Amnesty International Report 2013 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte - Ukraine

 

Amtliche Bezeichnung: Ukraine
Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch
Regierungschef: Mykola Asarow

Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet und wurden nicht geahndet. Mängel im Strafrechtssystem führten zu überlangen Untersuchungshaftzeiten und fehlendem Schutz von Häftlingen. Flüchtlinge und Asylsuchende wurden inhaftiert und in Länder abgeschoben, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohten. Die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen waren in Gefahr.

Folter und andere Misshandlungen

Es gingen weiterhin Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam ein. Im November 2012 veröffentlichte der Ausschuss des Europarats zur Verhütung von Folter seinen Bericht über einen Besuch der Ukraine im Jahr 2011. Darin hieß es, die Delegation sei "überschwemmt worden" mit Beschwerden inhaftierter Personen, die Opfer physischer und psychischer Misshandlung durch die Polizei geworden waren. Als "besonders problematisch" hob der Bericht die Polizeiwache des Kiewer Bezirks Shevchenkivskiy hervor.

Am 18. September 2012 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, wonach das Amt der parlamentarischen Menschenrechtsbeauftragten die Funktionen eines Nationalen Präventionsmechanismus übernehmen soll. Die Ukraine kam damit ihren Verpflichtungen gemäß dem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe nach.

  • Am 17. Juni 2012 wurde Mikhail Belikov von Beamten der Polizeiwache des Bezirks Petrovskiy in Donezk gefoltert. Der Bergarbeiter im Ruhestand war von drei Polizisten in einem Park wegen Trinkens in der Öffentlichkeit aufgegriffen worden. Er gab an, die Polizisten hätten ihn im Park geschlagen und dann auf eine Nebenstelle des Polizeireviers von Petrovskiy gebracht. Dort hätten ihn drei Polizisten festgehalten, während ihn ein vierter mit einem Polizeiknüppel vergewaltigte. Ein höherer Beamter sagte ihm, er solle vergessen, was passiert sei, und forderte ihn auf, 1500 Hrywnja (144 Euro) für seine Freilassung zu zahlen. Mikhail Belikov erklärte sich bereit, den Betrag zu zahlen, und wurde ohne Anzeige freigelassen. In der folgenden Nacht verschlechterte sich sein Zustand erheblich. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo die Ärzte schwere innere Verletzungen feststellten, die einen vorübergehenden künstlichen Darmausgang erforderlich machten. Ende 2012 standen drei Polizeibeamte wegen fünf Fällen von Misshandlung und Erpressung vor Gericht, die bis ins Jahr 2009 zurückreichten. Die Folterung von Mikhail Belikov war einer der fünf Fälle. Zwei der Beamten waren nach Artikel 127 des Strafgesetzbuchs wegen Folter angeklagt.

Straflosigkeit

Im Oktober 2012 schlug der UN-Menschenrechtsrat der Ukraine im Zuge der Universellen Regelmäßigen Überprüfung vor, ein unabhängiges Gremium einzurichten, um Folterfälle zu untersuchen und zu gewährleisten, dass Opfer entschädigt werden. Bis zum Jahresende hatte die Regierung weder auf diese noch auf 145 weitere Empfehlungen reagiert, die der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Überprüfung gegeben hatte. Für die Opfer von Folter und anderen Misshandlungen war es weiterhin schwierig, eine Untersuchung ihrer Beschwerden zu erreichen. Die von den Gerichten verhängten Strafen standen häufig in keinem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat.

  • Am 5. Januar 2012 wurde der Polizeibeamte Serhiy Prikhodko zu einer fünfjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Er war wegen Amtsmissbrauch im Fall von Ihor Indilo angeklagt, der im Mai 2010 in Gewahrsam auf der Polizeistation Shevchenkivskiy in Kiew gestorben war. Ein zweiter Polizeibeamter, Serhiy Kovalenko, war im Dezember 2011 begnadigt worden. Zur Begründung hieß es, er habe ein kleines Kind. Am 14. Mai 2012 hob das Berufungsgericht Kiew sowohl die Bewährungsstrafe als auch die Begnadigung auf und forderte weitere Ermittlungen in dem Fall. Am 29. Oktober ordnete das Berufungsgericht Kiew erneut weitere Untersuchungen an.
  • Am 23. März 2012 wurde Ihor Zavadskiy, ein bekannter Akkordeonspieler, in Kiew festgenommen und von Polizeibeamten gefoltert und anderweitig misshandelt. Er gab an, vor seinem Haus von einer Gruppe Polizeibeamter in Zivil zu Boden geworfen und geschlagen worden zu sein. Die Beamten hätten ihn durchsucht, ihm sein Mobiltelefon abgenommen und seine Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl durchsucht. Anschließend wurde er auf der Polizeistation des Kiewer Bezirks Shevchenkivskiy weiter gefoltert und misshandelt. Drei Beamte schlugen ihn, und einer von ihnen quetschte ihm auf äußerst schmerzvolle Weise seine Hoden. Als man ihn zu Boden stieß, schlug er mit dem Kopf auf und verlor das Bewusstsein. Die Polizeibeamten bestanden darauf, ihn ohne Anwalt zu verhören. Erst am 27. März konnte er einen Anwalt sprechen. Er wurde wegen "gewaltsamer, unnatürlicher Befriedigung sexuellen Verlangens" und "ausschweifendem Verhalten gegenüber Minderjährigen" angeklagt. Am 2. April reichte er beim Bezirksstaatsanwalt Klage wegen Folter und Misshandlung ein. Er wurde erst am 3. Juli darüber informiert, dass man am 6. April entschieden hatte, keine strafrechtliche Untersuchung der Foltervorwürfe einzuleiten. Am 31. Juli hob das Bezirksgericht Shevchenkivskiy die Entscheidung des Staatsanwalts auf und ordnete neue Untersuchungen in dem Fall an. Ende 2012 lagen keine Informationen über den Stand der Untersuchungen vor. Das Verfahren gegen Ihor Zavadskiy dauerte noch an.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Die Ukraine verstieß weiterhin gegen ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention, indem sie Auslieferungsanträgen nachkam, die sich auf Personen bezogen, die anerkannte Flüchtlinge oder Asylsuchende waren.

  • Am 20. September 2012 lieferten die ukrainischen Behörden Ruslan Suleymanov an Usbekistan aus. Sie verstießen damit gegen die Verpflichtungen der Ukraine als Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter und der Genfer Flüchtlingskonvention. Ende 2012 befand sich Ruslan Suleymanov noch immer in Untersuchungshaft in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Er war im November 2010 in die Ukraine gezogen, weil er in Usbekistan einen unfairen Gerichtsprozess, Folter und andere Misshandlungen befürchtete, nachdem das Bauunternehmen, für das er gearbeitet hatte, ins Visier konkurrierender Firmen geraten war. Am 25. Februar 2011 war er in der Ukraine festgenommen worden. Im Mai 2011 hatte die Generalstaatsanwaltschaft seine Auslieferung nach Usbekistan bestätigt, wo er sich wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte vor Gericht verantworten sollte. Sein Asylantrag war in der Ukraine zwar abgelehnt worden, doch hatte ihn das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) als Flüchtling anerkannt und sich um seine Ansiedlung in einem Drittland bemüht.
  • Am 19. Oktober 2012 wurde der russische Staatsbürger Leonid Razvozzhayev, ein Berater des oppositionellen russischen Parlamentariers Ilya Ponomaryov, Berichten zufolge vor dem Büro der jüdischen Hilfsorganisation Hebrew Immigration Aid Society in Kiew von russischen Polizeikräften entführt. Er wollte sich von der Organisation wegen eines Asylantrags in der Ukraine rechtlich beraten lassen. Am 22. Oktober teilte Leonid Razvozzhayev mit, er sei nach seiner Rückkehr nach Russland gefoltert und anderweitig misshandelt worden. Man habe ihn auf diese Weise zu dem "Geständnis" zwingen wollen, dass er gemeinsam mit anderen oppositionellen Aktivisten Massenunruhen geplant habe. Am 25. Oktober bestätigte ein Sprecher des ukrainischen Innenministeriums, dass Leonid Razvozzhayev von "Ordnungskräften oder ausländischen Ordnungskräften" entführt worden sei. Es handele sich dabei jedoch nicht um eine Strafsache, sondern um eine Angelegenheit der "Zusammenarbeit von Vollzugsbehörden", über die er nichts wisse.
    Im Juni 2012 stellte der UNHCR fest, dass trotz des neuen Flüchtlingsgesetzes von 2011 Verfahren und Gesetzgebung noch immer nicht internationalen Standards entsprachen. Dies galt insbesondere für Asylsuchende, die in vielen Fällen keine Ausweisdokumente hatten. Ihnen drohte wegen illegalen Aufenthalts auf ukrainischem Gebiet eine Inhaftierung von bis zu einem Jahr.
  • Im Januar 2012 traten 81 Personen in zwei Aufnahmezentren für Migranten aus Protest gegen ihre Inhaftierung in den Hungerstreik. Dabei handelte es sich überwiegend um somalische Staatsbürger. Sie waren im Zuge einer Polizeiaktion zur Kontrolle "illegaler Einwanderung" Ende Dezember 2011 festgenommen worden und sollten "zum Zweck der Abschiebung" bis zu zwölf Monate lang inhaftiert bleiben. Bis dato hatte die Ukraine jedoch noch keine somalischen Staatsbürger in ihr Heimatland abgeschoben. Abschiebungen nach Somalia wären auch nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig gewesen. Mindestens ein Häftling war beim UNHCR als Asylsuchender registriert; viele weitere hatten jedoch kein Asyl beantragen können, da die regionalen Migrationsämter in vielen Teilen der Ukraine ihre Arbeit 2011 zum großen Teil eingestellt hatten. Die Häftlinge beendeten ihren Hungerstreik am 17. Februar, nachdem ihnen die staatliche Migrationsbehörde versichert hatte, die regionalen Ämter im Distrikt Wolyn im Westen der Ukraine würden wieder öffnen und Anträge auf den Flüchtlingsstatus und entsprechenden Schutz entgegennehmen. Bis November wurden 53 Häftlinge freigelassen.

Justizwesen

Der Präsident unterzeichnete am 14. Mai 2012 eine neue Strafprozessordnung, die eine deutliche Verbesserung gegenüber der vorherigen darstellt. In ihr ist klar formuliert, dass eine Haft im Augenblick der Festnahme durch die Polizei beginnt und Häftlinge von diesem Moment an Anspruch auf einen Anwalt und einen unabhängigen medizinischen Experten haben. Sie legt außerdem eindeutig fest, dass Untersuchungshaft nur bei außergewöhnlichen Umständen angeordnet werden soll, entsprechend den Empfehlungen des Europarats. Außerdem ist vorgesehen, dass alle zwei Monate automatisch geprüft wird, ob die Untersuchungshaft weiterhin gerechtfertigt erscheint. Anlass zu Bedenken gab, dass ein Anwalt nur bei besonders schweren Delikten, die mit einer Gefängnisstrafe von mehr als zehn Jahren geahndet werden können, Pflicht ist. Prozesskostenhilfe ist ebenfalls nur in diesen Fällen vorgesehen.

  • Am 27. Februar 2012 wurde der ehemalige Innenminister und Vorsitzende der Oppositionspartei Selbstverteidigung des Volkes, Jurij Lutsenko, wegen Amtsmissbrauchs und Aneignung staatlichen Vermögens zu vier Jahren Haft und einer Geldstrafe von 643982 Hrywnja (61621 Euro) verurteilt. Jurij Lutsenko befand sich seit dem 26. Dezember 2010 in Untersuchungshaft. Am 3. Juli entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Untersuchungshaft habe Jurij Lutsenkos Recht auf Freiheit verletzt und verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, weil sie politisch motiviert sei. Am 17. August wurde Jurij Lutsenko von einem ukrainischen Gericht außerdem wegen Vernachlässigung beruflicher Sorgfaltspflichten schuldig gesprochen, weil er während der Untersuchung der Vergiftung des ehemaligen Präsidenten Juschtschenko die illegale Überwachung eines Fahrers angeordnet habe. Sein Strafmaß blieb unverändert.
  • Im April 2012 sollte ein neues Verfahren gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko wegen Steuerhinterziehung beginnen, das jedoch aus gesundheitlichen Gründen verschoben wurde. Die neuen Anklagen, die im Oktober 2011 erhoben worden waren, bezogen sich auf ihre Tätigkeit als Generaldirektorin des Energiekonzerns EESU im Zeitraum von 1995 bis 1997. Julija Tymoschenko verbüßte 2012 weiterhin ihre siebenjährige Haftstrafe, die nach politisch motivierten Anklagen gegen sie verhängt worden war. Sie war wegen angeblichen Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen worden im Zusammenhang mit einem Gasvertrag in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar, den sie als Ministerpräsidentin im Januar 2009 mit Russland abgeschlossen hatte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen

Im Oktober 2012 verabschiedete das Parlament in zweiter Lesung den Gesetzentwurf "Zur Verbesserung einiger Gesetze (zum Schutz des Rechts von Kindern auf einen ungefährlichen Informationsraum)". Das Gesetz sieht ein Verbot der Herstellung, Einführung und Verbreitung von Publikationen, Filmen und Videos vor, die für Homosexualität werben. Sollte das Gesetz in Kraft treten, würde damit das Recht auf freie Meinungsäußerung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen drastisch beschnitten.

  • Am 20. Mai 2012 wurde die Gay Pride Parade in Kiew nur 30 Minuten vor dem Start abgesagt, nachdem die Polizei gewarnt hatte, dass zahlreiche nationalistische und religiöse Protestierende gedroht hätten, die Parade aufzuhalten. Ein Mitglied des Organisationsteams wurde von einer Bande Jugendlicher verprügelt, ein weiteres mit Tränengas besprüht.

Internationale Strafverfolgung

Die Regierung teilte am 24. Oktober 2012 mit, die Ukraine fühle sich weiterhin der Idee eines Internationalen Strafgerichtshofs verpflichtet. Die erforderlichen Gesetzesänderungen zur Umsetzung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und des Übereinkommens über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen, dem die Ukraine am 20. Januar 2000 bzw. am 29. Januar 2007 beigetreten war, wurde jedoch nicht in die Wege geleitet.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine im April, Mai, Juni, Juli, August und September.

 




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