Document #1351099
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: **Republik Indien
**Staatsoberhaupt: Pratibha Patil
Regierungschef: Manmohan Singh
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 1,2 Mrd.
Lebenserwartung: 64,4 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 77/86 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 62,8%
In den Bundesstaaten Chhattisgarh, Jharkhand und Westbengalen eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten maoistischen Gruppen und Sicherheitskräften. Bombenanschläge in diesen Bundesstaaten sowie ethnisch motivierte Anschläge in Assam und anderen Bundesstaaten kosteten mehr als 350 Menschen das Leben. Nach Protesten von Adivasi (Angehörige indigener Völker) und anderen gesellschaftlichen Randgruppen gegen Pläne, ihr Land und ihre Bodenschätze ohne Rücksprache und ohne ihre Zustimmung in Besitz zu nehmen, wurden Großprojekte von Unternehmen eingestellt. Die mit diesen Fällen befassten Menschenrechtsverteidiger wurden von staatlichen oder privaten Interessenvertretern mit politisch motivierten Anklagen überzogen; einigen von ihnen legte man Aufwiegelung zur Last. Zwischen Juni und September wurden im Tal von Kaschmir mehr als 100 Personen, darunter zahlreiche Jugendliche, bei Protestkundgebungen getötet. Folter und andere Misshandlungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Todesfälle im Gewahrsam und Administrativhaft (ohne Anklage und Prozess) waren nach wie vor weit verbreitet. Die institutionellen Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenrechtsverteidiger waren weitgehend wirkungslos. Gerichtsverfahren, die sich mit Menschenrechtsverletzungen und Verstößen der Vergangenheit befassten, verhalfen den Opfern oft nicht zu ihrem Recht. Mindestens 105 Personen wurden 2010 zum Tode verurteilt. Es fanden jedoch im sechsten Jahr in Folge keine Hinrichtungen statt.
Indiens schnelles wirtschaftliches Wachstum beschränkte sich auf die wichtigsten Städte und deren Umland. In den meisten ländlichen Gebieten herrschte hingegen weiterhin bittere Armut, die sich durch eine Krise der Landwirtschaft und ein sinkendes Nahrungsmittelangebot für in Armut lebende Menschen noch verschärfte. Offiziellen Angaben zufolge lebten zwischen 30 und 50% der Bevölkerung in Armut. Zu ihnen zählten auch Menschen in ländlichen Gebieten, denen an mindestens 100 Tagen im Jahr Arbeit zustand. Die Behörden bezahlten ihnen dafür aber nach wie vor weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn.
Der Besuch von US-Präsident Barack Obama im November 2010 unterstrich die wachsende Bedeutung des Landes auf internationaler Ebene sowie in der Region. Allerdings stellte Indien regelmäßig wirtschaftliche und strategische Interessen in den Vordergrund, während menschenrechtliche Überlegungen vernachlässigt wurden. So bezogen die indischen Behörden nicht gegen die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen Stellung, die staatliche Stellen im benachbarten Myanmar begingen. Sie schwiegen auch angesichts von Forderungen, die Regierung von Sri Lanka müsse wegen Menschenrechtsverletzungen in der Endphase des Bürgerkriegs 2009 zur Verantwortung gezogen werden.
Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan waren 2010 weiterhin belastet, da sich Pakistan noch immer weigerte, angemessen auf die Anschläge von Mumbai im November 2008 zu reagieren. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden auch dadurch getrübt, dass es im indisch verwalteten Teil Kaschmirs vermehrt zu Protesten kam, die Unabhängigkeit forderten.
Im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh eskalierten die Kampfhandlungen zwischen bewaffneten maoistischen Gruppen und Sicherheitskräften. Letztere wurden von der Miliz Salwa Judum unterstützt, von der allgemein angenommen wird, dass sie finanzielle Zuwendungen von staatlicher Seite erhält. Bei einer Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof bezüglich Eingaben, die sich gegen die Straflosigkeit richteten, erklärten die bundesstaatlichen Behörden im November, die Miliz sei nicht mehr aktiv. Menschenrechtsorganisationen erklärten hingegen, sie sei zu einer lokalen "Friedenstruppe" umgebildet worden.
In den Adivasi-Gebieten der Bundesstaaten Jharkhand und Westbengalen fanden vergleichbare Auseinandersetzungen und Bombenanschläge statt. Beide Seiten gingen immer wieder gezielt gegen Zivilpersonen vor, insbesondere gegen Adivasi. Berichten zufolge wurden sie Opfer von Tötungen und Entführungen. Es gab weiterhin ungefähr 30000 Binnenflüchtlinge, die den Adivasi angehörten und allein im Bundesstaat Chhattisgarh vertrieben worden waren. 10000 von ihnen waren in Lagern untergebracht, 20000 lebten verstreut in den benachbarten Bundesstaaten Andhra Pradesh und Orissa.
Marginalisierte Bevölkerungsgruppen vor Ort, die von Bergbau-, Bewässerungs- und anderen Unternehmensprojekten betroffen waren, wurden von Behörden und Wirtschaftsunternehmen weder in angemessener Weise einbezogen noch wurden ihre Rechte geschützt. Adivasi und andere gesellschaftliche Randgruppen organisierten in mehreren Bundesstaaten Protestaktionen, weil ihr Land durch Vorhaben von Wirtschaftsunternehmen bedroht wurde und die Behörden ihre Ansprüche auf das Land, die durch die Verfassung und Gesetze aus der jüngsten Vergangenheit garantiert wurden, nicht respektierten. Einige dieser Aktionen endeten erfolgreich.
Die Polizei setzte 2010 exzessive Gewalt ein, um Proteste lokaler Gemeinschaften gegen rechtswidrige Zwangsräumungen und die Übernahme ihres Landes für Projekte von Wirtschaftsunternehmen niederzuschlagen. Auch schützte die Polizei Demonstrierende nicht gegen private Milizen, die dem Vernehmen nach mit den Regierungsparteien in Verbindung standen und Protestkundgebungen gewaltsam unterdrückten. Die Behörden leiteten bei den meisten Vorfällen dieser Art keine unabhängigen und umgehenden Untersuchungen ein.
Personen, die die Landrechte der Adivasi und anderer gesellschaftlicher Randgruppen verteidigten und die sich zum Schutz dieser Rechte in einigen Fällen auf das gesetzlich garantierte Recht auf Information (Right to Information Act) beriefen, waren weiterhin schwerwiegenden Bedrohungen und gewalttätigen Übergriffen durch private Milizen ausgesetzt.
Es herrschte weiterhin überwiegend Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen. Trotz anhaltender Proteste im Nordosten zeigten sich die Behörden nicht bereit, das Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte von 1958 (Armed Forces Special Powers Act) aufzuheben, das Straflosigkeit ermöglicht. Diejenigen, die für das "Verschwindenlassen" von Personen, außergerichtliche Hinrichtungen und andere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, die zwischen 1984 und 1994 im Punjab sowie zwischen 1998 und 2001 in Assam begangen worden waren, entzogen sich weiterhin der Justiz. Angehörige der Dalit-Gemeinschaften (Kastenlose) waren in mehreren Bundesstaaten Übergriffen und Diskriminierung ausgesetzt. Die Behörden brachten die existierenden Sondergesetze nicht zur Anwendung, die erlassen worden waren, um die Verantwortlichen für diese Gewalttaten strafrechtlich zu verfolgen.
Im September 2010 ordnete der Oberste Gerichtshof die Fortsetzung des Verfahrens gegen einen führenden Politiker der Kongresspartei, Sajjan Kumar, an. Das Verfahren gegen ein weiteres ehemaliges Führungsmitglied der Kongresspartei, Jagdish Tytler, wurde im April von einem Gericht in Neu-Delhi abgeschlossen. Beiden Männern war vorgeworfen worden, sie hätten nach dem Mord an der damaligen Premierministerin Indira Gandhi 1984 ihre Anhänger aufgestachelt, das Massaker in Neu-Delhi zu verüben, bei dem Tausende von Sikhs getötet wurden.
In den Gerichtsverfahren gegen einige der Personen, denen die Verantwortung für die Angriffe auf die muslimische Minderheit im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002 zur Last gelegt wurde, bei denen rund 2000 Menschen ums Leben kamen, waren kaum Fortschritte zu verzeichnen. Die Verfahren wiesen schwerwiegende Defizite auf: So wurden Zeugen von den Behörden mit unverhohlener Feindseligkeit behandelt; zentrale Beweismittel, darunter offizielle Telefonmitschnitte, wurden nicht ausgewertet, und Beweismittel, die wichtige politische Führer mit den Gewalttaten in Zusammenhang brachten, wurden vernichtet.
Es herrschte weiterhin Straflosigkeit bezüglich Menschenrechtsverletzungen, die während des bewaffneten Konflikts in Kaschmir seit 1989 begangen wurden, darunter das "Verschwindenlassen" von Tausenden von Menschen. Offizielle Untersuchungen, die sich auf einige der Menschenrechtsverletzungen bezogen, machten geringe oder keine Fortschritte.
Die Nationale Menschenrechtskommission (National Human Rights Commission - NHRC) veröffentlichte Angaben zu Todesfällen, die sich zwischen 1993 und 2008 bei Zusammenstößen mit der Polizei ereignet hatten. Diesen Angaben zufolge gab es insgesamt 2560 Todesfälle, davon waren 1224 auf sogenannte vorgetäuschte Zusammenstöße zurückzuführen, was nichts anderes hieß, als das es sich dabei um außergerichtliche Hinrichtungen handelte. Bis zum Jahresende hatte die NHRC den Familien von 16 Opfern Entschädigungen zugesprochen. Die Verantwortlichen für die widerrechtlichen Tötungen wurden nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen, und die Verfahren in diesen Fällen kamen weiterhin nur langsam voran.
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen]
Mehr als 100 Personen wurden im Zusammenhang mit Bombenanschlägen in mehreren Bundesstaaten, darunter Delhi, Uttar Pradesh und Rajasthan, ohne Anklage inhaftiert. Die Zeiträume der Haft reichten dabei von einer Woche bis zu einem Monat. Sowohl muslimische als auch hinduistische Organisationen sahen sich veranlasst, gegen Folter und andere Misshandlungen von Verdächtigen zu protestieren. Die Sicherheitsgesetze, die nach den Anschlägen in Mumbai im November 2008 verschärft worden waren, dienten dazu, Verdächtige festzunehmen. Trotz anhaltender Proteste wurde das Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte nicht außer Kraft gesetzt, das es den Sicherheitskräften in bestimmten Gebieten oder Bundesstaaten erlaubt, auch dann tödliche Schüsse abzugeben, wenn ihnen keine unmittelbare Gefahr droht.
Todesstrafe
Im Dezember 2010 stimmte Indien gegen eine Resolution der UN-Generalversammlung, die zu einem weltweiten Hinrichtungsmoratorium aufrief. Gegen 105 Personen ergingen Todesurteile, darunter auch gegen Ajmal Kasab. Der pakistanische Staatsbürger wurde wegen Beteiligung an den Anschlägen in Mumbai 2008 - als einziger überlebender Tatbeteiligter - zum Tode verurteilt. Im sechsten Jahr in Folge fanden jedoch keine Hinrichtungen statt, und die Todesurteile gegen 13 Personen wurden in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Gesetzesänderungen weiteten die Todesstrafe auf den Straftatbestand Entführung aus. Gemäß einer neuen Gesetzgebung veröffentlichten 16 Bundesstaaten Daten über die Zahl der im Todestrakt einsitzenden Personen. Mindestens fünf Bundesstaaten lehnten die Veröffentlichung dieser Zahlen jedoch ab.
Amnesty International: Missionen und Berichte
M Delegationen von Amnesty International besuchten Indien in den Monaten Februar, Mai/Juni sowie im Dezember.
B Don't mine us out of existence: Bauxite mine and refinery devastate lives in India (ASA 20/001/2010)
B India: Chhattisgarh authorities must immediately release witness to extrajudicial executions (ASA 20/002/2010)
B India: Government of Manipur must release Irom Sharmila Chanu (ASA 20/003/2010)
B India's relations with Myanmar fail to address human rights concerns in run up to elections (ASA 20/016/2010)
B India: Urgent need for Government to act as death toll rises in Kashmir (ASA 20/027/2010)
B India: Briefing on the Prevention of Torture Bill (ASA 20/030/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Periodical Report, German)
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)