Konfliktporträt: Libanon

Die Politik des Libanon ist geprägt von aufeinander folgenden Phasen weitgehend friedlicher Machtteilung und erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern. Es besteht immer die Gefahr, dass regionale Konflikte zur Verschärfung der inneren Gegensätze und zu Gewalt führen.
 

Aktuelle Situation



Die Menschen im Libanon sind es gewohnt, dass sich die Bildung einer Regierung und das Gerangel um die Besetzung hochrangiger Posten lange hinziehen. Denn das Land ist politisch in zwei rivalisierende Lager gespalten: die schiitische Hisbollah und ihre Verbündeten ("Bündnis 8. März") auf der einen Seite und das pro-westliche und mehrheitlich sunnitische "Bündnis 14. März" auf der anderen Seite. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Land immer noch keinen neuen Staatspräsidenten gewählt hat. Dieser hätte schon seit Ende Mai im Amt sein müssen. Dem designierten Ministerpräsident Tammam Salam ist es im Februar 2014 immerhin gelungen, eine neue "Regierung der nationalen Einheit" zu bilden. Die Regierung vereint erstmals seit drei Jahren wieder Vertreter der beiden Lager. Sie haben jeweils ein Drittel der Ministerposten inne. Die restlichen Minister werden von Unabhängigen gestellt (u.a. Progressive Sozialistische Partei).

Seit den letzten Parlamentswahlen vom Juni 2009 war die Regierung mehrfach zerbrochen. Zunächst musste das pro-westliche Lager trotz eines knappen Sieges einer "Regierung der Nationalen Einheit" mit der Hisbollah und ihren Verbündeten zustimmen. Der Kompromiss war durch intensive Vermittlung durch Syrien und Saudi-Arabien zustande gekommen. Diese Regierung scheiterte dann im Januar 2011 an unvereinbaren Positionen in Bezug auf die Arbeit des "Sondertribunals für Libanon" (STL). Das internationale Gericht hatte im Auftrag der UNO den Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten, Rafik El-Hariri, im Februar 2005 untersucht. In der im August 2011 veröffentlichten Anklageschrift werden prominente Hisbollah-Vertreter als Beteiligte genannt.

Erst nach langwierigen Verhandlungen konnten die Hisbollah und ihre Verbündeten im Juni 2011 eine Regierung unter Najib Mikati bilden. Deren Stabilität und Effektivität wurde ebenfalls von Gegensätzen zum Hariri-Tribunal und dem Streit um Ämter und Einfluss beeinträchtigt. Die Regierung zerbrach endgültig im Frühjahr 2013. Im April 2013 wurde dann Tamman Salam als Konsenskandidat mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Der im Ausland kaum bekannte Abgeordnete des Hariris-Bündnisses "14. Oktober" war 2008 und 2009 kurzzeitig Kulturminister gewesen.

Die Regierungsbildung hat fast elf Monate gedauert und war von massiven Auseinandersetzungen und Schuldzuweisungen zwischen den politischen Kontrahenten geprägt, auch wegen des im Nachbarland Syrien tobenden Krieges. Die Hisbollah sieht das Land als Teil einer Allianz gegen eine "israelisch-amerikanische Hegemonie" im Nahen und Mittleren Osten. Das pro-westliche Lager betrachtet ihrerseits die Hisbollah und ihre Kampfverbände als Gefahr für die äußere und innere Sicherheit und warnt vor einer neuerlichen Verwicklung des Libanon in regionale Konflikte, wie den syrischen Bürgerkrieg.

Mitglieder der schiitischen Hisbollah kämpfen im syrischen Bürgerkrieg an der Seite des mit dem Iran verbündeten Assad-Regimes. Das mehrheitlich sunnitische Lager sympathisiert dagegen mit der gleichfalls sunnitisch geprägten Widerstandsbewegung in dem Nachbarland. Junge sunnitische Libanesen werden von radikalen sunnitischen Gruppierungen für den Kampf an der Seite islamischer Rebellen in Syrien rekrutiert.

Die Hisbollah beschuldigte das Hariri-Bündnis, diese radikalen Sunniten zu decken. Im Gegenzug beschuldigte das Hariri-Bündnis die Hisbollah, den Libanon in den Krieg in Syrien hineinzuziehen. Doch allen Konflikten zum Trotz scheint die Regierung der nationalen Einheit einigermaßen zu funktionieren. Beide Regierungslager haben sich dem gemeinsamen Kampf gegen den Terror verschrieben, um die Sicherheitslage im krisengebeutelten Libanon zu verbessern. Ein erster Schritt war, dass die Hisbollah Vertreter des Hariri-Bündnisses mit in die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Gebiete genommen hat. So wird das Amt des Innen- und Justizministerium nun von zwei Ministern aus der "Bündnis 14. März" ausgefüllt.
 

Ursachen und Hintergründe des Konflikts



Erziehung, Sozialisation und besonders die (selektive) Erinnerung an in der Vergangenheit erlittenes Unrecht bewirken eine oft bedingungslose Identifikation junger Libanesen mit der Religionsgemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden. Die Wirkung solcher kollektiven Identitäten wird durch das Prinzip des religiös-konfessionellen Proporzes verstärkt: Arbeitsplätze, Staatsaufträge und Sozialleistungen werden anteilig an die verschieden Religionsgemeinschaften vergeben. Soziale und ökonomische Verteilungskämpfe sind damit immer auch religiös-konfessionelle Auseinandersetzungen.

Die so zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kultivierten Ressentiments werden von den politischen Führern systematisch zur politischen Mobilisierung eingesetzt. In Zeiten regionaler Stabilität geht es dabei vor allem um Anteile an Macht und Ämtern. Wenn jedoch die Spannungen in der Region zunehmen, nutzen ausländische Akteure die Zerrissenheit des Libanon und die Schwäche seiner Institutionen, um das strategisch gelegene Land durch Bündnisse mit lokalen Kräften auf ihre Seite zu ziehen. Solche Bündnisse verlaufen oft entlang religiöser und konfessioneller Linien: So kooperiert der Iran mit dem schiitisch dominierten Regierungslager, Saudi-Arabien mit der sunnitisch geprägten Opposition.
 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze



Einen umfassenden Versuch zur Überwindung der innerlibanesischen Gegensätze unternahm im Jahre 1989 die Friedenskonferenz im saudiarabischen Taif, mit der das Ende des fünfzehnjährigen Bürgerkrieges eingeläutet wurde.

Institutionelle Reformen beendeten das politische Übergewicht der Christen und trugen damit der demografischen Entwicklung Rechnung. Die langfristige Überwindung des politischen Proporzes wurde zum Verfassungsziel erhoben, Dezentralisierung und neue Institutionen, wie etwa ein Verfassungsgericht, sollten neue Möglichkeiten der Mitbestimmung eröffnen und so die auf allen Seiten vorhandene Furcht vor Marginalisierung reduzieren.

Mit Ausnahme der veränderten Proporzformel wurde allerdings die Mehrheit der vorgesehenen Reformen nie umgesetzt. Traditionelle politische Führer, ebenso wie ehemalige Warlords, zeigten kein Interesse, ihre eigene Machtbasis zu gefährden. Bis 2005 war auch Syrien als Besatzungs- und Garantiemacht des Taif-Abkommens daran interessiert, den für die eigene Strategie des "Teile-und-herrsche" nützlichen Status quo zu erhalten. Syrische Geheimdienste kontrollierten über fünfzehn Jahre die libanesische Politik und weite Teile des Staatsapparats. In ihrem Schutz bildeten sich weit verästelte Netzwerke organisierter Korruption. Nach dem syrischen Rückzug machte die bald eintretende politische Polarisierung zwischen den beiden Lagern die Reformansätze rasch zunichte.

Eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung des Bürgerkrieges hat es im Libanon nie gegeben. Staatliche und gesellschaftliche Institutionen, wie Schulen, Universitäten und Museen, verschließen sich bis heute gegenüber der Aufarbeitung der gewaltgeprägten und leidvollen Vergangenheit. Und auch in den Elternhäusern finden die Nachkriegsgenerationen nur bedingt Antworten. Daher sind die Wunden noch nicht verheilt, das Misstrauen zwischen den ehemaligen Konfliktparteien schwelt auch heute noch.
 

Geschichte des Konflikts



Der Zerfall des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert ermöglichte es konkurrierenden europäischen und regionalen Mächten, durch Bündnisse mit lokalen Eliten Einfluss im östlichen Mittelmeerraum zu gewinnen. Die lokalen Eliten stützten sich in den durch Kolonisierung und Modernisierung ausgelösten politischen und sozialen Konflikten meist auf die Loyalität ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft. Besonders in der zentralen Bergregion des Libanon kam es zwischen Drusen und Christen zu Spannungen. Diese eskalierten zwischen 1840 und 1860 zu bewaffneten Auseinandersetzung und antichristlichen Pogromen. Auf Intervention der europäischen Mächte wurde daraufhin eine begrenzte Autonomie etabliert, in der erstmals das Prinzip einer proportionalen Repräsentation der Religionsgemeinschaften zur Anwendung kam.

Kontakte zu europäischen Mächten und Märkten begünstigten den sozialen Aufstieg der christlichen Bevölkerung. Am Ende des 1. Weltkriegs strebten vor allem die katholischen Maroniten die Bildung eines eigenständigen, christlich dominierten Staates an. Sie fanden Unterstützung bei ihrer traditionellen Schutzmacht Frankreich, die die ehemalige osmanische Provinz Syrien als Mandat des Völkerbundes kontrollierte und dem Widerstand arabischer Nationalisten zu begegnen suchte.

Dem neuen Staat Libanon wurden jedoch auch vornehmlich muslimisch besiedelte Gebiete angegliedert, sodass der muslimische Bevölkerungsanteil bereits bei der Staatsgründung im Jahre 1920 fast 50% betrug. Viele Muslime lehnten den neuen Staat zunächst ab und plädierten für einen Verbleib bei Syrien oder für einen panarabischen Einheitsstaat. Erst im antikolonialen Befreiungskampf der 1940er Jahre fanden christliche und muslimische Politiker zu einem Kompromiss, der eine Teilung der politischen Macht zwischen Christen und Muslimen und die Verpflichtung auf Libanon als unabhängige Nation vorsah.

Die Rivalität um die Macht im Staate dauerte jedoch an. Während die libanesischen Christen die Unabhängigkeit des Libanon und damit ihre eigene privilegierte Position durch Bündnisse mit nicht-arabischen Mächten (Frankreich, die USA und schließlich Israel) zu sichern hofften, bemühten sich die libanesischen Muslime um eine enge Einbettung in die arabisch-muslimische Region, um so das Übergewicht der Christen zu neutralisieren. Mit diesem Ziel schlossen sie Anfang der 1970er Jahre ein Bündnis mit den bewaffneten Einheiten der PLO. 15 Jahre Bürgerkrieg waren die Folge.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1991 und bis zu ihrem Rückzug im Jahre 2005 verpflichtete die Besatzungsmacht Syrien wechselnde libanesische Regierungen konstant auf die Unterstützung der eigenen, von einer harten Haltung gegenüber Israel und den USA geprägten Position. Seit 2005 traten die libanesischen Sunniten und ein Teil der Christen für eine enge Anlehnung an "prowestliche" und "moderate" (und überwiegend sunnitische) Staaten wie Ägypten oder Saudi-Arabien ein. Die Schiiten hielten dagegen der durch Syrien und den Iran vertretenen Position des "Widerstands" gegen Israel und die USA die Treue. Diese Position wurde auch von einem Teil der Christen unterstützt.

Besonders im Gefolge des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer 2006 führte dieser Konflikt zu einer chronischen Verfassungskrise im Libanon. Politische Ämter blieben vakant, Institutionen waren in ihrer Funktion beeinträchtigt oder ganz gelähmt. Die politische Krise eskalierte im Mai 2008 und führte zu mehrtägigen Kämpfen zwischen Anhängern der Regierung und der Opposition. Bewaffnete Anhänger der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal besetzten weite Teile der Hauptstadt Beirut; mehr als hundert Menschen starben. Auf Vermittlung arabischer Staaten wurde daraufhin eine "Regierung der Nationalen Einheit" gebildet und der Konflikt vorläufig entschärft.

Die Ereignisse des "Arabischen Frühlings" führten auch im Libanon zu Demonstrationen gegen das herrschende politische System. Diese wurden jedoch rasch von Hisbollah und ihren Verbündeten für ihre eigenen politischen Ziele vereinnahmt und kamen bald zum Erliegen. Stattdessen heizt der Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien die inneren Spannungen im Libanon an: Besonders in der nördlichen Hafenstadt Tripoli kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen Anhängern und Gegnern der syrischen Regierung. Zuletzt gab es vermehrt Bombenanschläge in den südlichen Vierteln von Beirut, die von der Hisbollah kontrolliert werden. Es wird vermutet, dass sunnitische Extremisten damit die Hisbollah für ihre Unterstützung des Assad-Regimes "bestrafen" wollen.
 

Literatur



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Links



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»Kraft, Martin/ Al-Mazri, Muzna / Wimmen, Heiko / Zupan, Natascha (2008): Walking the Line. Strategic Approaches to Peacebuilding in Lebanon, Bonn: Working Group on Development and Peace (FriEnt).«

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»Wimmen, Heiko (2009): Old Wine in Older Skins: Lebanon Elects another Parliament, in: Middle East Report Online, 03.06.2009.«

»Wimmen, Heiko/ Al-Zubaidi, Layla (2008): Libanon - Von der Staatskrise zum offenen Machtkampf.«

 
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