Anfragebeantwortung zum Irak: 1) Informationen zur Ortschaft Tel Ezer/Kahtania; 2) Aktuelle Lage von JesidInnen in der Provinz Ninawa und Tel Ezer [a-8491-1]

12. August 2013
Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
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1) Informationen zur Ortschaft Tel Ezer/Kahtania (alternative Schreibweisen: Til Ezer, Tal Asir, Kahtanija, Kahtaniya)
Das schweizerische Bundesamt für Migration (BFM) erwähnt in einem Bericht vom April 2008 die Ortschaft „Til Ezer“ bei Sinjar im Gouvernement Ninive, in der es am 14. August 2007 zu Anschlägen gekommen sei. Zudem erwähnt der Bericht, dass von der kurdischen Regionalregierung im betroffenen Gebiet seit dem 14. August 2007 400 zusätzliche Polizeikräfte eingesetzt worden seien. Auf Seite fünf des BFM-Berichts findet sich zudem eine von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) im November 2007 veröffentlichte Karte, auf der der Ort der Anschläge außerhalb der Grenze der autonomen Region Kurdistan, jedoch innerhalb der Grenze der von Kurden geforderten Gebiete („umstrittene Gebiete“) vermerkt ist:
„Am 14. August 2007 kommt es zu verheerenden Anschlägen auf Jeziden in den Ort-schaften Til Ezer und Siba Sheikh Khidir bei Sinjar in der grössten jezidischen Region des Nordirak. Mehrere mit Sprengstoff gefüllte Autos explodieren in den zwei Dörfern. Etwa 400 Menschen werden getötet und Hunderte verletzt. Es handelt sich um die grössten Anschläge im Irak seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003.“ (BFM, 9. April 2008, S. 11)
„Am 14. August 2007 fand das schlimmste Attentat seit 2003 statt. In den frühen Abendstunden explodierten in zwei jezidischen Wohnvierteln im Distrikt Sinjar, ca. 110 km westlich von Mosul, innerhalb weniger Minuten drei oder vier mit Sprengstoff präparierte Lastwagen. Von jezidischer Seite war die Rede von 500 Toten. Schätzungen der UN ergaben über 300 Tote und zwischen 400 und 750 Verletzte. Ausserdem wurden mehr als 500 Häuser zerstört und über 2000 beschädigt. Bis Ende 2007 hat keine bewaffnete Gruppe oder Miliz die Verantwortung für diesen Anschlag übernommen, obwohl die Untersuchungen der Lokalbehörden Aufständische mit Verbindungen zu al-Qaida dahinter vermuten. Nebst religiösen Gründen könnten politische Motive für diesen Anschlag verantwortlich sein: Die Jeziden sollen die ‚umstrittenen Gebiete‘ verlassen, um nicht für den Anschluss ans KRG-Gebiet zu stimmen. Die KRG hat im betroffenen Gebiet offiziell seit dem 14. August 2007 etwa 400 zusätzliche Polizeikräfte (vermutlich sind es noch mehr) eingesetzt.“ (BFM, 9. April 2008, S. 8)
Eine Fußnote auf Seite acht desselben Berichts erwähnt zudem die Kollektivstädte Kahtanija und Til Ezer:
„Je nach Quelle wurden folgende betroffene Dörfer oder Kollektivstädte bezeichnet: Kollektivstadt Kahtanija, Dorf Auzer in der Kollektivstadt al-Jazeera, bzw. Kollektivstädte Til Ezer und SIba Sheikh Khidir.“ (BFM, 9. April 2008, S. 8, Fußnote 37)
Auf der Website der Kurdischen Regionalregierung wird angeführt, dass die kurdische Region im Irak Teile der drei Gouvernements Erbil, Slemani und Duhok umfasse:
“The Kurdistan Region comprises parts of the three governorates of Erbil, Slemani and Duhok. It borders Syria to the west, Iran to the east, and Turkey to the north, lying where fertile plains meet the Zagros mountains. It is traversed by the Sirwan river and the Tigris and its tributaries, the Great Zab and the Little Zab.” (KRG, ohne Datum)
Auf der Website der Kurdischen Regionalregierung findet sich auch ein Regierungsabkommen zwischen den Parteien Kurdistan Democratic Party (KDP) und Patriotic Union of Kurdistan (PUK) („Kurdistan Regional Government Unification Agreement“), in dem erwähnt wird, dass es Ziel der Regierung sei, bestimmte Gebiete, darunter Sinjar, in die Region Kurdistan zu integrieren:
“We must secure and guarantee the historic achievements of our people and the realization of our full and just rights by putting in place and implementing the permanent Constitution, establishing a genuine federal and democratic Iraq; restoring Kirkuk, Khanaqin, Sinjar, Makhmour, and other Arabized areas to the embrace of the Kurdistan Region, and developing and growing the democratic experience in the Kurdistan Region with further strengthening of stability and liberty through the creation of a lasting unification of the Kurdistan Regional Government.” (KRG, 23. Jänner 2006)
In einem auf Die Kurden, einer laut eigenen Angaben neutralen und parteiunabhängigen Nachrichtenwebsite, veröffentlichten Artikel wird die jesidische Gemeinde „Tal Asir“ in der Sinjar-Region (kurdisch: Shengal) und ein in der Ortschaft am 14. August 2007 erfolgter Anschlag erwähnt:
„Der gravierendste Terror-Anschlag gegen die Eziden (und wohl auch der folgenschwerste Terror-Anschlag im Irak überhaupt) ereignete sich am 14. August 2007. Mehrere mit Sprengstoff beladene Lastwagen wurden gleichzeitig in den ezidischen Gemeinden ‚Tal Asir‘ und ‚Siba Sheikh Khidir‘ in der Sinjar-Region (kurdisch: Shengal) zur Explosion gebracht. Mehr als 500 Menschen kamen sofort ums Leben,  mehrere tausend Menschen wurden schwer verletzt.“ (Die Kurden, 13. August 2012)
Die Berliner Zeitung schreibt in einem Artikel vom November 2007 über den Ort „Til Ezer“ und am 14. August 2007 erfolgte Anschläge:
„Emsige Geschäftigkeit hatte das Zentrum von Til Ezer mit dem Marktplatz und seinen vielen kleinen Läden belebt als die tödliche Fracht eintraf. In einem Radius von fünfhundert Metern vernichtete die Explosion das gesamte Zentrum des Ortes und hinterließ eine zunächst unüberschaubare Zahl von Toten und Verletzten. […] Der Sindschar-Distrikt in der nord-westlichen Provinz Ninive, in dem die beiden angegriffenen Orte liegen, ist das Hauptsiedlungsgebiet der kurdischen Yeziden.“ (Berliner Zeitung, 16. November 2007)
Die Organisation Bluebird Research, die Recherchen zu Familiengeschichte anbietet, veröffentlicht im Dezember 2011 eine Karte mit jesidischen Ortschaften in den kurdischen Gebieten im Irak:
„The latest Bluebird Research Google Map is a work-in-progress showing the location of the Yezidi villages of Kurdistan. At present, the map shows primarily those villages which are extant and were not destroyed during the post-WW2 era in Iraq, when Yezidis (and other Kurds and minority groups) were subject to periodic persecution, sometimes of genocidal ferocity, by the Baathist state in Baghdad.“ (Bluebird Research, 10. Dezember 2011)
Die Karte findet sich unter folgendem Link und erwähnt „Til Ezer“, das unter dem Begriff Kahtaniya Kollektivstadt („Kahtaniya collective village“) angeführt ist. Die Liste auf der linken Seite der Website enthält den anklickbaren Eintrag „Kahtaniya collective village“ (Erstelldatum: 14. Dezember 2011). Die Kollektivstadt findet sich etwa 20 Kilometer südwestlich von Sinjar:
2) Aktuelle Lage von JesidInnen in Provinz Ninawa und Tel Ezer
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine Informationen zur aktuellen Lage von JesidInnen in Tel Ezer gefunden werden. Im Folgenden finden sich Informationen zur Lage von JesidInnen in der Provinz Ninewa und den jesidischen Gebieten:
 
Die United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) schreibt in ihrem Halbjahresbericht vom Juni 2013 (Berichtszeitraum Juli bis Dezember 2012), dass die Organisation die Fälle von einigen Vertretern der Jesiden beobachtet habe, die im Asayish-Hauptquartier [kurdischer Sicherheitsdienst, Anm. ACCORD] der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG) im Gouvernement Ninewa inhaftiert worden seien. Am 15. Oktober 2012 sei Khoudeida Ibrahim Fendi, der Clanführer des Al-Waskan-Stammes in der Ortschaft Huttin von der Asayish der KRG verhaftet worden. Er sei in Sinjar inhaftiert und am 21. Oktober 2012 freigelassen worden, nachdem er angeblich eine Verpflichtung unterzeichnet habe, seine Beziehungen zu bestimmten politischen Parteien einzuschränken, die sich gegen die kurdische Kontrolle des Gebiets stellen würden. Bei einem weiteren Zwischenfall sei ein führender Vertreter der Jesiden laut eigenen Angaben angeblich erst freigelassen worden, nachdem er aus seiner politischen Partei ausgetreten sei:
„In relation to the Yezidi community, UNAMI remains concerned about suicide cases among Yezidi women and teenagers and continues to address this delicate issue with community leaders, the GoI and the KRG. UNAMI also monitored the cases of a number of Yezidi leaders who were detained in the KRG Asayish headquarters in Ninewa governorate. On 15 October, Khoudeida Ibrahim Fendi, the clan leader of the Al-Waskan tribe of Sumouqa in Huttin village (Dugorke), was arrested by the KRG’s Asayish. He was detained in Sinjar, and released on 21 October after he had allegedly signed a commitment to reduce his relations with certain political parties opposed to Kurdish control of the area. In another incident, it was alleged by a Yezidi leader that he was only released after he has resigned from his political party.” (UNAMI, Juni 2013, S. 38)
Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Jahresbericht zur Religionsfreiheit vom Mai 2013 (Berichtszeitraum 2012), dass laut Angaben von führenden Vertretern der Jesiden der Großteil der 500.000 bis 700.000 JesidInnen im Norden des Irak leben würden. 15 Prozent würden in der Provinz Dahuk leben, der Rest in der Provinz Ninewa. Unter anderem führende Vertreter der Jesiden hätten angegeben, dass die kurdischen Peshmerga- [kurdische Sicherheitskräfte, Anm. ACCORD] und Asayish-Kräfte regelmäßig in jenem Teil der Provinz Ninewa, der von der KRG kontrolliert werde oder innerhalb der KRG und der irakischen Regierung umstritten sei, die jesidische Gemeinschaft schikaniert und deren Rechte verletzt hätten. Unter anderem JesidInnen hätten sich beschwert, durch die muslimische Mehrheit aufgrund religiöser Unterschiede politisch isoliert zu sein, obwohl es in der kurdischen Region des Irak (Iraqi Kurdistan Region, IKR) in geringerem Ausmaß zu einer Isolierung komme.
Am 29. Jänner 2012 hätten unbekannte Bewaffnete ein jesidisches Paar in ihrem Haus in Mosul, in der Provinz Ninewa erschossen. Laut Presseberichten hätten die Angreifer auch die Zunge des Ehemannes abgeschnitten und sie in seine Hand gelegt.
Während des Jahres 2012 hätten unter anderem führende Vertreter der Jesiden berichtet, dass ihre Gemeinschaften zum Ziel von Schikanierung und Gewalt geworden seien. Einige MuslimInnen hätten GeschäftsinhaberInnen angegrifffen, weil diese Güter oder Dienste angeboten hätten, die nicht mit dem Islam in Einklang stünden. In einigen Fällen, nachdem sie Warnungen zur Beendung derartiger Aktivitäten missachtet hätten, seien die GeschäftsinhaberInnen von Gewalt betroffen gewesen. Eine örtliche Menschenrechtsorganisation habe laut dem USDOS über zwei Tötungen, vier Entführungen und zwei weitere Angriffe gegen JesidInnen berichtet:
„Yezidi leaders report that most of 500,000 to 700,000 Yezidis reside in the north, with 15 percent in Dahuk Province and the rest in Ninewa Province. […]
Shabak and some Yezidi political leaders allege that Kurdish Peshmerga and Asayish forces regularly harassed and committed abuses against their communities in the portion of Ninewa Province controlled by the KRG or contested between the government and the KRG. Other Yezidi leaders alleged that the Iraqi Security Forces harassed and committed abuses against their community in portions of Ninewa Province under the central government’s authority and in disputed areas. […] Non-Muslims, particularly Christians and Yezidis, complained of being politically isolated by the Muslim majority because of their religious differences, although to a lesser extent in the IKR.” (USDOS, 20. Mai 2013, Section 2)
„On January 29, unidentified gunmen shot and killed a Yezidi couple inside their home in Mosul, in Ninewa Province. According to press reports, the assailants also cut off the husband’s tongue and placed it in his hand. […]
During the year Christian, Yezidi, and Shabak leaders reported their communities continued to be targets of harassment and violence. Some Muslims targeted shopkeepers for providing goods or services considered inconsistent with Islam, and sometimes subjected them to violence after they did not comply with warnings to stop such activity. These societal elements especially targeted liquor store owners, primarily Christian and Yezidi. By law, only Christians and other non-Islamic groups are licensed to sell alcohol. […] A local human rights organization reported five killings, five kidnappings, 12 unsuccessful assassination attempts, and 17 other attacks against Christians; two killings, four kidnappings, and two other attacks against Yezidis;” (USDOS, 20. Mai 2013, Section 3)
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) bietet in einer Auskunft der SFH-Länderanalyse vom Mai 2013 einen Überblick zu JesidInnen im Irak und erwähnt Anschläge gegen JesidInnen im August 2007, in den Jahren 2009 und 2010, und berichtet, dass „[a]uch in den letzten Jahren […] Jesiden entführt und ermordet“ worden seien. Die SFH beruft sich dabei auf Angaben von UNHCR und Minority Rights Group International (MRGI):
„Yeziden im Irak. Laut Schätzungen leben 100‘000 bis 800‘000 Yeziden im Irak, in Syrien und in der Türkei. Im Irak lebten 2011 schätzungsweise 500‘000 Yeziden, 2005 waren es noch 700‘000, viele sind migriert oder umgekommen. Die Mehrheit der Yeziden im Irak leben in den sogenannten ‚umstrittenen Gebieten‘ in der Provinz Ninewa, vor allem im Gebiet Jebel Sinjar und in Shekhan. Etwa zehn Prozent leben in den kurdischen Gebieten in der Provinz Dohuk. Die Region wurde unter Diktator Saddam Hussein im Rahmen der Arabisierungskampagnen immer wieder entvölkert (Jebel Sinjar: 1965, 1973-1975 und 1986-1987; Shekhan: 1975): Das Regime vertrieb die Yeziden aus ihren Dörfern und siedelte sie in Städten an. Die Dörfer wurden zerstört oder arabischen Siedlern übergeben. Seit 2003 hat die Gewalt gegen Yeziden im Irak zugenommen. Bewaffnete sunnitische Gruppen greifen Yeziden als ‚Ungläubige‘ an, sie werden als Kollaborateure betrachtet oder aufgrund ihrer angenommenen kurdischen Identität getötet. Einer der dramatischsten Anschläge gegen Yeziden fand im August 2007 statt, wobei mehr als 400 Menschen ums Leben kamen. 2009 und 2010 kam es zu weiteren Anschlägen mit vielen Opfern. Auch in den letzten Jahren wurden Yeziden entführt und ermordet.” (SFH, 21. Mai 2013, S. 2)
Weitere Informationen zur Lage der Jesiden in Mosul entnehmen Sie bitte der folgenden, etwas älteren ACCORD-Anfragebeantwortung:
 
 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 12. August 2013)
1) Informationen zur Ortschaft Tel Ezer / Kahtania
2) Aktuelle Lage von JesidInnen in Provinz Ninawa und Tel Ezer