Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Germany

Berichtszeitraum: 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016

Amtliche Bezeichnung: Bundesrepublik Deutschland
Staatsoberhaupt: Joachim Gauck
Regierungschefin: Angela Merkel

Die Behörden unternahmen erhebliche Anstrengungen, um die große Zahl Asylsuchender, die 2015 nach Deutschland gekommen waren, unterzubringen und ihre Anträge zu bearbeiten. Die Regierung verabschiedete jedoch auch mehrere Gesetze, die die Rechte von Asylsuchenden und geflüchteten Menschen einschränkten, u. a. in Bezug auf die Familienzusammenführung. Die Zahl rassistischer Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte blieb hoch, und die Behörden ergriffen keine wirksamen Gegenmaßnahmen.

FLÜCHTLINGE UND ASYLSUCHENDE

2016 nahm die Zahl neuer Asylsuchender gegenüber dem Vorjahr erheblich ab. Die Regierung registrierte in etwa 280000 neu eingereiste Asylsuchende, verglichen mit 890000 im Jahr 2015.

Die Behörden bauten während des gesamten Jahres ihre Kapazitäten für die Bearbeitung von Asylanträgen aus. Zwischen Januar und November 2016 beantragten etwa 702490 Personen, von denen viele bereits 2015 nach Deutschland gekommen, waren erstmals Asyl. Die Behörden kamen in ca. 615520 Fällen zu einer Entscheidung.

Der Prozentsatz der Syrer, Iraker und Afghanen, die den vollen Flüchtlingsstatus erhielten, ging im Vergleich zum Vorjahr zurück; mehr Personen wurde subsidiärer Schutz gewährt und weniger Menschen der volle Flüchtlingsstatus zuerkannt.

Subsidiärer Schutz umfasst weniger Rechte, vor allem im Hinblick auf eine Familienzusammenführung. 2016 erhielten 59% der Syrer, die erstmals einen Antrag gestellt hatten, den vollen Flüchtlingsstatus verglichen mit 99,6% im selben Zeitraum des Vorjahres.

Im März 2016 traten Reformen des Asylrechts in Kraft. Das Recht auf Familienzusammenführung wurde für Menschen mit einem subsidiären Schutz bis März 2018 ausgesetzt. Ein neues Schnellverfahren zur Feststellung des Asylanspruchs von Antragstellern unterschiedlicher Kategorien, einschließlich Asylsuchender aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten, wurde ohne ausreichende Garantien für die Durchführung eines fairen Asylverfahrens beschlossen. Zum Jahresende war im Bundesrat ein Gesetz anhängig, das Algerien, Marokko und Tunesien als "sichere" Herkunftsländer definiert. Das neue Asylschnellverfahren war bis Ende 2016 noch nicht eingeführt worden.

Im Mai 2016 verabschiedete der Bundestag das erste "Integrationsgesetz" überhaupt für geflüchtete Menschen und Asylsuchende. Das Gesetz zielt darauf ab, Erwerbs- und Bildungsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen, und verpflichtet sie, Integrationskurse zu besuchen. Es gestattet den Behörden der Bundesländer zudem, die Wahl des Wohnsitzes bei Geflüchteten einzuschränken. Auch verschärft das Gesetz die Bedingungen zur Vergabe einer Aufenthaltserlaubnis und führt Kürzungen der Sozialleistungen für diejenigen ein, die sich nicht an die neuen Vorschriften halten.

Bis zum 19. Dezember 2016 nahm Deutschland 640 Flüchtlinge aus Griechenland und 455 Flüchtlinge aus Italien auf. Als Teil des EU-Türkei-Abkommens akzeptierte Deutschland den Transfer von 1060 syrischen Flüchtlingen aus der Türkei. Trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan schoben die Behörden mehr als 60 afghanische Staatsangehörige ab, deren Asylanträge abgelehnt worden waren. Im Jahr 2015 waren neun abgelehnte Asylsuchende aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben worden.

DISKRIMINIERUNG

Der im November 2015 vom Bundestag eingesetzte zweite Untersuchungsausschuss zum Behördenversagen bei rassistischen Verbrechen, die der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU), eine extrem rechte Gruppierung, gegen Angehörige ethnischer Minderheiten begangen hatte, setzte seine Ermittlungen fort. Eine offizielle Untersuchung der potentiellen Rolle von institutionellem Rassismus als Ursache dieses Versagens fand trotz entsprechender Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung und des Menschenrechtskommissars des Europarats nicht statt.

Im ganzen Land kam es zu zahlreichen Demonstrationen sowohl gegen Flüchtlinge als auch speziell gegen Muslime. In den ersten neun Monaten des Jahres registrierten die deutschen Behörden 813 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte. Im selben Zeitraum registrierten die Behörden 1803 Straftaten gegen Asylsuchende, bei denen 254 Menschen verletzt wurden. Die Behörden entwickelten keine angemessene nationale Strategie, um Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte zu verhindern.

Nach wie vor gingen Berichte zivilgesellschaftlicher Organisationen über diskriminierende Identitätskontrollen der Polizei bei Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten ein.

Im Juni 2016 wies der Bundesgerichtshof das Gesuch einer intersexuellen Person zurück, juristisch als Angehörige eines dritten Geschlechts registriert zu werden. Zum Jahresende waren die eingelegten Rechtsmittel vor dem Bundesverfassungsgericht noch anhängig.

ANTITERRORMASSNAHMEN UND SICHERHEIT

Im Oktober 2016 verabschiedete der Bundestag ein neues Gesetz zur Überwachung. Es gewährt dem Bundesnachrichtendienst weitreichende Befugnisse für die Überwachung von Nicht-EU-Bürgern ohne wirksame richterliche Kontrolle und zu unterschiedlichsten Zwecken, einschließlich dem der nationalen Sicherheit. Im August äußerten sich mehrere UN-Sonderberichterstatter, unter ihnen der Sonderberichterstatter über Meinungsfreiheit und das Recht der freien Meinungsäußerung, besorgt über die negativen Auswirkungen des Gesetzes auf die freie Meinungsäußerung und über den Mangel an richterlicher Kontrolle.

Im April 2016 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass einige der Überwachungsbefugnisse des Bundeskriminalamts, die 2009 zum Kampf gegen den Terrorismus und andere Straftaten eingeführt worden waren, verfassungswidrig seien. Vor allem stellten einige der Maßnahmen nicht sicher, dass das Recht auf Privatsphäre respektiert wird. Die Bestimmungen waren Ende 2016 unverändert in Kraft.

FOLTER UND ANDERE MISSHANDLUNGEN

Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter - Deutschlands Präventivmechanismus gemäß dem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe - war nach wie vor unterbesetzt und nicht ausreichend finanziert.

Die Behörden unterließen es nach wie vor, Vorwürfe über Misshandlungen durch die Polizei wirksam zu untersuchen, und richteten keine unabhängigen Beschwerdestellen ein, um diesen Vorwürfen nachzugehen.

Ende des Jahres planten die Regierungen von Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt, Polizeibeamte im Dienst zum Tragen einer individuellen Kennzeichnung zu verpflichten. Bislang besteht in den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten.

Im April 2016 stellte die Staatsanwaltschaft Hannover die Ermittlungen zu Vorwürfen gegen einen Bundespolizeibeamten ein, wonach er 2014 in einer Arrestzelle der Bundespolizei im Hauptbahnhof Hannover einen afghanischen und einen marokkanischen Flüchtling misshandelt haben soll. Im September wies das Oberlandesgericht Celle den Antrag eines der beiden Betroffenen auf Wiederaufnahme der Ermittlungen ab.

WAFFENHANDEL

Im März 2016 trat der notwendige gesetzliche Rahmen zur Durchführung sogenannter Vor-Ort-Kontrollen nach Lieferung (Post-Shipment-Kontrollen) in Kraft, mit dem die Überwachung der deutschen Exporte von Kriegswaffen und spezifischen Schusswaffen verbessert und sichergestellt werden soll, dass die Waffen nicht zur Verletzung von Menschenrechten eingesetzt werden. Laut den Bestimmungen kann die Bundesregierung den Verbleib bestimmter Rüstungsgüter nach Lieferung in den Empfängerländern kontrollieren. Voraussetzung ist, dass Regierungen, die deutsche Rüstungsgüter erhalten, zusätzlich zu einer Endverbleibserklärung Vor-Ort-Kontrollen zustimmen. Solche Zustimmungen wurden bislang für mindestens vier genehmigte Kleinwaffenexporte unterzeichnet. Die Regierung startete Ende des Jahres die erste Pilotphase des neuen Mechanismus.

UNTERNEHMENSVERANTWORTUNG

Im August 2016 bestätigte das Landesgericht Dortmund seine Zuständigkeit für die Klage von vier pakistanischen Opfern gegen das deutsche Textilunternehmen KiK und gewährte ihnen Prozesskostenhilfe. Im September 2012 waren 260 Arbeitende bei einem Brand in einer der wichtigsten pakistanischen Zuliefertextilfabriken von KiK getötet und 32 schwer verletzt worden.

Im Dezember 2016 verabschiedete die Regierung einen Nationalen Aktionsplan, um die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte umzusetzen. Der Plan enthält jedoch keine ausreichenden Maßnahmen, um alle in den Leitprinzipien enthaltenen Standards zu erfüllen, und stellt nicht sicher, dass deutsche Unternehmen die nötige Sorgfalt bei der Wahrung der Menschenrechte gewährleisten.

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