerufen am 14. März 2017].
7 Trump gebrauchte diese Ausdrücke, als er ankündigte, um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten zu kämpfen. Verfügbar unter: http://time.com/3923128/donald-trump-announcement-speech/, [abgerufen am 14. März 2017].
8 Kahn, Chris (2017): «49% of Americans Agree with Trump’s Immigration Ban» Business Insider, 31. Januar 2017. Verfügbar unter: http://www.businessinsider.com/49-of-americans-agree-with-trumps-immigration-ban-2017-1, [abgerufen am 14. März 2017].
Man schätzt, dass 8 Prozent der mexikanischen Migrantinnen und Migranten der ersten und zweiten Generation (insgesamt 25 Millionen Menschen) 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der USA beitragen.
Movimiento Migrante Mesoamericano, Análisis Coyuntural, 2017
Unsicherheit und Angst haben zugenommen: Migration in der Ära Trump 7

Mittel waren an die Einhaltung bestimmter Maßnahmen geknüpft: Zum einen ging es dabei um die Dynamisierung des produktiven Sektors, die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten, die institutionelle Stärkung des Staates, Bürgersicherheit und den Zugang zur Justiz; zum anderen um Maßnahmen zur sofortigen Eindämmung der Migrationsströme. Hierzu gehörten u.a. schärfere Grenzkontrollen, verstärkte Repressionsmaßnahmen gegen durchreisende Migrantengruppen oder auch die Androhung von Geldstrafen für Eltern, die ihre Kinder mit Menschenhändlern auf die Reise schickten.
Mexiko beschloss seinerseits 2014 das Programm Südgrenze (Programa Frontera Sur). Unter Bezugnahme auf die nationale Sicherheit wurde damit die Militarisierung der mexikanischen Grenze gerechtfertigt und so ein Beitrag dazu geliefert, dass die Grenze zwischen Mexiko und Zentralamerika praktisch zur «Südgrenze» der Vereinigten Staaten wurde.4
Trotz der Verabschiedung beider Programme erreichte 2016 die Migration von Kindern zur südlichen Grenze der USA einen neuen Höhepunkt.
Ergänzend zu den Daten aus der Grafik sind an dieser Stelle die Minderjährigen zu nennen, die innerhalb von «Familiengruppen» (mit Vater, Mutter oder Betreuern) reisen, sowie die Kindermigrantinnen und -migranten, die aufgrund mangelnder Erfassung nicht eingerechnet sind.5 Hierzu gehören beispielsweise Kinder, die ihre Eltern verloren haben und als Waisen in Mexiko zurückbleiben, oder die als Zeugen für Gerichtsverfahren wegen Menschenhandels in Mexiko festgehalten werden; andere, die arbeiten müssen, um ihren Weg
Kindermigration ist in El Salvador kein neues Phänomen, wohl aber die Art und Weise, wie damit umgegangen und wie sie erfasst wird. Dies gilt insbesondere für die irreguläre Migration der Minderjährigen.1 Verschiedene Gründe haben den Anstoß dazu gegeben, sie näher unter die Lupe zu nehmen: das Ausmaß, die Bestimmungsfaktoren während der letzten Jahrzehnte, die besonderen Risiken für minderjährige Migrantinnen und Migranten sowie deren Behandlung durch die Behörden bei der Festnahme, Abschiebung und Wiedereingliederung in ihr Herkunftsumfeld, die Menschenrechtsverletzungen im Verlauf solcher Verfahren und schließlich die psychosozialen Folgewirkungen der Migrationserfahrung auf das Leben der Kinder.2
Was sich hinter den Zahlen verbirgt
Im Juni 2014 schlug der damalige US-Vizepräsident Joe Biden offiziell Alarm. Anlass dafür war die schwere humanitäre Krise aufgrund des wachsenden Zustroms unbegleiteter Jungen und Mädchen aus Zentralamerika. In den Aufnahmeeinrichtungen in Kalifornien, Oklahoma und Florida kamen damals Tag für Tag etwa 400 Kinder an; die meisten von ihnen stammten aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras.3
Die Vereinigten Staaten verabschiedeten daraufhin 2015 gemeinsam mit den vier genannten Ländern einen Plan, die sogenannte «Allianz für den Wohlstand des Nördlichen Dreiecks» (Plan Alianza para la Prosperidad del Triángulo Norte – PAPTN), und stellten dafür einen Betrag von 750 Millionen US-Dollar bereit. Die
Mario Zetino Duarte stammt aus El Salvador. Doktor der Soziologie, Forschungsdirektor der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas, Dozent und Forscher im Masterstudiengang Soziale Intervention und wissenschaftlicher Mitarbeiter der FLACSO. Er hat u.a. für die Internationale Organisation für Migration und das Center for Gender and Refugee Studies mehrere Untersuchungen über Kindermigration sowie salvadorianische Rückkehrerinnen und Rückkehrer durchgeführt. Im Jahr 2013 hielt er als Mitglied einer Delegation lateinamerikanischer Institutionen einen Vortrag über Kinderrechte und Migration bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission.
Dilsia Avelar stammt aus El Salvador un hat einen Hochschulabschluss in Kommunikation und einen Master in Lokalentwicklung. Sie hat mitgearbeitet an mehreren Forschungsvorhaben über transnationale Migrationsströme, Migration und Entwicklung, Migration unbegleiteter Mädchen und Jungen sowie Solidaritätsnetzwerke für durchreisende Migrantinnen und Migranten, gefördert durch die Ford-Stiftung, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), die Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) und die Internationale Organisation für Migration (IOM).
Und dann? Salvadorianische Kinder nach
der Abschiebung
Mario Zetino Duarte und Dilsia Avelar
Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung 9
die zunehmende Gewalt als Auslöser für die Kindermigration aus El Salvador tatsächlich an Bedeutung gewonnen, insbesondere unter jungen Männern und Frauen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren.6 Immer mehr Jugendliche geben bei der Rückkehr nach El Salvador in Befragungen zu ihren Migrationsgründen Unsicherheit, Todesdrohungen, Vergewaltigungen und Übergriffe durch Jugendbanden als Motiv an.
In den letzten Jahren hat die Gewalt auch zu Vertreibungen von Teilen der Bevölkerung innerhalb von El Salvador geführt. Der Norwegische Flüchtlingsrat geht in einer Untersuchung für das Jahr 2014 von schätzungsweise 289.000 Vertriebenen aus.7 In einem Bericht der salvadorianischen Ombudsstelle für Menschenrechte über die Erfassung von Zwangsvertreibungen für den Zeitraum von 2014 bis 2015 ist eine Zunahme der registrierten Fälle um 77 Prozent angegeben. Zusätzlich wird dort darauf hingewiesen, dass sich 86 Prozent der Betroffenen von den staatlichen Behörden nicht geschützt fühlen.8
Bürgerschaft und Entwurzelung
Migration ist ein Prozess. Er entsteht sowohl aus objektiven Bedingungen und Sachverhalten als auch aus vielfältigen subjektiven Einschätzungen von Menschen, die sich auf dieser Grundlage ein individuelles oder familiäres Projekt aufbauen. Wie im vorherigen Abschnitt aufgezeigt, kann die Multikausalität des Migrationsprozesses zur Konsolidierung eines Lebensplans führen oder aber auch die Entfremdung sowohl in der Herkunfts- als auch in der Zielgemeinde verstärken, und so zu Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Wirklichkeit führen. Die Möglichkeiten für ein menschenwürdiges und sicheres Leben in den Herkunftsregionen der Jugendlichen sind letztlich der bestimmende Faktor für die Konkretisierung ihres Migrationsvorhabens. Bei Jugendlichen, die in Gebieten mit besseren Entwicklungschancen leben, ist die Chance größer, dass sie die Migration als Mittel betrachten, um ihre Lebensbedingungen in ihrem Heimatland zu verbessern, und so
fortsetzen zu können und schließlich in Mexiko bleiben, oder solche, die zu Kinderprostitution oder organisierten Drogenhandel gezwungen werden.
Schließlich liegt die Vermutung nahe, dass es für jedes verhaftete und abgeschobene migrierte Kind mehrere andere Kinder gibt, denen es gelingt, die Grenze zu überqueren und ihr Ziel zu erreichen, so dass die auf Rückführungen gestützten Daten lediglich den Schatten eines menschlichen Dramas von weit größerem Ausmaß abbilden – dies nicht nur aufgrund der hohen Dunkelziffer, sondern wegen der Lebensgeschichten, die sich dahinter verbergen.
Triebfedern der salvadorianischen Kindermigration
Wenngleich die irreguläre Migration in die Vereinigten Staaten dem Anschein nach freiwillig ist, so ist sie ohne Zweifel eine Folge multikausaler Prozesse der Ausgrenzung und Vertreibung, die über die Reduzierung des Phänomens auf die strukturellen Armutsverhältnisse hinausgehen.
Die Migrationsvorhaben vieler Jungen und Mädchen sind von zentralen soziokulturellen Dynamiken geprägt. Hierzu gehören unter anderem die jeweilige Migrationsgeschichte der Familie bzw. der Gemeinde, die Verfahren zur Familienzusammenführung sowie die Präsenz gemeinschaftlicher Risikofaktoren, angesichts derer sich die Migration als einzige Überlebensalternative darstellt. In den letzten Jahren hat
Die zentralamerikanischen Migrantinnen und Migranten sind nach meiner Erfahrung völlig mittellos, sogar das Allerwichtigste haben sie verloren.Sie gehen sehr aggressiv miteinander um. Ich denke, das liegt an der Ökonomie des Todes, der allgemeinen Gewalt: Kriminelle und Jugendbanden – die sogenannten „Maras“ – haben unter den Menschen furchtbare Gewalt verbreitet. Vom brutalen Überlebenskampf gezeichnet, tun sie alles, um zu überleben.
Bruder Tomás González
Herberge «La 72», Tenosique, Mexiko.
10
Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung
Es wird geschätzt, dass mit der weltweiten Schleusung von Migranten/innen 35 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet werden.
Nájar, Heinrich-Böll-Stiftung, 2017, unveröffentlicht
das im Ausland verdiente Geld nach ihrer Rückkehr dort investieren. Bleiben jedoch die Heimatregionen von jeglichen Entwicklungschancen abgekoppelt, so ist die Wahrscheinlichkeit der gesellschaftlichen Entwurzelung umso größer und deshalb auch die Alternative einer Migration ohne Hoffnung auf eine Rückkehr naheliegender. Solche Jugendlichen erleben ihr gegenwärtiges Dasein als «Wartezeit» in ihrem Land und entwickeln sich so zu Bürgerinnen und Bürgern mit einem hohen Grad an sozialer Entwurzelung und gesellschaftlicher Ohnmacht, unfähig, die Probleme in ihrem Umfeld zu bewältigen und sich gegenüber anderen Menschen solidarisch zu zeigen.9
Staatliche Maßnahmen in El Salvador
Der salvadorianische Staat verfügt über kein migrationspolitisches Konzept, das eine Antwort für El Salvador in seiner Eigenschaft sowohl als Ausgangsland von Migrantinnen und Migranten als auch als Durchgangs- oder Zielland innerregionaler und extrakontinentaler irregulärer Migrationsströme bieten könnte. Kindermigration wird nicht in ihrem Gesamtbild, sondern nur bruchstückhaft betrachtet und verstanden. Die durchgeführten Maßnahmen lassen eher eine administrative denn eine humanistische Sicht des Problems erkennen.
Bisher greift das System der Regierung zur Betreuung irregulärer Kindermigrantinnen und -migranten erst im Augenblick ihrer Rückführung und nicht vorher. Hinzu kommt, dass die psychosoziale Gesundheit der Kinder nicht überwacht wird. Dies trägt dazu bei, dass die seelischen und psychosozialen Auswirkungen der prägenden Migrationserfahrung unsichtbar bleiben. Das Fehlen einer umfassenden, humanistischen Sicht führt dazu, dass Ausgrenzung, Schutzlosigkeit und Gefährdung von Kindermigrantinnen und -migranten reproduziert und zusätzlich verschärft werden.
Im Rahmen des «Plans Allianz für den Wohlstand» begann die salvadorianische Regierung 2016 mit der Umsetzung eines vom Außenministerium des Landes initiierten umfassenden «Programms zur Wiedereingliederung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern» (Programa Integral de Reinserción de Personas Retornadas) sowie des von der «Nationalen Kommission für Kleinst- und Kleinunternehmen erarbeiteten Projekts zur wirtschaftlichen und psychosozialen Wiedereingliederung» (Proyecto de Reinserción Económica y Psicosocial). Schwerpunkt des letztgenannten Projekts ist die Förderung von Existenzgründungen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer durch die Bereitstellung von Startkapital oder günstigen Kreditlinien, die den Zugang zum nationalen Bankensystem erleichtern sollen. Die Reichweite des Projekts ist jedoch begrenzt, denn lediglich 200 Menschen in vier Gemeinden sollen hierdurch unterstützt werden.
Das Programm weist in seiner Ausrichtung keine neuen Elemente auf, denn schon in früheren Jahren wurden vergleichbare Maßnahmen umgesetzt. Der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, dass dieses Mal alleinerziehenden und minderjährigen Müttern sowie jungen Familien Vorrang eingeräumt wird. Die Multikausalität der Migration findet jedoch keine Berücksichtigung, denn lediglich Armut und Arbeitslosigkeit gelten als strukturelle Ursachen, bei denen das Programm ansetzt. Darüber hinaus ist das Programm in seinem mittel- und langfristigen Wirkungspotenzial sehr begrenzt, denn es umgeht das Problem der Erpressung – vor allem von Kleinst- und Kleinunternehmern – durch Banden und Kriminelle als eine der am weitesten verbreiteten Straftaten. Wie aus einem Bericht der salvadorianischen Ombudsstelle für Menschenrechte hervorgeht, liegt hierin jedoch der Hauptgrund für die Zwangsmigration innerhalb des Landes.
Fazit: In El Salvador gibt es trotz ständig zunehmender Migrationsströme und Abschiebungen bisher noch kein staatliches Programm zur Wiedereingliederung rückkehrender Jungen und Mädchen. Die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe als Bürgerinnen und Bürger sowie als Subjekte der Migration bleiben nach wie vor unsichtbar.
Die Migration und insbesondere die der salvadorianischen Kinder konnte trotz aller regulatorischen und behördlichen Maßnahmen nicht eingedämmt werden. Diese kratzen nur an der Oberfläche und bekämpfen nicht die strukturellen Ursachen. Sie sind Ausdruck der Missachtung und Geringschätzung der sich verschlechternden Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche und der dramatischen Zunahme ihrer Migration.
Aus dem Spanischen von Beate Engelhardt
Opfer von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, 2016:
Verbrechen begangen von: Honduraner/innen: 53% Salvadorianer/innen: 21% Guatemaltek/innen: 17% Andere: 9% Gruppen Organisierter
Kriminalität: 45,7% Behörden: 41,5% Einzelpersonen: 12,8%
REDODEM, Migración en tránsito por México: rostro de una crisis humanitaria internacional, 2016
Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung 11
1 Minderjährigenmigration bezieht sich auf Jungen, Mädchen und Jugendliche unter 18 Jahren, die ohne die erforderlichen Dokumente allein oder in Begleitung von verwandten oder auch nicht verwandten Erwachsenen reisen.
2 Zetino Duarte, M. und Avelar, D. (2016): «Configuración social de los derechos de los niños y niñas migrantes no acompañados», in: Gaborit, Mauricio, et al. Atrapados en la tela de araña, UCA, San Salvador.
3 Die Zahl der an der Südgrenze der USA festgenommenen Kinder aus Zentralamerika stieg 2014 um 450% gegenüber dem Vorjahr.
4 Die Zahl der salvadorianischen Kinder, die 2015 von der Südgrenze der USA aus abgeschoben wurden, verringerte sich tatsächlich um 43%, wohingegen die Abschiebungen aus Mexiko um 35% zunahmen.
5 Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Mexiko wird von immer mehr Verhaftungen ganzer Familien berichtet, die aus El Salvador und anderen zentralamerikanischen Ländern migrieren.
6 Die Mordrate in El Salvador ist kontinuierlich gestiegen und belief sich 2015 auf 10,5 Fälle auf 100.000 Einwohner. Damit hatte El Salvador in diesem Jahr die höchste Quote in ganz Lateinamerika zu verzeichnen. Siehe hierzu: Centro de Investigación de Crimen Organizado (2016): Balance de Insight Crime sobre homicidios en América Latina en 2016. Verfügbar unter:
http://es.insightcrime.org/analisis/balance-insight-crime-sobre-homicidios-2016 [Abfrage vom 13. Januar 2017].
7 Diese Angaben stützen sich auf einen Bericht des Hochschulinstituts für Öffentlichkeit der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas in El Salvador. Norwegischer Flüchtlingsrat (2015): Global Overview 2015. People internally displaced by conflict and violence. Norwegian Refugee Council. Verfügbar unter: http://www.internal-displacement.org/assets/library/Media/201505-Global-Overview-2015/20150506-global-overview-2015-en.pdf [Abfrage vom 12. Januar 2017).
8 Procuraduría para la Defensa de los Derechos Humanos de El Salvador (2016): Informe de registro de la Procuraduría de Derechos Humanos sobre desplazamiento forzado. PDDH, El Salvador.
Verfügbar unter: http://www.pddh.gob.sv/menudocs-7/send/6-infesp/196-desplazamiento-forzado [Abfrage vom 12. Januar 2017].
9 Diese Folgewirkungen sind bisher in El Salvador noch nicht untersucht worden. Die Abteilung für Psychologie und Öffentliche Gesundheit der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas in El Salvador hat damit begonnen, diese Problematik unter dem Thementitel «Psychosoziale Folgewirkungen der Migration auf salvadorianische Kinder» zu erforschen.
Festnahmen unbegleiteter Mädchen und Jungen aus El Salvador, Guatemala, Honduras und Mexiko nach Angaben der US-Grenzpolizei aus den Jahren 2009 bis 2016:
Zetino und Avelar, auf der Grundlage von Daten der US-Grenzpolizei: https://www.cbp.gov/newsroom/stats/southwest-border-unaccompanied-children/fy-2016
70 000
60 000
50 000
40 000
30 000
20 000
10 000
0
El Salvador
Gesamt
Guatemala
Honduras
Mexiko
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
12 Und dann? Salvadorianische Kinder nach der Abschiebung

Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung
Myriam Hernández Sabogalerreicht, dass das Land nach Syrien bei Vertreibungen weltweit an zweiter Stelle steht. Nach den Daten des staatlichen Zentralregisters für Konfliktopfer (Registro Único de Víctimas) gab es bis Januar 2017 insgesamt 7.083.118 Vertriebene – 11 Prozent der Gesamtbevölkerung und 88 Prozent der Opfer des internen bewaffneten Konflikts. Darüber hinaus haben 99 Prozent der Gemeinden Kolumbiens in unterschiedlichem Maße unter der Vertreibung ihrer Bevölkerung zu leiden.1 Über 80 Prozent der Opfer stammen aus ländlichen Gebieten. Am stärksten betroffen sind die indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerungsgruppen, die ihre traditionellen Anbaumethoden und Strukturen der Territorialverwaltung aufgeben mussten.2 Außerdem haben die lange Geschichte des bewaffneten Konflikts und die unzureichenden Antworten der öffentlichen Politik im Umgang mit Vertreibung und deren Vermeidung neue Formen der Zwangsmigration hervorgebracht. Hierzu gehören die innerstädtische Vertreibung und die Zerstörung bzw. Entvölkerung von Dörfern, in denen die ländlichen Bewohner nicht nur den Verlust ihrer angestammten Gebiete erleiden, sondern ebenso auch den Zerfall ihrer gemeinschaftlichen Organisationsformen und ihrer Kultur.
Vorausgegangen war den heutigen Zwangsvertreibungen – die in den 1980er Jahren vom kolumbianischen Verfassungsgericht überhaupt erst als solche anerkannt wurden – ab Mitte der 1970er Jahre der aufkommende Drogenhandel. Nach Angaben des kolumbianischen Rechnungshofes hatten sich im Jahr 2000 Drogenhändler in verschiedenen Regionen Kolumbiens bereits 4,4 Millionen Hektar Land für ihre illegalen
Die Analyse der Binnenmigration als Folge der Gewalt in Kolumbien ist sehr komplex. Dazu müssen die Hintergründe und Interessen der verschiedenen bewaffneten und nicht bewaffneten, legalen und illegalen Akteure untersucht werden, die von der Gewalt gegen mehr als sieben Millionen binnenvertriebene Kolumbianerinnen und Kolumbianer profitiert haben. Außerdem sind die Auswirkungen auf die Opfer zu berücksichtigen. Dauerhaftigkeit, Ausmaß und territoriale Ausdehnung der Vertreibungen lassen den Schluss zu, dass der Zwangsexodus keine konjunkturelle Ausprägungsform des internen bewaffneten Konflikts darstellt, sondern ein Strukturelement, das die gesamte Geschichte des Landes durchzieht und ebenso wie andere Formen der Gewalt in Kolumbien als «normal» gilt.
In diesem Sinne soll hier kurz auf einige staatliche Maßnahmen zur Bewältigung des Phänomens eingegangen und die aktive Rolle des kolumbianischen Verfassungsgerichts herausgestellt werden. Das hat schon sehr früh die massive Verletzung von Rechten der Betroffenen festgestellt und die Wiederherstellung dieser Rechte durch gerichtliche Verfügungen gefordert. Solche Beschlüsse haben dazu beigetragen, die Vernachlässigung der Bevölkerung abzubauen und die zivilgesellschaftliche Kontrolle durch Monitoringberichte und öffentliche Anhörungen zu erleichtern.
Das Ausmaß der Zwangsvertreibung
Der Zwangsexodus in Kolumbien hat mittlerweile derartige Größenordnungen
Myriam Hernández Sabogal ist eine kolumbianische Soziologin und Expertin für Übergangsjustiz, politischen Wandel und Versöhnung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Erforschung und Bewältigung von Konflikten, insbesondere des bewaffneten Konflikts in Kolumbien, die Zwangsvertreibung sowie die mit dem Zugang, der Aufgabe und des Raubs von Land und den Landrechten verbundenen Probleme. Myriam Hernández war Leiterin des Projekts Schutz des Landes und des Vermögens der vertriebenen Bevölkerung, aus dem die heutige Behörde für Landrückgabe in Kolumbien hervorging.
14 Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung
Bevölkerung» erarbeitet. Außerdem wurde die Verabschiedung des Gesetzes 387/97 vorangetrieben, das auf den Schutz und die Versorgung der betroffenen Menschen ausgerichtet war. Das erwies sich jedoch als unzureichend. Ein Grund hierfür lag darin, dass die Vertriebenen mit den Opfern von Naturkatastrophen auf die gleiche Stufe gestellt wurden. Darüber hinaus wurden in der Endfassung des Gesetzes Themen ausgeklammert, «die einen Bezug zu den strukturellen Ursachen der gewaltsamen Vertreibung herstellten; hierzu gehören politische, soziale, wirtschaftliche und militärische Faktoren. Ebenso wurde darauf verzichtet, die Verantwortung für das Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte zu übernehmen.»5 Darüber hinaus lässt das genannte Gesetz die Wechselbeziehung zwischen Vertreibung, Landraub und Flucht in die Nachbarländer außer Acht.
Bodenkonzentration, Rohstoffausbeutung und agroindustrielle Projekte
Die Zwangsmigration ist nicht ausschließlich auf die Auseinandersetzung zwischen den illegalen bewaffneten Akteuren bzw. Aufständischen und den staatlichen Sicherheitskräften zurückzuführen, sondern auch auf die Wirtschaftsinteressen, die für die territoriale Umstrukturierung sowie die Boden- und Ressourcenkonzentration verantwortlich sind. Unter dem Vorwand, die Guerilla zu vertreiben, schlossen die staatlichen Sicherheitskräfte Bündnisse mit regionalen Selbstverteidigungsgruppen, die mit Unterstützung von Drogenhändlern und Großgrundbesitzern gestärkt und später zu
Geschäfte angeeignet.3 Hierzu gehören sowohl der Anbau und die Vermarktung von Drogen, als auch Geldwäsche durch massive Landkäufe. Mit ihrer wirtschaftlichen Macht trugen die Drogenhändler zur Ausweitung der Korruption bei und spannten Staatsbedienstete und politische Funktionäre für ihre Zwecke ein. Gleichzeitig unterstützten Unternehmen und Kriminelle aus dem Dunstkreis des Drogengeschäfts den Aufbau paramilitärischer Gruppen, die als Schlüsselakteure den Zwangsexodus weiter verschärften.
Mit dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Guerillagruppen und Paramilitärs nahm die Binnenvertreibung der Bevölkerung ab 1995 zu und erreichte 2002 ihren Höhepunkt. Die Zahl der 2016 registrierten Vertriebenen – 52.819 Menschen – beweist jedoch, dass die Vertreibungen trotz der 2016 erfolgten Unterzeichnung des «Endgültigen Abkommens über die Beendigung des Konflikts und den Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens» (Acuerdo Final para la Terminación del Conflicto y la Construcción de una Paz Estable y Duradera) bis heute andauern.4
Das Ausmaß der Vertreibungen macht deutlich, dass über Jahre hinweg eine Reaktion des Staates auf die Zwangsmigration ausblieb. Hierdurch wurden zum einen die Guerillagruppen, zum anderen die Paramilitärs, die Drogenhändler und auch die Armee gestärkt, die die Zivilbevölkerung oftmals schutzlos zurückgelassen hat. Erst als 1995 die Zwangsvertreibungen massiv zunahmen und zu einer humanitären Krise führten, wurde als Reaktion auf entsprechende Hilferufe aus der Zivilbevölkerung das sog. «Nationale Programm zur umfassenden Versorgung der vertriebenen
Opfer und Binnenvertriebene in Kolumbien, 2017
Gesamtbevölkerung:
64.391.981 Menschen
Opfer des Konflikts:
8.048.988 Menschen
davon Binnenvertriebene:
7.083.118 Menschen
Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung 15
paramilitärischen Einheiten aufgebaut wurden. So entstanden Konflikten um Gebiete, die aufgrund ihrer geographischen Lage, ihrer biologischen Vielfalt und/oder ihres Reichtums an natürlichen Ressourcen von strategischer Bedeutung waren. Schritt für Schritt eskalierten die Auseinandersetzungen und weiteten sich schließlich auf einen Großteil des kolumbianischen Staatsgebiets aus. Massaker, selektive Morde, gewaltsames Verschwindenlassen und andere Formen der Vertreibung wurden zur gängigen Praxis.
In den betroffenen Gebieten entstanden Projekte in den Bereichen Agrarindustrie, Bergbau, Infrastruktur und Ölförderung sowie illegale Wirtschaftspraktiken, in die Kapital unterschiedlicher Herkunft floss. Darüber hinaus haben sich mit Hilfe internationaler Investitionen Entwicklungsmodelle durchgesetzt, in denen die Kriegsfolgen außer Acht gelassen werden.
Landaufgabe und Landraub werden je nach Quelle in ihrer Größenordnung unterschiedlich beziffert. Die Schätzungen reichen dabei von 1,2 Millionen bis hin zu 10 Millionen Hektar.6 Die Kontrollkommission (Comisión de Seguimiento) geht nach den Daten aus der zweiten landesweiten Opferbefragung davon aus, dass 5,5 Millionen Hektar Land geraubt bzw. aufgegeben wurden. Dies entspricht 10,8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Kolumbiens.7 Dadurch wurde die Bodenkonzentration gefördert, und für 64 Prozent der bäuerlichen Bevölkerung wurden die Zugangsmöglichkeiten zu Land eingeschränkt. Deutlich wird diese Entwicklung in der veränderten Landnutzung, der Umgestaltung der Landschaft, dem Zerfall der ländlichen Gemeinden und der Verdrängung der traditionellen Anbausysteme. Mançano Fernandes weist darauf hin, dass «das Agrobusiness sein Territorium für die Produktion von Waren organisiert, wohingegen die Kleinbäverlichen Betriebe ihr Gebiet in erster Linie zur Existenzsicherung nutzen».8
Der Staat spielte bei der territorialen Umgestaltung eine Schlüsselrolle, denn er förderte vor allem Megaprojekte, die sich in ihren Geschäftsmodellen auf Landraub und Rechtsverletzungen stützen. Ein Beispiel hierfür ist die Anpflanzung von Ölpalmen, die nicht nur schwerwiegende Folgen für die Umwelt mit sich bringt, sondern auch auf Gebiete ausgeweitet wurde, die in gemeinschaftlichem Besitz sind und ursprünglich afrokolumbianischen Bevölkerungsgruppen gehörten. In anderen Teilen des Landes, wie z.B. in der Region Catatumbo, haben einige Unternehmen unter Ausnutzung der akuten wirtschaftlichen Notlage der Vertriebenen massiv Land aufgekauft und ein Modell installiert, das sich auf Produktionspartnerschaften mit der bedürftigen ländlichen Bevölkerung stützt. Dieses Modell zeichnet sich durch ungleiche Verhandlungspositionen aus und lässt erhebliche Zweifel am möglichen Nutzen solcher Partnerschaften für die lokale Bevölkerung aufkommen.
Im Bereich Bergbau liegt umfangreiches Datenmaterial über massive Rechtsverstöße in verschiedenen Siedlungen im Departement Cesar vor. Dort wurden die Bewohnerinnen und Bewohner aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Die nicht umgesiedelte Bevölkerung hatte mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Umweltschäden zu kämpfen. Unter den im Departement tätigen Unternehmen sind der Drummond-Konzern und die zur Gruppe Glencore PLC gehörende C.I. Prodeco zu nennen.9
Die Zwangsvertreibung hat sich somit zu einem Instrument für verschiedene Formen des Landraubs und der Anhäufung von Macht und Reichtum entwickelt. Damit wird die Konsolidierung eines auf Ausgrenzung und Ungleichheit gestützten Entwicklungsmodells zum Nachteil der ländlichen Bevölkerung gefördert.10 Nach Angaben von Oxfam International ist Kolumbien nachweislich das Land Lateinamerikas mit der ungerechtesten Landverteilung.11
In Bezug auf Landraub, Macht- und Kapitalakkumulation und deren Folgen für die Gesamtbevölkerung Kolumbiens hat der Rechnungshof des Landes festgestellt, dass «neben den massiven Menschenrechtsverletzungen ein Prozess der Verarmung der Bevölkerung stattfindet; er beinhaltet Vermögensverluste, eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen arm und reich und einen wachsenden Rückstand in den Bereichen von 11,9 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung bei Bildung und Gesundheitsversorgung.»12
Zwangsvertreibung und Friedensentwicklung
Wie bereits in dem Bericht «Eine vertriebene Nation» (Una Nación Desplazada) aufgezeigt wurde, sind trotz des riesigen Ausmaßes der Vertreibung und ihrer im Jahr
16 Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung

2000 erfolgten Einstufung als Straftatbestand13 abschließend kaum Ermittlungsfortschritte und ebenso wenig ein staatliches Konzept gegen die Straflosigkeit festzustellen. Das kolumbianische Verfassungsgericht hat auf diese unverändert fortbestehende Situation ebenso hingewiesen wie auf die Verfahrenshindernisse, die institutionelle Unfähigkeit zu deren Überwindung sowie die niedrige Zahl der von der Bevölkerung erstatteten Anzeigen, die zum Teil auf das Misstrauen gegenüber den Behörden zurückzuführen ist. Hinzu kommen die verschiedenen Erklärungen internationaler Organisationen, die mit Nachdruck auf die schleppende Bearbeitung und die dürftigen Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen zur Zwangsvertreibung hingewiesen haben. Diesbezüglich sind Aufklärung und Wahrheitsfindung eine Bringschuld des Staates gegenüber den Opfern.
Mit dem im November 2016 zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der kolumbianischen Regierung unterzeichneten Friedensabkommen sollen die Folgen der Zwangsvertreibung Schritt für Schritt überwunden werden. Die mit der Umsetzung des Abkommens verbundenen vielfältigen Herausforderungen verlangen Veränderungen in den institutionellen Strukturen, in der Kultur und der politischen Praxis sowie die offene Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger des Landes, die von jeher diskriminierten Gruppen der Gesellschaft anzuerkennen und wertzuschätzen. In diesem Zusammenhang könnte die internationale Gemeinschaft eine tragende Rolle spielen, um den Schutz der Umwelt zu gewährleisten und die für den Friedensaufbau notwendige demokratische Praxis zu fördern.
Aus dem Spanischen von Beate Engelhardt
1 Red Nacional de Información (2017): Unidad de Víctimas. Verfügbar unter: http://rni.unidadvictimas.gov.co/, [Abgerufen am 31. Januar 2017].
2 Centro Nacional de Memoria Histórica (2015): Una Nación Desplazada: Informe Nacional del Desplazamiento Forzado en Colombia, 1. Auflage, Bogotá, CNMH-UARIV.
3 Enciso, F., Bernardo, L. (o.D.): «Desplazamiento Forzado: un impacto territorial», in: Territorio, Patrimonio y Desplazamiento, Bd. I, Cargraphics S.A. Kolumbien, S. 261.
4 Red Nacional de Información (2017): a.a.O.
5 Centro Nacional de Memoria Histórica (2015): a.a.O., S. 85.
6 Consultoría para los Derechos Humanos, Comisión de seguimiento a la política pública sobre desplazamiento forzado (2009): El reto ante la tragedia humanitaria del desplazamiento forzado: reparar de manera integral el despojo de tierras y bienes, Bd. 5, Industrias Gráficas Darbel, Kolumbien, S. 44-45ff.
7 Consultoría para los Derechos Humanos (2009): a.a.O., S. 57.
8 Mançano Fernandes, Bernardo (2010): Territorios en disputa: campesinos y agribusiness. Verfügbar unter: UNESP://www.landaction.org/515-territorios-en-disputa-campesinos-515, [Abgerufen am 23. Februar 2017].
9 Moor, Marianne; van de Sandt, Joris (2014): El lado oscuro del carbón. La violencia paramilitar en la zona minera del Cesar, Colombia, Utrecht. Verfügbar unter:: paxencolombia.org/wp-
Informe Sombra de Sostenibilidad de las Operaciones de Glencore en Colombia. Verfügbar unter: https://www.pas.org.co/, [Abgerufen am 23. Februar 2017].
10 Dies hatte neben anderen Auswirkungen auch einen zunehmenden Prozess der «Entbäuerlichung» zur Folge, begünstigt durch die im Regierungsdenken verankerte Unterbewertung des von der ländlichen Bevölkerung geleisteten gesellschaftlichen Beitrags.
11 Oxfam (2016): Desterrados: tierra, poder y desigualdad en América Latina. Verfügbar unter: https://www.oxfam.org/es/informes/desterrados-tierra-poder-y-desigualdad-en-america-latina
12 Contraloría General de la República (2015): Primera Encuesta Nacional de Víctimas, Bogotá, S. 24.
13 Centro Nacional de Memoria Histórica (2015): a.a.O., S. 312.
18 Gewaltsame Vertreibung in Kolumbien – eine Geschichte der Ausgrenzung
Die Schätzungen zur Migration basieren auf den nationalen Volkszählungen, sowie auf Daten von Grenzbehörden und Organisationen, die sich für die Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten einsetzen.
Bei näherer Untersuchung stellt sich jedoch heraus, dass sich die verschiedenen Quellen häufig widersprechen. Dies hat mehrere Gründe. So spiegeln die durch die Volkszählungen gewonnen Daten häufig nicht wesentliche Informationen in Bezug auf die Komplexität der Wanderungsbewegungen der Migrantinnen und Migranten wider. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass die meisten Volkszählungen nur alle fünf oder zehn Jahre stattfinden. In Lateinamerika aber ist die Migration in die USA seit 2014 wichtige Veränderungen unterworfen und hat sich seit der neuen Regierung Trump ab 2017 nochmals in neuen Richtungen entwickelt, sodass wir noch nicht sagen können, welche klaren Migrationsmuster es gibt. Ein weiterer schwerwiegender Grund liegt darin, dass viele Regierungen die Zuwanderung als einen «illegalen» Akt ansehen, weshalb uns die tatsächlichen Zahlen weiterhin verborgen bleiben.
Trotz allem haben es sich Regierungen, internationale Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM), der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), sowie Amnesty International, spezialisierte Forschungszentren, kleine Nichtregierungsorganisationen, Journalisten und unabhängige Fachleute zur Aufgabe gemacht, die internationalen Flüchtlingsbewegungen zu verfolgen, zahlenmäßig zu erfassen, zu registrieren und zu analysieren, um das Phänomen zu verstehen und Alternativen zu entwickeln.
Zahlen und Fakten zur Migration in Lateinamerika
244
2015
191
2005
222
2010
2000
173
Migration weltweit:
Angaben in Millionen
Lateinamerika
und Karibik
Afrika
Europa
Asien
Nordamerika
Ozeanien
76
75
54
21
9
8
Einwanderung nach Regionen, 2015:
Angaben in Millionen
OECD, Migration Policy Debates No. 11, 2016
47%
nach Kanada und
in die USA
37%
innerhalb Lateinamerikas
19%
in andere
OECD-Staaten
Lateinamerikanische Auswanderung nach Regionen, 2011 bis 2014:
UN, International Migration Report, 2015
Zahlen aufgerundet
Der Versuch, das Phänomen der Migration in Lateinamerika oder einer anderen Region mit präzisen Zahlen zu beschreiben, ist, als wolle man etwas Gigantisches fotografieren, das sich in ständiger Bewegung und zudem in Dunkelheit befindet.
Gefahren auf dem Weg Ertrinken beim Überqueren des Amazonas und im Golf von Urabá (zwischen Kolumbien und Panama). Tod durch Schlangenbiss oder Insektenstich, Überfälle, Verdursten oder Verhungern im Urwald von Darién (Panama). Überfälle, Vergewaltigung und Entführung durch kriminelle Banden in Zentralamerika und Mexiko.
Migration aus: AFRIKA:
Demokratische Republik Kongo, Kamerun, Nigeria, Ghana, Mali, Senegal, Somalia, Burkina Faso, Eritrea ASIEN:
Bangladesch, Nepal, Pakistan, Sri Lanka, Indien CHINA ZENTRALAMERIKA (ZA)
Guatemala, El Salvador, Honduras Gefahrengebiete
EIN: Einwanderung
AUS: Auswanderung
GTHNSVNICRPACOECVECUHTDOPEBOBRARCLPYUYMX
Haiti
EIN
39.529
0,37%
AUS
1.158.538
9,76%
Dominikanische Rep.
EIN
415.564
3,95%
AUS
1.296.544
10,96%
Kuba
EIN
– – –
AUS
1.426.271
11,13%
Venezuela
EIN
1.404.448
4,51%
AUS
606.281
1,91%
Ecuador
EIN
387.513
2,40%
AUS
1.101.923
6,39%
Panama
EIN
184.710
4,70%
AUS
142.678
3,50%
Nicaragua
EIN
40.262
0,66%
AUS
638.958
9,51%
Guatemala
EIN
76.352
0,47%
AUS
1.017.513
5,86%
Costa Rica
EIN
421.697
8,77%
AUS
133.185
2,70%
Honduras
EIN
28.070
0,35%
AUS
648.520
7,43%
El Salvador
EIN
42.045
0,69%
AUS
1.436.158
18,99%
Kolumbien
EIN
133.134
0,28%
AUS
2.638.852
5,19%
Bolivien
EIN
142.989
1,33%
AUS
799.605
6,94%
Paraguay
EIN
156.462
2,36%
AUS
845.373
11,29%
Uruguay
EIN
71.799
2,09%
AUS
346.880
9,18%
Chile
EIN
496.436
2,62%
AUS
612.010
3,30%
Peru
EIN
90.881
0,29%
AUS
1.409.167
4,30%
tapachula
über pakistan / arabische emirate
über mumbai
china
über moskau
über elfenbeinküste / senegal
Amazonasbecken
Brasilien
Portugal
Japan
Andere Länder
China
USA
Paraguay
Portugal
Japan
Andere Länder
AUS
1.524.106
0,73%
EIN
713.568
0,34%
Argentinien
AUS
939.603
2,12%
Andere Länder
Spanien
USA
EIN
2.086.302
4,81%
Paraguay
Bolivien
Andere Länder
Chile
Peru
Italien
Spanien
Mexiko
Andere Länder
Spanien
Guatemala
USA
EIN
1.193.155
0,94%
Spanien
Kanada
USA
AUS
12.339.050
8,85%
Nájar, Heinrich-Böll-Stiftung, 2017, unveröffentlicht; IOM, Global Migration Flows, 2017
Migrationsrouten und Gefahren
Asociación Mexicana de Ferrocarriles, 2017; París, Ley und Peña, Migrantes en México: vulnerabilidad y riesgos, 2015; REDODEM, Migración en tránsito por México: rostro de una crisis humanitaria internacional, 2016; Encuesta sobre migración en la frontera sur de México, 2013; Statfor, Areas of Cartel Influence in Mexico, 2015
Gefahren auf dem Weg Überfälle von Drogenkartellen und kriminellen Banden. Unfälle und Verletzungen bei der Fahrt mit dem Güterwaggon «La Bestia». Verdursten oder Verhungern beim Durchqueren dünn besiedelter Gebiete und Wüsten. Erstickungsgefahr durch überfüllte Transportmittel.
Mexiko ist zum Engpass auf einer der meist benutzten Migrationsrouten der Welt geworden und seit der Umsetzung des «Planes Südgrenze» der mexikanischen Regierung im Juli 2014 de facto die Südgrenze der USA. Mexiko ist aber auch Herkunftsland, Zielland und immer häufiger Rückkehrland für die internationale Migration.
Instituto Nacional de Migración (Mexikanisches Amt für Migration), 2017
Haiti
ZA
Afrika
Asien
Kuba
China
2012
2013
2014
2015
0
10.000
20.000
80.000
90.000
100.000
110.000
120.000
130.000
140.000
150.000
160.000
170.000
180.000
2016
Migrant/innen in Mexiko Route des Güterwaggons «La Bestia» (von kriminellen Banden kontrolliertes Transportmittel für die ärmsten Migrant/innen)
Route per Flugzeug
tapachula
tijuana
mexicali
monterrey
saltillo
Golfroute
Pazifikroute
Maras und andere kriminelle Banden
Los Zetas
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Kartell Jalisco Nueva Generación
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vermitteln, damit sie wieder auf die Beine kommen und ihre Befreiung selbst in die Hand nehmen können. Der Priester hat sich dieser Aufgabe verpflichtet, denn er weiß um die Last, die jeder einzelne seiner Gäste mit sich herumträgt: das Leid, das die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingt, die grausamen Verbrechen, die sie unterwegs erleiden, und die ungewisse Zukunft. Er weiß, dass die Migrantinnen und Migranten diejenigen sind, die in unserer heutigen Welt am härtesten unterdrückt werden und denen alles verweigert wird:
«Einige werden durch ihre Erlebnisse fast in den Wahnsinn getrieben. Wir müssen ihnen das notwendige Rüstzeug an die Hand geben und sie so in die Lage versetzen, all das zu bewältigen, was ihnen noch bevorsteht, und sich selbst durch den Kampf um Gerechtigkeit wiederaufzubauen».
Unmenschlichkeit
2009 veröffentlichte die mexikanische Menschenrechtskommission einen Bericht, nach dem innerhalb von fünf Monaten 9.758 Migrantinnen und Migranten entführt worden waren, d.h. 65 pro Tag. In mehr als der Hälfte der Fälle waren Staatsbeamte als unmittelbare Täter oder Komplizen von Kriminellen verwickelt. Ein Jahr später war die Zahl auf täglich 75 Entführungen gestiegen. Die Kommission wies darauf hin, dass die tatsächliche Zahl noch höher liegen könnte, denn viele Migrantinnen und Migranten erstatteten keine Anzeige, weil sie den Behörden nicht vertrauten. In den letzten sechs Jahren wurde der Bericht nicht mehr aktualisiert.
In Mexiko gibt es ein großer Solidaritätsnetzwerk zur Versorgung der vielen tausend Migrantinnen und Migranten ohne Papiere, die Jahr für Jahr das Land durchqueren, um von dort aus in die Vereinigen Staaten zu gelangen. Dabei handelt es sich jedoch nicht einfach nur um Anlaufstellen zum Essen und Schlafen, sondern um Zufluchtsstätten, die um etwas Grundlegenderes kämpfen: sie ermöglichen Migrantinnen und Migranten zu Subjekten ihrer eigenen Verteidigung und Befreiung zu werden.
Leid
Vor einigen Jahren kam eine junge Zentralamerikanerin in die Herberge «Posada Belén Casa del Migrante» und bat dort um Unterkunft. Sie unterschied sich nicht sehr von all den anderen Frauen, die auf ihrem Weg in die Vereinigten Staaten die Herberge aufsuchen. Pater Pedro Pantoja erinnert sich: «Sie trug schmutzige Kleidung und zerschlissene Schuhe, und sie sah erschöpft aus.» Die Tage vergingen, und irgendetwas an ihr war anders. Sie sprach nicht, und sie wirkte aggressiv.
Erst nach drei Monaten war sie zum Sprechen bereit und erzählte, sie sei 16 Jahre alt und aus Honduras geflohen, weil sie einen Mann getötet habe. Der Mann habe ihren Vater vor ihren Augen mit der Machete erschlagen, und sie habe daraufhin selbst zur Machete gegriffen und den Mörder ihres Vaters umgebracht.
Pantoja erinnert sich noch Jahre später an diese Geschichte, um dann über seinen Auftrag zu sprechen. Er will den Menschen, die ohne Papiere nach Mexiko kommen, das emotionale und politische Rüstzeug
Daniela Rea ist eine freie Journalistin aus Mexiko, spezialisiert auf Menschenrechte und soziale Konflikte. In den letzten Jahren konzentriert sie sich auf die Arbeitsschwerpunkte «soziale Auswirkungen krimineller und staatlicher Gewalt» und «Wiederherstellung der Erinnerung». 2013 erhielt sie die Auszeichnung «Excelencia Periodística» des PEN-Clubs Mexiko sowie den Preis für geschlechtergerechten Journalismus, der von UN Women und dem Obersten Gerichtshof Mexikos verliehen wird.
Dieser Ort ist nicht zum Schlafen da: Migrantenherbergen als Orte der Zuflucht und des politischen Kampfes
Daniela Rea
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Name «La 72» soll an die 72 Migrantinnen und Migranten erinnern, die 2010 in dem 1.500 Kilometer entfernten Ort San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas ermordet wurden.
Auch die Herberge «Posada Belén Casa del Migrante» am anderen Ende des Landes wurde aus dem Tod geboren: 2011 wurden die Honduraner Delmer Alexander, José David und ein weiterer, nicht identifizierter junger Mann von bewaffneten Wachposten an der Bahnstrecke verfolgt und ermordet. Pater Pantoja schildert, wie dieser Tod einen Ort entstehen ließ und mit Leben erfüllte, der mittlerweile zum Bezugspunkt in der Politisierung der Migrantinnen und Migranten geworden ist.
«Unsere Brüder und Schwestern sind Menschen, denen alles verweigert worden ist: ihr Heim, ihre Identität, ihr Recht zu migrieren, ihre Sicherheit, sogar ihr Leben. Nachdem sie Tausende von Kilometern gewandert sind, ist diese Herberge ihr Zuhause. Wir wollen ihnen ihre Würde zurückgeben, so dass sie wieder Hoffnung schöpfen und den Sinn ihres Menschseins erkennen können», sagt Pantoja. Er hat im Lauf seines Lebens schon die verschiedensten Kämpfe für Gerechtigkeit, für Arbeitnehmerrechte und die Rechte von Migrantinnen und Migranten in Mexiko und den Vereinigten Staaten begleitet.
Die «Posada Belén Casa del Migrante» beherbergt pro Jahr etwa 6.000 Menschen, die dort bis zu sechs Monate bleiben. Durch die Gründung dieser Einrichtung hat sich auch die Gemeinde Saltillo verändert, eine Industriestadt im mexikanischen Norden, die im vergangenen Jahrzehnt Morde und gewaltsames Verschwindenlassen erlebt hat: Jeden Freitag bringen die Bewohner des Ortes Lebensmittel zur Herberge, und eine Gruppe von Studierenden hilft bei verschiedenen Aufgaben. Als Gegenleistung verteilen die Migrantinnen und Migranten das vor Ort angebaute Gemüse und spenden im Bedarfsfall Blut in den staatlichen Krankenhäusern.
Auch die 2007 von dem Priester Alejandro Solalinde gegründete Herberge «Hermanos en el camino» («Brüder unterwegs») wurde aus dem Tod geboren. Solalinde verteilte damals in Ixtepec im Bundesstaat
Im Jahr 2013 nahm die Interamerikanische Menschenrechtskommission bei ihrem Besuch in Mexiko eine anonyme Zeugenaussage auf, in der die Entführung einer Frau geschildert wurde: «Wir waren in einer Gruppe unterwegs, als wir von mehreren Angreifern überfallen wurden. Sie zogen mich aus und wollten mich vergewaltigen, aber ich hatte meine Regel. Da ließen sie uns laufen. Dann kamen wir nach Tenosique. Morgens um 11 Uhr wurden wir am Bahnhof von einem Pickup mitgenommen und nach Tamaulipas gebracht. Dort waren mehr als 400 Menschen […]. Weil ich mich gut benahm, boten sie mir Arbeit in der Küche an […]. Ich wurde gezwungen, meine Gefährtinnen mit einem Stock aufs Hinterteil zu schlagen; andere Frauen, die sich mit mir dort aufhielten, verprügelten wiederum mich. Ich tat immer, was man von mir verlangte».
Entlang der 3.000 Kilometer langen Strecke zwischen der Süd- und der Nordgrenze Mexikos berichten Migrantinnen und Migranten immer wieder von ihren Erlebnissen. Sie erzählen von Vergewaltigungen, vom Verschwindenlassen, von geheimen Gräbern, geschlagenen oder verstümmelten Menschen, Erpressungen und Massenentführungen.
Leben
In Mexiko wurden viele der Herbergen, die das Leben der Migrantinnen und Migranten schützen wollen, aus dem Tod geboren.
Bruder Tomás González kam 2010 nach Tenosique, einem kleinen Dorf im Bundestaat Tabasco, an der Grenze zu Guatemala. Er wusste, dass in diesem Gebiet die Gewalt seit Jahren brodelte, dass die Entführung von Migrantinnen und Migranten an der Tagesordnung war und Beamte der Migrationsbehörden zentralamerikanische Frauen vergewaltigten. Eines Morgens im August jenes Jahres erfuhr er aus der Zeitung von der Ermordung dreier Zentralamerikaner an den Bahngleisen und dachte, jetzt müsse er einfach etwas grundsätzlich Durchgreifendes unternehmen, um ihnen zu helfen. So gründete er die Herberge «La 72», in der jährlich 15.000 Gäste Aufnahme finden. Der
Die Zahl der von 2006 bis 2012 verschwundenen Migrant/innen
ohne Papiere wird auf 70.000 – 120.000 geschätzt.
Nationale Kommission für Menschenrechte - CNDH, Mexiko
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Oaxaca Lebensmittel an Menschen aus Zentralamerika. 2007 entgleiste in der Nähe ein Zug, und Solalinde lief zur Unglücksstelle, um Hilfe zu leisten. Unter den Waggons fand er Dutzende von Verstümmelten, doch der amtierende Pfarrer der Gemeinde weigerte sich, ihnen zu helfen. Solalinde erkämpfte sich daraufhin gegen den Willen der Behörden einen Platz zum Bau der Unterkunft. Zehn Jahre später ist dieser Ort zu einer der am stärksten frequentierten Herbergen geworden, in der 20.000 Menschen jährlich Aufnahme finden.
Kampf
Jahr für Jahr reisen 150.000 bis 400.000 Menschen ohne Papiere durch Mexiko, um dort Zuflucht zu suchen oder in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Die meisten von ihnen stammen aus Zentralamerika, aber zunehmend auch aus Asien und Afrika.
Auf ihrem Weg bietet ihnen ein Netz von etwa 100 Herbergen, Suppenküchen, Privat- und Gasthäusern Unterstützung an. Die meisten davon werden von katholischen Priestern oder Ordensschwestern geleitet, die von der Befreiungstheologie inspiriert sind. Seit mehreren Jahrzehnten begleitet die Befreiungstheologie die Kämpfe der Menschen, die den meisten Schutz brauchen, wie Indigene, Arbeiter und sexuelle Minderheiten. Die Arbeit dieser Einrichtungen stützt sich auf Spenden der Zivilgesellschaft und die Mithilfe von Ehrenamtlichen, und sie steht oftmals im Widerspruch zu den mexikanischen Behörden, die in der Verteidigung von Migrantinnen und Migranten einen Angriff gegen den Staat sehen.
Die Verteidigungsarbeit war so nicht unbedingt geplant. Leticia Gutiérrez, die sechs Jahre lang den Pastoralbereich «Menschliche Mobilität» der mexikanischen Bischofskonferenz leitete, erzählt die Geschichte: Aus ihrer damaligen Position heraus baute sie das Netzwerk von Herbergen auf, in denen heute Tausende von Migrantinnen und Migranten aus 11 verschiedenen Ländern versorgt werden. 2013 wurde sie jedoch von den katholischen Kirchenbehörden entlassen, denen ihr unerschütterliches Eintreten für Migrantinnen und Migranten unbequem oder sogar unheimlich geworden war.
«Wir selbst betrachteten uns eigentlich nicht einmal als Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschen», berichtet sie, «doch das Ausmaß der Gewalt gegen die Migrantinnen und Migranten und ihre Vernichtung gingen bei Weitem über die einfache Aufgabe hinaus, ihnen zu Essen zu geben».
Von 2007 an waren in den Herbergen mit zunehmender Regelmäßigkeit grauenvolle Berichte von Migrantinnen und Migrantinnen zu hören, die Opfer von Verbrechen geworden waren. Entführungen, Erpressungen und Vergewaltigungen wurden alltäglich. Schwester Leticia erzählt, dass dies ein Aufruf war, sich zu organisieren. Unmittelbar darauf kam ein zweiter Appell: Übergriffe gegen die Verantwortlichen der Herbergen; Drohungen, sie aus den Städten zu verbannen, Haftbefehle – so z.B. wurde Solalinde unter dem Vorwurf des Menschenhandels verhaftet – bis hin zu Raubüberfällen und Versuchen, Herbergen in Brand zu setzen.
Ein weiterer Faktor, der schließlich zur Konsolidierung der Organisation beitrug, war die Debatte über das mexikanische Migrationsgesetz, das mittlerweile 40 Jahre alt war. Nach diesem Gesetz galten Migrantinnen und Migranten ohne Papiere als rechtlose Kriminelle, und die Herbergen
Die Afrikaner, die zu uns kommen, sind völlig verarmt, vom System bis zum Letzten ausgepresst. Die Leute, die Geld haben und ihre Reise bezahlen können, gehen nicht in die Migrantenhäuser. Sie haben das gar nicht nötig. Sie fliegen mit dem Flugzeug oder durchqueren Mexiko per Reisebus von Tapachula an der Grenze zu Guatemala bis hoch nach Tijuana.
Wir verfolgen in unserer Herberge ein Konzept, nach dem die Menschen, sobald sie hier ankommen, auf jegliche Form verbaler, psychologischer oder sonstiger Gewalt verzichten müssen. Unser ganzes Haus ist voller Farben und Wandmalereien. Wir halten Versammlungen mit den verschiedenen Gästegruppen ab: mit Jugendlichen, Frauen, LBGT; auch Therapie-Sitzungen mit Psychologen und Ähnliches. Dabei stützen wir uns auf eine umfangreiche Dynamik, um die Gewalt gezielt zu entschärfen. Bei uns geht es sehr harmonisch zu, und es gibt eine große Vielfalt an Menschen; aber dennoch hat es in der Herberge noch nie eine Schlägerei oder Streit über religiöse Fragen gegeben. Die Prioritäten sind andere.
Die Integration funktioniert ziemlich reibungslos. So haben beispielsweise muslimische Afrikanerinnen oder Afrikaner, die zu uns kommen, ihre eigenen Gebetsformen. Wer etwas nicht essen kann, sagt in der Küche Bescheid, und dann bekommt er etwas anderes. Wir essen ohnehin kaum Fleisch, denn das wäre für jeden Tag zu teuer. Die Grundernährung besteht aus Bohnen, Reis und Gemüse.
Bruder Tomás González
Herberge «La 72», Tenosique, Mexiko.
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Noch immer sehr bewegt, erzählt Bruder Tomás weiter: «Wir hatten keinen genauen Plan, bis wohin wir kommen wollten. In Palenque schlossen sich weitere 200 Migrantinnen und Migranten an. In Villahermosa wurden wir von der Kirche verpflegt. Ermutigt beschlossen die Menschen, ihren Marsch fortzusetzen». Tag für Tag kamen weitere Pilgerinnen und Pilger hinzu, und immer mehr Kilometer wurden zurückgelegt. Zu diesem Zeitpunkt waren es bereits etwa 1.400 Migrantinnen und Migranten, und sie hatten fast 1.000 Kilometer zu Fuß oder auch in Bussen und auf Pickups hinter sich gebracht. Der Kreuzweg überraschte sowohl die Presse als auch die Behörden. In der mexikanischen Hauptstadt forderten die Menschen freie Durchreise, und die Migrationsbehörden erteilten ihnen schließlich die Erlaubnis, unbehelligt bis an die Grenze zu den Vereinigten Staaten zu reisen.
«Ohne das Recht auf freie Durchreise sind die übrigen Rechte nutzlos: Die Menschen können in ein Krankenhaus gehen und Zugang zur Gesundheitsversorgung fordern, aber sobald sie wieder herauskommen, werden sie abgeschoben. Sofern sie Opfer eines Verbrechens geworden sind, können sie ein Visum aus humanitären Gründen beantragen, aber man kann ihnen dieses Visum verweigern und sie abschieben», so Bruder Tomás.
Die oben geschilderten Erfolge der Migrantinnen und Migranten sind nicht die einzigen. Ein weiterer Schwerpunkt sind die Märsche, die Jahr für Jahr von zentralamerikanischen Müttern auf der Suche nach ihren verschwundenen Kindern organisiert werden. Der Koordinator der Bewegung der zentralamerikanischen Migrantinnen und Migranten (Movimiento Migrante Mesoamericano), Rubén Figueroa, begleitet beide Kämpfe und meint dazu: «Diese Beispiele zeigen, wie die Rechte nicht mehr nur von den Verteidigerinnen und Verteidigern, sondern von den Betroffenen selbst eingefordert werden.»
Auch wenn der Kampf um ihre Rechte den Migrantinnen und Migranten keine Atempause lässt (vier Monate nach dem Kreuzweg hat die mexikanische Regierung im Zuge des sog. «Plans Südgrenze» («Plan Frontera Sur») die Grenzen befestigt, um die Einreise zu erschweren), haben sie bereits die Route auf dem Weg zu ihrer eigenen Befreiung abgesteckt.
Aus dem Spanischen von Beate Engelhardt
wurden als Zentren des Menschenhandels gebrandmarkt. Im Kampf auf der gesetzgeberischen Ebene konnten die Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidiger große Erfolge verbuchen: Die Kriminalisierung von Menschen ohne Papiere wurde aufgehoben und deren Rechte auf Gesundheit, Gerechtigkeit und ein Visum aus humanitären Gründen festgeschrieben, wenn sie Opfer von Verbrechen waren. Ein Novum war, dass die Herbergen als «unantastbare Schutzräume» anerkannt wurden. Der Erfolg ging sogar so weit, dass den Migrations- bzw. Polizeibehörden gesetzlich untersagt wurde, sich in einem Umkreis von weniger als 100 Metern den Herbergen zu nähern oder dort einzudringen, um Razzien, Verhaftungen oder sonstige Einsätze vorzunehmen.
Heute konzentrieren sich die Kämpfe auf zwei Bereiche: Gerechtigkeit und freie Durchreise.
Verteidiger und Angehörige von Migrantinnen und Migranten brachten schließlich vor dem höchsten mexikanischen Gericht die bekanntesten Massaker zur Anklage, bei denen die Opfer ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ohne Papiere waren: 2010 ging es um 72 Migrantinnen und Migranten; 2011 wurden in San Fernando, Tamaulipas, 200 Leichen in geheimen Gräbern entdeckt; 2012 folgte das Massaker an 49 Menschen in Cadereyta, deren Leichen zerstückelt worden waren, um ihre Identifizierung zu erschweren. Die Forderung lautet: Identifizierung und Rückführung der Leichen in ihre Heimatländer, Bestrafung der Schuldigen und das Recht der Opfer auf Erinnerung und Wahrheit.
In den letzten Jahren ist die Bezugnahme auf den Leidensweg Jesu in den Schilderungen über das eigene Leid entlang des Weges zu einer Form der politischen Anklage geworden, um so auf die Verbrechen an Migrantinnen und Migranten aufmerksam zu machen. So veranstalteten die Gäste der Herberge «La 72» im April 2014 einen «Kreuzweg der Migrantinnen und Migranten»: Etwa 400 Menschen warteten in Tenosique auf dem Dach eines Zuges, um auf ihrem Kreuzweg bis zur Grenze des Bundesstaates Veracruz zu gelangen. Sie konnten jedoch ihren Weg nicht fortsetzen, weil die Eisenbahngesellschaft die Lokomotive abhängte und die Waggons stehen ließ. Bruder Tomás schildert, wie sich daraufhin die Menschen fragten: «Was nun?». Ohne Zögern antworteten die Migrantinnen und Migranten: «Dann gehen wir eben zu Fuß.»
Weitere Informationen:Angriffe gegen Verteidigerinnen und Verteidiger von Migrantinnen und Migranten:
http://redtdt.org.mx/wp-content/uploads/2015/05/INFORME_AAN_FINAL010415.pdfAmnesty International, Bericht «Unsichtbare Opfer» (Dokumentation über Massenentführungen):
http://amnistiainternacional.org/publicaciones/108-victimas-invisibles-migrantes-en-movimiento-en-mexico.htmlNationales Register verschollener und verschwundener Personen:
http://secretariadoejecutivo.gob.mx/rnped/consulta-publica.php. Alternativbericht der zivilgesellschaftlichen Organisationen zu den vom mexikanischen Staat übermittelten Antworten auf die vorrangigen Empfehlungen des UN-Ausschusses gegen gewaltsames Verschwindenlassen:
http://fundacionjusticia.org/cms/wp-content/uploads/2016/07/Informe-alternativo-OSC-mexicanas-al-CED-FINAL.-Junio-2016.pdf Interamerikanische Menschenrechtskommission, «Menschenrechte der Migranten und anderer Personen im Kontext der menschlichen Mobilität in Mexiko»:
http://www.oas.org/es/cidh/migrantes/docs/pdf/Informe-Migrantes-Mexico-2013.pdf Bewegung der zentralamerikanischen Migrantinnen und Migranten:
https://movimientomigrantemesoamericano.org/Kontakte zu Herbergen für Migrantinnen und Migranten:
http://www.la72.org/
http://www.hermanosenelcamino.org/
https://reddhmigrantes.wordpress.com/albergues/
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Historisch gesehen war Argentinien ein Aufnahmeland für Einwanderer. In der ersten Phase kam der Zustrom aus Europa, während die Zuwanderung in jüngerer Zeit hauptsächlich aus anderen lateinamerikanischen Ländern erfolgt. Die europäische Einwanderung durchlief unterschiedliche Phasen von Wachstum und Rückgang und nahm bis Ende der 1960er ganz erheblich ab, während der Zustrom aus den benachbarten Ländern (wie Uruguay, Chile, Paraguay, Brasilien und Bolivien) und – seit jüngerer Zeit auch aus asiatischen und afrikanischen Ländern – in den letzten Jahrzehnten merklich zugenommen hat. Insofern gehören internationale Migrationsbewegungen zu den bedeutsamsten und damit auch zu den umstrittensten Prozessen der argentinischen Geschichte.
Diktatur vs. Demokratie
Nach dem Staatsstreich von 1976 wurde eine neue Einwicklungsstrategie umgesetzt, die auf der Öffnung und Liberalisierung der Wirtschaft basierte (1976-2001). Das Allgemeine Gesetz zur Migration und Förderung von Einwanderung, das 1981 von der Militärdiktatur verabschiedet wurde – bekannt als «Videla-Gesetz» – blieb auch nach 1983 in Kraft, dem Jahr, in dem Argentinien zur Demokratie zurückkehrte. Fest verankert in der damals vorherrschenden Nationalen Sicherheitsdoktrin und der Überzeugung, dass die lateinamerikanischen Migrationsströme ein Bevölkerungsproblem darstellten, untersagte das Videla-Gesetz allen Ausländerinnen und Ausländern ohne gültige Papiere ausdrücklich jede Erwerbstätigkeit und behinderte ihren Zugang zur
Die Welt von heute
In der gegenwärtigen Phase der neoliberalen kapitalistischen Globalisierung finden die Migrationsprozesse in einem weltweiten Kontext von dominanten Zentren und untergeordneten Peripherien statt. Genau im Hinblick auf dieses bipolare Spannungsfeld zwischen der modernen westlichen Gesellschaft einerseits und den übrigen Kulturen – der ehemaligen kolonisierten Welt – andererseits müssen wir die Migrationsbewegungen aus den peripheren Ländern in die Länder des Zentrums verstehen. Das Besondere am Migrationsphänomen ist, dass die Widersprüche und Grenzen des Kapitalismus sehr sichtbar werden: Er braucht sie zwar, weist sie aber ab. In Krisenzeiten wird die Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten dadurch legitimiert, dass der Bezug auf die Menschenrechte verschwindet, die genau diese Gesellschaften des Zentrums zu verteidigen vorgeben.
Inmitten dieses Ausgrenzungsprozesses, der in der Migrationspolitik der USA und der Europäischen Union deutlich zutage tritt, verfolgt Argentinien, das in den Integrationsprozess des Cono Sur (Mercosur, Unasur, usw.) eingebunden ist, seit Ende 2003 einen alternativen Ansatz, der auf Inklusion ausgerichtet ist und die menschliche Mobilität als wesentliches Menschenrecht anerkennt. Seit dem Regierungsantritt von Mauricio Macri im Jahr 2015 werden jedoch Diskurse und Politiken entwickelt, die versuchen, die Grundausrichtung dieser Migrationspolitik zu ändern, indem sie reaktionäre Anschauungen propagieren, die während der Militärregierungen vorherrschten und die das Migrationsphänomen in die Nähe von Verbrechen rücken.
Susana Novick ist eine argentinische Rechtsanwältin und promovierte Sozialwissenschaftlerin. Sie arbeitet am Forschungsinstitut Gino Germani (IIGG) der Universität Buenos Aires und ist Mitkoordinatorin des Ständigen Seminars für Migrationsstudien. Sie war Koordinatorin der Arbeitsgruppe «Migration, Kultur und Politiken» des Clacso (Lateinamerikanscher Rat für Sozialwissenschaften) und Vizepräsidentin des Universitäts-Forums des Mercosur. In ihren Büchern untersucht sie das Verhältnis zwischen Staat und seinen Politiken, insbesondere die Migrationspolitiken in Argentinien und Lateinamerika. Sie leitet die vom IIGG herausgegebene Zeitschrift zu Migrationsstudien.
Ein Schritt vor und zwei zurück:
Die Migrationspolitik Argentiniens
Susana Novick
Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens 27
Abgeordneten aller politischen Parteien, der Amtsantritt einer neuen Regierung im Mai 2003 – und die damit verbundene Neubesetzung von Behörden auf nationaler Ebene, darunter die des neuen Direktors der Migrationsbehörde – und, das Wichtigste: die politische Entscheidung der Regierung Néstor Kirchner, die Entwicklung des Mercosur voranzutreiben.2
Die Migrationspolitik von 2003 bis 2015
Das neue Gesetz markiert eine kategorische Wende in der Migrationspolitik und eine historische Errungenschaft. Es bedeutet aber auch die Anwendung von Prinzipien, die im internationalen Kontext längst gelten, und die Veränderung des Paradigmas der «Nationalen Sicherheit» hin zu einem Modell, das das Menschenrecht auf Migration anerkennt. Ein Gesellschaftsmodell, das in Richtung sozialer Integration der Region Südamerika weist, das die Rechte von Ausländerinnen und Ausländern achtet und deren Beitrag zu Kultur und Gesellschaft wertschätzt.
Diese ideologische Wende lässt sich etwa an folgenden Entwicklungen ablesen:
1. Beitritt zur Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitnehmern und ihrer Familienangehörigen.
2. Verabschiedung des neuen Rahmengesetzes zur Anerkennung und zum Schutz von Flüchtlingen, das auf den Menschenrechten beruht. Außerdem wurde unter dem Dach des Innenministeriums die Nationale Flüchtlingskommission als DurchfühGesundheitsversorgung
sowie zu mittlerer und höherer Bildung.
Mitte der 1990er Jahre wurden in beiden Kammern des Parlaments Bevölkerungskommissionen eingerichtet. Aufgrund der Bemühungen verschiedener NGOs, Ausländerorganisationen, kirchlicher Institutionen und akademischer Gruppen usw. entstanden im Nationalkongress Initiativen, die das Ziel verfolgten, das Gesetz aus der Militärdiktatur abzuändern oder zu ersetzen. Beides blieb allerdings erfolglos. Die intensive parlamentarische Debatte zeigte jedoch, dass die Zivilgesellschaft unter demokratischen Regierungen das Fortbestehen von diktatorischen Gesetzen ablehnte.
Das neue Gesetz
Das Militärgesetz war bereits seit über 20 Jahren in Kraft und die Verabschiedung eines neuen Gesetzes gestaltete sich keineswegs einfach – und dies trotz der willkürlichen Migrationspolitik und der Unwahrheit der Argumente der Exekutive in Bezug auf Einwanderer aus den Nachbarstaaten Argentiniens. Diese wurden für viele Missstände in Argentinien verantwortlich gemacht (Arbeitslosigkeit, Cholera, Wohnungsknappheit, übermäßige Sozialausgaben, Zunahme der Kriminalität usw.). Auf der Grundlage eines im Jahr 1999 geschlossenen, parteiübergreifenden Bündnisses wurde 2003 schließlich die Verabschiedung eines neuen Gesetzes1 erreicht. Voraussetzung dafür war das Zusammentreffen verschiedener Faktoren: eine große Entschlossenheit innerhalb der politischen Klasse, das Militärgesetz aufzuheben, die Existenz eines gemeinsamen Plans von
Rücküberweisungen, in US-Dollar
Mexiko
26.970 Milliarden
7 Milliarden
3.95 Milliarden
4.57 Milliarden
Guatemala
Honduras
El Salvador
Movimento Migrante Mesoamericano, Análisis Coyuntural, 2017
28 Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens
rungsbehörde eingerichtet, die aus fünf Mitgliedern der Staatsregierung und zwei Vertretern – mit Stimme, aber ohne Stimmrecht – des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Flüchtlings-NGOs besteht.
3. Straferlass für Einwanderer, die nicht aus Mercosur-Ländern stammen.3
4. Umsetzung des Ständigen Programms «Große Heimat» (Patria Grande): zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus, von dem bislang 1.570.000 Migrantinnen und Migranten profitiert haben.
5. Ratifizierung des Abkommens über die Niederlassungsfreiheit im Mercosur.
6. Verabschiedung der Durchführungsverordnung zum neuen Migrationsgesetz.
7. Ausweitung der Partizipation von Einwanderer- und Flüchtlingsverbänden, verankert in den einschlägigen Gesetzen.
8. Schaffung des Programms «Wurzeln» (Raíces): Hilfestellung bei der Rückkehr und beim Neuanfang ausgewanderter argentinischer Forscher und Wissenschaftler und dessen spätere Bestätigung als offizielle Staatspolitik.
9. Einführung des «Programms Provinz 25» als Bindeglied für die staatsbürgerliche Einbeziehung von im Ausland lebenden Argentiniern.
10. Verabschiedung des Gesetzes über die Prävention und die Bekämpfung von Menschenhandel sowie den Opferschutz.
11. Unterzeichnung bilateraler Migrationsvereinbarungen, die die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen und die Integration erleichtern und mit denen die Freizügigkeit von Personen aus Bolivien (2006) und Peru (2009) gestärkt werden soll.
12. Verabschiedung des Abkommens gegen die Schleusung von Migrantinnen und Migranten zwischen den Mitgliedstaaten des Mercosur.
Außerdem ist die Migrationspolitik im vergangenen Jahrzehnt gleich in mehrfacher Hinsicht komplexer geworden, und zwar nicht nur in Bezug auf die Herkunft von Migrantinnen und Migranten. Zu den klassischen Herkunftsländern (Paraguay, Bolivien, Peru) sind nun Korea, China, die Karibik und, wenn auch in geringerem Umfang, einige afrikanische Staaten hinzugekommen. Darüber hinaus beteiligen sich neue Akteure zunehmend an der Formulierung und Umsetzung der Politik, wie zivilgesellschaftliche Organisationen und Regierungen anderer Länder (z.B. Länder, in denen Argentinierinnen und Argentinier ansässig sind, aus denen Einwanderer kommen oder die am Aufbau eines regionalen Integrationsraums beteiligt waren).
Die Migrationspolitik des Mauricio Macri
Der tendenziell neoliberale und konservative Mauricio Macri benannte bei der Übernahme der Präsidentschaft die Bekämpfung von Drogenhandel und Terrorismus als zwei seiner wichtigsten Regierungsziele. Bereits nach wenigen Monaten im Amt begannen Regierungsbeamte, die mit der Ausgestaltung der Migrationspolitik befasst sind, in ihren Erklärungen das Migrationsphänomen in die Nähe dieser beiden Verbrechen zu rücken. So wurde von Seiten der Regierung und einigen Parlamentariern eine
Rücküberweisungen, Anteil am BIP
Mexiko
2,3%
Guatemala
9,9%
Honduras
17%
El Salvador
17%
Nicaragua
10%
Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens 29
Kampagne in Gang gesetzt, um das alte Paradigma zu stärken, das Migration als ein «polizeiliches Problem und Sicherheitsproblem» versteht.
Unter den politischen Maßnahmen, die im Jahr 2016 umgesetzt wurden und die in diese Richtung deuten, sind z.B.:
1. Die Abschaffung des Programms, das die Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Migrantinnen und Migranten regelte.
2. Die Schaffung einer Haftanstalt für Migrantinnen und Migranten, die gegen das Migrationsgesetz verstoßen.
3. Die Neuausrichtung der für die Migrationspolitik zuständigen Institution (Nationale Migrationsbehörde), die nun dem Primat der Kontrolle und Sicherheit folgt.
4. Die vermehrte Abschiebung von Ausländerinnen und Ausländern.
5. Die Entscheidung der Regierung, das Migrationsgesetz zu ändern: Unter dem Vorwand des «Sicherheitsnotstandes» erließ Macri ein Not- und Dringlichkeitsdekret, das darauf abzielt, die Migrationspolitik zu verschärfen, um Abschiebungen, Internierungen und Durchsuchungen usw. zu erleichtern und eine vorherige parlamentarische Debatte und Konsultation von Einwandererverbänden, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftlern usw. zu umgehen. Die am 30. Januar beschlossene Gesetzesänderung bedeutet einen eindeutigen Rückschritt im Bereich der Rechte von Migrantinnen und Migranten, erschwert ihre gesellschaftliche Integration, weitet die Macht der Polizei aus, erhöht die Willkür, der die Migrant/innen ausgesetzt sind und verschlechtert deren Lebensbedingungen. Diese Entwicklungen verstoßen gegen den Wortlaut des Migrationsgesetzes, wonach der argentinische Staat verpflichtet ist, den Schutz, die Legalisierung des Aufenthaltsstatus und die Integration von Migrant/innen zu garantieren. Mehr noch: Sie stellen ein Angriff auf die Staatsverfassung und die internationalen Verträge dar, die Argentinien unterzeichnet hat. Angesichts dieser Lage ließ die Reaktion der Gesellschaft nicht lange auf sich warten: Mit einer Reihe von Aktionen, die darauf abzielen, der Offensive der Regierung Macri Einhalt zu gebieten, werden seitdem über Abgeordnete Beschwerden eingereicht, Anhörungen beantragt, Klagen eingereicht und parlamentarische Beratungen initiiert.
Fortschritte und Rückschritte
Das aktuelle politische Klima im Cono Sur, das im Zuge des Amtsantritts der Regierungen von Mauricio Macri in Argentinien und von Michel Temer in Brasilien entstanden ist, gefährdet die bei der regionalen Integration erzielten Fortschritte. Es nährt fremdenfeindliche und rassistische Diskurse, verringert den Schutz der Rechte von Migrant/innen und kündigt einen Paradigmenwechsel an, der weg von den Menschenrechten hin zu einem Modell führt, das auf nationaler Sicherheit basiert. Im konkreten Fall Argentiniens besteht der neue Entwicklungsplan, den die neoliberale konservative Regierung im Dezember 2015 vorgestellt hat, in einer Strategie aus Deindustrialisierung, Öffnung und Denationalisierung der Wirtschaft, Prekarisierung der Arbeitswelt, sich beschleunigender Verschuldung und Verschlankung des Staates, der keine wachsende Bevölkerung braucht, sondern exakt das Gegenteil: Dieses Modell tritt für eine Bevölkerungsabnahme ein, weshalb der Beitrag von Migrant/innen nicht wertgeschätzt wird. Sie müssen als Sündenböcke für die nachteiligen Folgen herhalten, die dieses Modell auf sozialer Ebene verursacht; kurzum, der Migrant/innen wird als «innerer Feind» aufgebaut. In einem Wirtschaftsmodell, das den Abbau von Arbeitsplätzen für notwendig erachtet, um die Inflation zu kontrollieren, wird Migration als ein wirtschaftliches Problem betrachtet, da es Migrant/innen als Konkurrenz für die lokalen Arbeitskräfte begreift. Da Argentinien trotz seiner Krise auf lateinamerikanische Migrant/innen noch immer sehr große Anziehung ausübt, würde ihre kulturelle Herkunft das Ideal einer «weißen Gesellschaft» bedrohen, welches die dominierenden Teile der Gesellschaft – heute an der Regierung – seit jeher verteidigen.
Aus dem Spanischen von Martin Schorr
1 Migrationsgesetz von 2003 (Gesetz Nr. 25.871).
Verfügbar unter: http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/90000-94999/92016/texact.htm
2 Der Mercosur besteht gegenwärtig aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela.
3 Insgesamt kam das Programm 12.065 Personen zugute: Die zahlenmäßig größte Gruppe waren Chinesen, gefolgt von Koreanern, Kolumbianern und Dominikanern.
30 Ein Schritt vor und zwei zurück: Die Migrationspolitik Argentiniens

Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien
Rodrigo Borges DelfimStabilisierung des Landes nach dem Sturz des Präsidenten Jean Bertrand Aristide 2004, innehatte und daher in Haiti präsent war, anziehend auf die Haitianer/innen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen auswandern. Die Bauprojekte für die Weltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016 zogen beispielweise Haitianer/innen und andere Einwanderer an, obwohl von Regierungsseite keinerlei Maßnahmen unternommen wurden, die die Anwerbung von Migrantinnen und Migranten zum Ziel hatten.
Obwohl es keinerlei Anreize gab, kamen zwischen 2010 und 2015 nach Angabe des Justizministeriums ungefähr 80.000 Haitianer/innen nach Brasilien, von denen 70.000 weiterhin im Land sind. Laut Arbeitsministerium sind hiervon 45.000 regulär beschäftigt, vor allem in der Schlacht- und Kühlbranche, auf dem Bau und im Dienstleistungssektor. Damit sind die Haitianer/innen die zahlenmäßig größte ausländische Gruppe auf dem brasilianischen regulären Arbeitsmarkt.
Prekäre Lebensbedingungen und die Notwendigkeit von Veränderungen
Bis Mitte 2015 verlief die Hauptroute der Haitianer/innen nach Brasilien über Peru oder Bolivien und den Bundesstaat Acre. Einmal dort angekommen, versuchten sie von dort aus in andere Bundesstaaten zu gelangen, vor allem nach São Paulo, Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul. Auf jeder einzelnen Etappe, vor allem aber in unwegsamem Gelände, werden die
Als erstes unabhängiges Land Lateinamerikas (1804) und erste souveräne schwarze Nation in der westlichen Hemisphäre hat Haiti seit seiner Staatsgründung mit politischen und gesellschaftlichen Instabilitäten zu kämpfen, die seine wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen. Mit seinen etwa 10,7 Millionen Einwohnern ist Haiti das ärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent und eines der ärmsten Länder weltweit.1 Außerdem wird es immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht, wie dem Erdbeben im Januar 2010 mit über 200.000 Toten und dem Hurrikan Matthew, von dem rund eine Million Menschen betroffen war.
In andere Länder auszuwandern, stellt für viele Haitianerinnen und Haitianer, die es sich leisten können, eine übliche Option dar. Ca. 4,5 Millionen Haitianer/innen – also rund die Hälfte der Bevölkerung – leben im Ausland.2 In den letzten Jahren ist neben den klassischen Zielländern wie die Vereinigten Staaten, Kanada und die Dominikanische Republik auch Brasilien als eine Option hinzugekommen. Obwohl die haitianische Einwanderung noch ein recht junges Phänomen ist, hat sie die Debatte zum Thema in Brasilien maßgeblich verändert.
Brasilien als Option
Das Erdbeben, das Haiti im Januar 2010 erschütterte und die marode Infrastruktur des Landes praktisch vollständig zerstörte, war ein weiterer Grund für die Auswanderung von Haitianern/innen. Aufgrund seiner damals guten Wirtschaftslage wirkte Brasilien, das die Leitung von MINUSTAH, der Mission der Vereinten Nationen zur
Rodrigo Borges Delfim ist ein brasilianischer Journalist. Er ist auf Themen rund um Migration, Menschenrechte und öffentliche Politik spezialisiert. Er ist Gründer und Herausgeber der Internetseite MigraMundo mit dem Schwerpunkt auf Nachrichten und Debatten zum Thema Migration in Brasilien und anderen Ländern.
Glória Branco ist eine brasilianische Journalistin mit 15 Jahren Erfahrung vor allem zu den Themen Migration und auswärtige Beziehungen. Sie ist Mitarbeiterin von MigraMundo, einer journalistischen Online-Plattform mit dem Schwerpunkt Migration in Brasilien und weltweit. Außerdem ist sie als freie Journalistin und Mitarbeiterin verschiedener Webseiten und Zeitschriften für Politik und Menschenrechte tätig.
http://migraMundo.com/
32 Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien
Arbeit und Krise
Ein weiterer Grund für den Rückgang des Zustroms von Haitianern/innen über Acre nach Brasilien ist die Wirtschaftskrise, die Brasilien seit 2015 im Griff hält und die auch die Migrantinnen und Migranten trifft.
Aus einem Bericht der Internationalen Beobachtungsstelle für Migration (OBMigra)3 geht hervor, dass auf dem formellen brasilianischen Arbeitsmarkt im Jahr 2015 54.086 Einwanderer neu eingestellt und 48.039 entlassen wurden. Berücksichtigt man hingegen die letzten drei Monate des Jahres, ergibt sich mit 9.687 Neueinstellungen zu 11.481 Entlassungen ein Negativsaldo. Eine ähnliche Entwicklung kann man bei den Haitianern/innen feststellen: Wurden von ihnen im Jahr 2015 noch 28.920 neu eingestellt und 21.918 entlassen, war der Saldo im Dezember mit 1.357 zu 1.729 bereits negativ – ein Trend, der sich in 2016 noch weiter verschärft haben dürfte.
Die Studie enthält zwar keine genauen Daten über das weitere Schicksal der entlassenen Einwanderer, aber die Forscher glauben, dass sie sich entweder dem informellen Sektor zuwenden oder weitermigrieren – im Fall der Haitianer/innen kann diese Migration innerhalb Brasiliens, zurück in ihre Heimat oder sogar in andere Länder erfolgen.
«Hatten diese Haitianer/innen, die schon in Brasilien waren, in den Jahren 2010 bis 2014 diejenigen, die in Haiti, der Dominikanischen Republik und anderswo zurückgeblieben waren, noch dazu ermuntert, auch nach Brasilien zu kommen, begannen viele von ihnen in den Jahren 2015 und 2016 ihren Angehörigen und Bekannten genau hiervon abzuraten, was unter anderem an der Arbeitslosigkeit im Land und an ihrer Ernüchterung nach ihrer Ankunft aufgrund der niedrigen Löhne, die sie in Brasilien bekamen, aber auch an den rassistischen Diskriminierungen und verbalen, psychischen und tätlichen Angriffen lag», stellt der haitianische Wissenschaftler Joseph Handerson fest, der als Dozent und Experte für die haitianischen Diaspora im Ausland an der Bundesuniversität von Amapá tätig ist.
Als weitere Entwicklung, die für die Haitianer/innen folgenschwer war, nennt Handerson die Entwertung der brasilianischen Währung Real gegenüber dem Dollar (der Wechselkurs des Real stieg 2015 auf fast 4 Dollar an, was eine Abwertung
Dienste von Schleppern – den «Kojoten» – in Anspruch genommen, die bis zu 5.000 Dollar dafür verlangen, dass sie die Migrantinnen und Migranten auf brasilianisches Staatsgebiet bringen.
Nach der Einreise hatten und haben die Haitianer/innen und anderen Einwanderer noch immer ein langwieriges Verfahren zur Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus vor sich. Am schnellsten gelingt dies den Neuankömmlingen ohne gültige Papiere, indem sie gleich in den Grenzstädten bei der Migrationsbehörde Asyl beantragen. Diese Registrierung berechtigt die Einwanderer, vorübergehende Papiere zu bekommen, die solange gültig sind, bis das Nationale Flüchtlingskomittee (Conare) ihre Auträge geprüft hat.
Bis eine endgültige Entscheidung über den Asylantrag vorliegt, können Monate, ja sogar Jahre vergehen. Brasilien erkennt die Lage in Haiti nicht als ausreichenden Grund an, um Asyl zu erhalten. Um ihre prekäre Lage abzumildern und als Reaktion auf die wachsende Zahl ankommender Haitianer/innen, führte die brasilianische Regierung aus humanitären Gründen über den Nationalen Einwanderungsrat (CNig) 2012 eine Aufenthaltserlaubnis (Aufenthaltsvisum) für Haitianer/innen ein, das «humanitäre Visum», das fünf Jahre gültig ist.
Mit diesem Aufenthaltstitel, der ursprünglich nur von der brasilianischen Botschaft in Haiti ausgegeben wurde und auf 1.200 Visa pro Jahr begrenzt war, sollten Haitianer/innen direkt und legal nach Brasilien kommen können. Die Begrenzung und Bürokratie bei der Erteilung des Visums führten allerdings dazu, dass die Migrationsroute über den Bundesstaat Acre weiterhin rege genutzt wurde. Der Zustrom über diese Route begann erst nachzulassen, als der Nationale Einwanderungsrat 2013 eine neue Verordnung erließ, mit der die Begrenzung der Visa, die von der brasilianischen Botschaft in Haiti ausgestellt werden konnten, aufgehoben wurde und die die Ausgabe des Visums auch von brasilianischen Botschaften in anderen Ländern erlaubte.
Auch wenn das humanitäre Visum (nur) als Sofortmaßnahme der brasilianischen Regierung zur Linderung der ärgsten Not gilt, ist es auch im In- und Ausland weithin als geeignetes Mittel anerkannt, um schnell auf drängende Probleme der Zuwanderung zu reagieren – wie dies beim Zustrom der Haitianer/innen der Fall war.
Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien 33

von beinahe 100 Prozent im Vergleich zu 2013 bedeutete). «Diese Situation traf die Migrantinnen und Migranten besonders hart, weil sie ihren Angehörigen daheim in Haiti oder anderswo, wo sie vor ihrem Entschluss, nach Brasilien zu gehen, gelebt hatten, Geld für deren Lebensunterhalt schicken mussten.»
Veränderungen in Brasilien
Auch wenn für die nächsten Jahre nicht von einer Zunahme der haitianischen Migration nach Brasilien auszugehen ist, genügte deren Präsenz bereits, um tiefgreifende Veränderungen zu bewirken und entscheidend zum Wandel der Zuwanderungsdebatte in Brasilien beizutragen.
Für Prof. Rosana Baeninger vom Zentrum für Bevölkerungsstudien der Universität Campinas trugen die Haitianer/innen in Brasilien ganz maßgeblich dazu bei, eine Reihe von Widersprüchen und Versäumnissen offenzulegen, die in Brasilien bei der Zuwanderungsthematik bestehen. «Die haitianische Zuwanderung war für Brasilien der Schlüssel zu der Erkenntnis, ein Land zu sein, das Zuwanderern keinerlei Rechte bietet. In diesen letzten fünf Jahren führte sie uns vor Augen, wie wenig vorbereitet, organisiert und engagiert Brasilien im Bereich der sozialen Rechte ist.»
Das geltende brasilianische Ausländergesetz, «Ausländerstatut» (Estatuto do Estrangeiro) genannt, gilt als institutioneller Rahmen für diese mangelnde Vorbereitung Brasiliens auf den Umgang mit Migrationsströmen, die in Teilen durch die haitianische Zuwanderung offen sichtbar wurde.
Das Ausländerstatut trat 1980 in Kraft und sieht Pflichten nur für den Einwanderer vor, beschränkt den Zugang zu öffentlichen Versorgungsleistungen und zum Arbeitsmarkt und sieht im Einwanderer eine potenzielle Bedrohung für die nationale Souveränität. Die Forderungen nach einer Änderung dieses Gesetzes reichen zwar bis in die 1990er Jahre zurück, aber erst die haitianische Zuwanderung und die Probleme, die bei der Legalisierung des Aufenthaltsstatus und der Versorgung der Haitianer/innen durch staatliche Stellen zutage traten, ließen den Rückhalt und Einfluss der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für die Abschaffung des Statuts eintraten, in einem Maße anwachsen, dass ein Wandel möglich wurde.
Seit 2013 wird im Nationalkongress ein Gesetzesvorhaben verhandelt, an dem Akteure der Zivilgesellschaft im Vorfeld mitgearbeitet haben und das ein neues Migrationsgesetz ins Leben ruft. Es bestimmt Rechte und Pflichten von Einwanderern in Brasilien, baut bürokratische Hürden ab und sieht die Möglichkeit vor, das sogenannte humanitäre Visum nach Bedarf auch an Angehörige anderer Nationalitäten zu vergeben. 2015 wurde der Gesetzesentwurf zunächst vom Senat angenommen, nach einigen Änderungen stimmte ihm 2016 auch die Abgeordnetenkammer zu. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wann die aktuelle Fassung vom Senat verabschiedet wird.
Eine weitere Veränderung, die zum Großteil der haitianischen Zuwanderung geschuldet ist, ist die mediale Präsenz des Themas. Brasilien hat vergleichsweise wenig Erfahrung mit Immigration, so dass Einwanderer und Flüchtlinge in den brasilianischen Medien häufig noch immer als «Flüchtige» oder «Eindringlinge» dargestellt werden. Es gibt allerdings auch gegenteilige Bestrebungen. Hierzu gehört etwa der «Leitfaden für Transnationale Migration und Kulturelle Diversität für Kommunikatoren in Brasilien: Migrantinnen und Migranten in Brasilien»,4 der 2013 erschienen ist und den Medien und Medienschaffenden als Orientierungshilfe für eine humanere Berichterstattung zum Thema Migration dienen soll.
Lehren für Gegenwart und Zukunft
Die Verabschiedung des neuen Migrationsgesetzes kann dazu beitragen, ein Klima zu schaffen, das die Gestaltung einer einwandererfreundlichen Kommunalpolitik begünstigt, und könnte sogar als Gegenentwurf zu der restriktiven Migrationspolitik dienen, die in entwickelten Ländern neuerdings umgesetzt wird. Da es jedoch noch an einer gesamtstaatlichen Leitlinie fehlt, rufen bislang nur wenige Kommunen Projekte ins Leben, die den Einwanderern zugutekommen. Momentan werden diese Aufgaben im Großen und Ganzen noch von zivilgesellschaftlichen oder kirchlichen Organisationen bewältigt.
«Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, dass die Behörden auf kommunaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene gemeinsam mit der Umsetzung einer effizienten Migrationspolitik beginnen und beispielsweise ein Aufnahmezentrum für Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien 35
Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge einrichten, die in Acre ankommen oder Acre durchqueren, da die Region an Bolivien und Peru angrenzt. Denn unabhängig vom aktuellen Rückgang der Migrantenzahlen aus Haiti wird es schließlich immer Migrantinnen und Migranten geben, die unser Land durchqueren», veranschaulicht Handerson.
Man kann durchaus davon sprechen, dass die haitianische Einwanderung dazu beigetragen hat, uns zu zeigen, dass Brasilien nicht fernab vom weltweiten Migrationsgeschehen steht und für die Probleme, die sich in seinem Staatsgebiet stellen, ebenfalls Lösungen erarbeiten muss. Eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre für Brasilien als Nation und als Gesellschaft wird darin bestehen, auf globaler, nationaler und kommunaler Ebene den humanitären Idealen gerecht zu werden, die es regelmäßig auf internationalen Konferenzen vertritt.
Aus dem Portugiesischen von Martin Schorr
1 Laut Daten der Weltbank erzielte Haiti im Jahr 2015 mit US$ 1.757,00 eines der niedrigsten Bruttoinlandsprodukte (BIP) pro Kopf weltweit und steht damit auf einer Stufe mit einigen afrikanischen Ländern. Verfügbar unter: Weltbank Haiti (2016): http://www.worldbank.org/en/country/haiti, [Abfrage vom 15. Februar 2017].
2 Baeninger, Rosana (Org.) (2016): A Imigração Haitiana no Brasil, Paco Editorial, 1ª ed., Campinas, SP.
Diese Zahlen weichen von denen auf der interaktiven Karte der globalen Migrationsbewegungen ab, die durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) erstellt wurde und auf der die Infografik auf Seite 20 basiert. Diese Abweichungen sind vermutlich auf Unterschiede bei den von Rosana Baeninger und der IOM herangezogenen Quellen oder dem Zeitpunkt des Abrufs sowie auf Schwankungen bei den Schätzungen zur illegalen Einwanderung zurückzuführen. (Anm. d. Red.)
3 Internationale Beobachtungsstelle für Migration (2016) Jahresbericht. Verfügbar unter: http://obmigra.mte.gov.br/index.php/relatorio-anual, [Abfrage vom 9. Februar 2017].
4 Cogo, Denise; Badet, Maria (2013): Guia das Migrações Transnacionais e Diversidade Cultural para Comunicadores - Migrantes no Brasil. Bellaterra: InCom-UAB/IHU, São Leopoldo, RS. Verfügbar unter: http://www.andi.org.br/documento/guia-das-migracoes-transnacionais-e-diversidade-cultural-para-comunicadoress-migrantes-no, [Abfrage vom 5. April 2017].
Julia. Das Leben einer Migrantin
Glória Branco
Niedrige Löhne, Vorurteile und eine Menge reproduktiver Arbeit ohne Bezahlung: Die 117 Millionen Migrantinnen weltweit – davon 320.000 in Brasilien –, die über die Erwerbstätigkeit einen Weg in ein würdiges Leben suchen, stehen vor besonders großen Herausforderungen.
Die 51-jährige Julia arbeitet seit 12 Jahren als Reinigungskraft in einem Krankenhaus. Es war nicht leicht für sie, ihre Vergangenheit – als Waise in Bolivien an der Grenze zu Peru – hinter sich zu lassen. Ihre erste Arbeit hatte sie in Brasilien, als sie 1982 nach São Paulo kam. Ohne ein einziges Wort Portugiesisch zu sprechen, wurde die junge Frau von einer Familie als Kindermädchen aufgenommen.
Dabei handelte es sich um Schwarzarbeit, als Lohn erhielt sie lediglich Essen und einen Schlafplatz. Die wenigen Freunde, die sie fand und die bis heute ihre Familie in Brasilien sind, waren Nordestinos.1 Da auch sie Migrantinnen und Migranten in São Paulo waren, fühlte Julia sich schon weniger einsam. Diese Freunde brachten ihr Portugiesisch bei, zeigten ihr, sich in der Stadt zu bewegen und zurechtzufinden, und lehrten sie kochen.
Einige Jahre später heiratete Julia einen Brasilianer, aber ihr Leben wurde deswegen nicht weniger beschwerlich. Sie hatte zwei Vollzeit-Jobs gleichzeitig und kämpfte darum, ein geordnetes Leben zu führen. Unter großen Anstrengungen sparte sie das Geld zusammen, um im Großraum São Paulo ein Grundstück zu kaufen. Sie bauten ein Haus und kurz darauf kam ihre Tochter zur Welt.
Sie arbeitete bis zum 9. Monat der Schwangerschaft und nahm ihre Arbeit bereits 20 Tage nach der Geburt wieder auf. Jeden Tag verließ sie in aller Frühe das Haus und fuhr über zwei Stunden lang in den Stadtteil, in dem sie arbeitete. Weil sie noch stillte, nahm sie ihre Tochter mit. Nach Tagen in dieser belastenden Routine musste Julia wegen extremer Erschöpfung ins Krankenhaus. Die Ärzte rieten ihr, weniger zu arbeiten. Doch Julia hatte keine Wahl. Entweder sie hielt durch, oder ihre Familie hatte nichts zu essen.
Als ihre Tochter 5 Jahre alt war, trennte sich Julia von ihrem Ehemann und begann ein neues Leben. Ihre Freundinnen aus dem Nordosten nahmen sie bei sich auf, bis sie nach vier Monaten endlich ein Zimmer zur Miete fand. In dieser Zeit suchte Julia mit der Unterstützung einer brasilianischen Freundin das bolivianische Konsulat auf und brachte ihre Papiere in Ordnung. Da sie sich auch fortgebildet hatte, kann sie jetzt zum ersten Mal einer ganz offiziell angemeldeten Tätigkeit nachgehen.
Julia machte ihren Abschluss zur Krankenpflegehelferin, arbeitet aber noch nicht in diesem Beruf. Ihre Tochter ist heute 24 Jahre alt und studiert Architektur an der Universität São Paulo. Mit ihren eigenen Worten «ist das Leben einer Migrantin ein ständiger Kampf, aber trotzdem auch eines mit vielen Triumphen».
1 Zuwanderer aus dem Nordosten Brasiliens (Anm. d. Red.)
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Haitianische Migration und die Einwanderungsdebatte in Brasilien
Impressum
Herausgeberin Heinrich-Böll-Stiftung e.V.
Erscheinungsdatum Juni 2017
Redaktion Ingrid Spiller und Valentina Rojas Loa
Mitarbeit Ines Thomssen, Julia Ziesche, Petra Tapia, Evelyn Hartig und Sandra Ortega
Satz State, Berlin
Druck Ruksaldruck, Berlin
Papier Envirotop, 100 g / m2 matte bright white 100% recycling paper, Cover: Clarosilk, 200 g / m2
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etenen Meinungen sind die der Autor/inn/en und nicht notwendigerweise die der Heinrich-Böll-Stiftung.
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Die Fotos in diesem Heft stammen von:
Simone Dalmasso ist gebürtiger Italiener und lebt in Guatemala. Seit 2016 ist er Bildredakteur der guatemaltekischen Onlinezeitung Plaza Pública, periodismo de profundidad. In den letzten sieben Jahren hat er sich auf die Themen Migration, Erinnerungsarbeit, Gender, Korruption, Politik, Umwelt, Gesundheit und Sicherheit konzentriert. Er arbeitet mit internationalen Nachrichtenagenturen wie Reuters, Xinhua und Efe zusammen.
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Olivia Vivanco ist eine visuelle Künstlerin aus Mexiko. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt vor allem im Bereich Fotografie. Zu den Themen, für die sie sich besonders interessiert, gehören die verschiedenen Ausprägungsformen der Migration in Mexiko. Ausstellungen ihrer Arbeiten gab es u.a. in Mexiko-Stadt, San Diego, Medellin, Sevilla, Paris und Düsseldorf. Die Fotoserie Reliquias (2012) zeigt Migrant/innen in der Herberge «La 72» in Tenosique, Tabasco (Mexiko). Die Bilder zeigen, wie wenig die Migrant/innen mitnehmen können: Dinge, die sie mit ihrer Heimat, mit ihren Erwartungen oder mit denjenigen verbinden, die auf sie warten. In ihren Händen liegen ihre Arbeitskraft und ihre Erinnerungen.
http://www.oliviavivanco.com/reliquias#1
Recherche Infografik (S. 20):
Alberto Nájar ist ein mexikanischer Journalist. Herausgeber des Internetportals «En el Camino» («Auf dem Weg»). Während seiner 31-jährigen Karriere hat sich Alberto Najár auf die Themen internationale Migration, Drogenhandel und Menschenhandel spezialisiert. Seit Januar 2016 ist er Vorsitzender des Netzwerks «Red de Periodistas de a Pie», das mehrfach international für die Qualität seiner Arbeit und sein Eintreten für die Verteidigung der Menschenrechte ausgezeichnet wurde:
http://www.periodistasdeapie.org.mx/
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