Friedenskonsolidierung: Mazedonien

Der Friedensprozess in Mazedonien scheint formal auf gutem Wege. Die EU ist grundsätzlich bereit, Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Die tiefer liegenden Konfliktursachen werden jedoch kaum angegangen. Besonders die nationalistische Identitätspolitik der konservativen Regierung könnte die brüchige Stabilisierung gefährden.

Der Weg zum Frieden

Lange schien es, als könnte sich Mazedonien, das ohne Waffengewalt seine Unabhängigkeit erreicht hatte, aus den jugoslawischen Nachfolgekriegen heraushalten. Doch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nahmen unter dem Einfluss des serbisch-albanischen Bürgerkrieges im benachbarten Kosovo auch hier die Spannungen zwischen der mazedonischstämmigen Mehrheit (64 Prozent) und der albanischstämmigen Minderheit (ca. 25 Prozent) spürbar zu.

Durch die Erfolge der UÇK im Kosovo fühlten sich insbesondere jüngere Albaner in Mazedonien ermuntert, ihren Forderungen nach politischer, wirtschaftlicher und kultureller Gleichberechtigung mit größerer Radikalität Nachdruck zu verschaffen. Im Norden Mazedoniens formierte sich die "Nationale Befreiungsarmee", deren albanische Abkürzung nicht zufällig ebenfalls UÇK lautete. Nicht wenige Angehörige und Kommandeure der albanischen Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) kamen aus Mazedonien. Der Konflikt eskalierte bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Am 11.3.2001 griffen albanische Aufständische in Tetovo eine Polizeistation mit Granaten an.

Die Kämpfe wurden nach massivem Druck der USA, der NATO und der EU auf beide Seiten mit dem Rahmenabkommen von Ohrid (13. August 2001) beendet. Das von den vier größten politischen Parteien vereinbarte Ohrid-Abkommen legt das Prinzip doppelter Mehrheiten fest. Danach müssen alle Gesetze, die die albanische Volksgruppe betreffen, auch von mindestens 50% der albanischen Abgeordneten akzeptiert werden. Neben Mazedonisch erhielt Albanisch de facto den Status als zweite Amtssprache. Die albanische Universität in Tetovo wurde wieder eröffnet.

Der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung und proportionalen Vertretung der ethnischen Minderheiten in der öffentlichen Verwaltung, staatlichen Unternehmen, Armee und Polizei wurde in der Verfassung verankert. Die wichtigsten Minderheiten neben den Albanern sind v.a. Türken (3,9 Prozent), Roma (2,7 Prozent), Serben (1,8 Prozent) sowie Bosniaken und Walachen. Weitere Festlegungen betreffen die Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung und die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung und Autonomierechte sowie die Neufestlegung von Gemeindegrenzen und Wahlbezirken unter Berücksichtigung der territorialen Verteilung ethnischer Minderheiten.

Schließlich wurde durch das Abkommen die territoriale Integrität des mazedonischen Staates festgeschrieben. Mit der Beilegung des Grenzstreits und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Mazedonien und Kosovo wurde ein wichtiger Schritt in Richtung regionaler Stabilität getan.

Erfolge und Fortschritte

Zehn Jahre nach der Unterzeichnung sind die meisten Punkte des Ohrid-Abkommens in der Verfassung verankert und in nationale Gesetze gegossen; ihre politische Implementierung wurde auf den Weg gebracht. Ein Rückfall des Landes in einen offenen Gewaltkonflikt scheint derzeit wenig wahrscheinlich. In der vergangenen Dekade haben allein vier Parlaments- und drei Präsidentschaftswahlen stattgefunden, in denen sich die politischen Mehrheiten einmal grundsätzlich veränderten. Dies wird allgemein als erfolgreicher Demokratietest gewertet.

Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 4. Juni 2011, die einen mehrmonatigen Boykott des Parlaments durch alle Oppositionsparteien beendeten, bestätigten zwar die Mehrheitsverhältnisse: Premierminister, Nikola Gruevski, kann mit seiner konservativ-nationalistischen "Inneren Makedonische Revolutionäre Organisation – Bewegung für Nationale Einheit Makedoniens" (VMRO-DPMNE) weiter regieren. Doch musste VMRO-DPMNE erhebliche Stimmeneinbußen (von 48,8 Prozent auf 39,22 Prozent) hinnehmen. Die "Sozialdemokratische Union" (SDSM) konnte dagegen ihren Stimmanteil von 23,7 Prozent auf 33,81 Prozent steigern. Unter den albanischen Parteien, die sich abwechselnd als Koalitionspartner an der Regierung beteiligen, blieb die Demokratische Union für Integration (DUI) trotz Stimmenverlusten stärkste Kraft.

Die Ausbalancierung der politischen Mehrheitsverhältnisse wird von Beobachtern als günstige Voraussetzung für die Mäßigung autokratischer und nationalistischer Neigungen von Premierminister Gruevski und der VMRO-DPMNE wie auch für die Suche nach einem tragfähigen politischen Grundkonsens zwischen Regierung und Opposition angesehen.

Die insgesamt positive Entwicklung wurde auch durch den aktuellen EU-Fortschrittsbericht zum Annäherungsprozess (Oktober 2011) bestätigt. Der Bericht äußert sich zugleich kritisch zu fortbestehenden Defiziten im Rechtswesen, in Bezug auf Medienfreiheit und den stagnierenden Kampf gegen die Korruption. Moniert wird ebenfalls, dass Gesetzesänderungen nicht entschlossen und effektiv genug implementiert werden.

Die EU-Kommission empfiehlt erneut die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Dies ist jedoch zum dritten Mal am Veto Griechenlands gescheitert. Athen macht sowohl den NATO-Beitritt Mazedoniens als auch den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen von der Klärung des Namensstreits mit seinem nördlichen Nachbarn abhängig.
 

Probleme und Defizite

Ungeachtet der öffentlichkeitswirksamen Bemühungen der Regierung, die Auflagen der internationalen Gemeinschaften zu erfüllen, kommt die nachhaltige Überwindung der strukturellen Ursachen des Konflikts nur langsam voran. Hierzu gehören insbesondere die tiefe Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer Unterschiede und die diese Kluft zementierenden Vorurteile und Stereotypen. Konflikt verschärfend wirken die strukturelle wirtschaftliche Schwäche und die hohe Arbeitslosigkeit (ca. 32 Prozent). Große Teile der Bevölkerung leben in Armut und ohne Perspektive.

Anstatt die Probleme anzugehen, orchestriert die Regierung eine nationalistische Kampagne, um ihre Lesart der nationalen Geschichte und Identität durchzusetzen. Durch die Unterscheidung zwischen "Patrioten" und "Verrätern" wird ein Klima geschaffen, das jegliche Opposition in die Defensive drängt. Besonders mit der Geringschätzung und Marginalisierung der Identität der Albaner nimmt die Regierung die Zunahme interethnischer Spannungen in Kauf.

In den letzten Jahren haben sowohl die Spannungen zwischen den politischen Parteien als auch zwischen den ethnischen Gemeinschaften zugenommen. Auf politischem Gebiet ist nicht nur der Parlamentsboykott durch die Opposition (2010/11) zu nennen. Er war nur das äußere Zeichen für einen strukturellen Missstand: die ethno-politische Durchdringung des gesamten Parteiensystems sowie von Staat, Verwaltung und Medienlandschaft. Jede politische Veränderung wird an den daraus resultierenden Gewinnen und Verlusten für die ethnischen Gemeinschaften gemessen und ist dementsprechend hart umkämpft. Die Folgen sind u.a. die Verschleppung der Dezentralisierung und das vorläufige Scheitern der Volkszählung im Oktober 2011.

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist keine Trendwende zum Besseren zu erkennen. Die Segregation zwischen ethnischen Mazedoniern und Albanern schreitet voran; beide Bevölkerungsgruppen leben zunehmend unter sich – in Stadtvierteln, Dörfern und Landesteilen. In Folge der sich dadurch weiter verfestigenden wechselseitigen kulturellen Entfremdung tritt der interethnische Dialog auf der Stelle, und der Anteil ethnisch getrennter Schulen bzw. Klassen nimmt zu. Überdies sind Übergriffe und Diskriminierung, v.a. gegenüber den kleineren Minderheiten (Roma, Türken) an der Tagesordnung.

Noch werden die Konflikte wegen des parteienübergreifenden Ziels der Aufnahme in NATO und EU unter Kontrolle gehalten. Doch das könnte sich schnell ändern, wenn sich die Beitrittsaussichten wegen der Blockadepolitik Griechenlands langfristig eintrüben und aufgrund der EU-Krise vielleicht sogar gänzlich scheitern.

Griechenland möchte auf keinen Fall, dass der Name seiner Nordregion Makedonien auch zur international anerkannten Bezeichnung des Nachbarstaates wird. Athen wehrt sich gegen die Vereinnahmung seines kulturellen (antiken) Erbes und befürchtet mögliche Gebietsforderungen. Deshalb ist innerhalb der UNO und anderer internationaler Organisationen bis heute die Sprachregelung "Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien" (Former Yugoslav Republic of Macedonia – FYROM) verbindlich. Allerdings haben bereits über 130 Staaten das Land als "Republik Mazedonien" anerkannt.

Der Namensstreit zeigt, wie brüchig der Friedensprozess in dem kleinen Land (2,06 Mio. Einwohner) noch ist. Substanzielle Fortschritte hängen vor allem von der Klärung des dem Konflikt zugrunde liegenden zentralen Widerspruchs ab: Die ethnischen Mazedonier wollen alleiniges Staatsvolk bleiben. Doch die Albaner wollen sich nicht mit dem Status der größten Minderheit abfinden, sondern als zweite konstitutive Volksgruppe anerkannt werden.

Literatur

»Georgievski, Boris (2009): Ghosts of the Past Endanger Macedonia's Future.«

»Hensell, Stephan (2003): Typisch Balkan? Wie in Mazedonien aus Volksgruppen Feinde wurden, (Politikinformation Osteuropa 113), Digitale Bibliothek, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.«

Oschlies, Wolf (2004): Makedonien 2001 – 2004. Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land, Berlin: Xenomoi Verlag.

Phillips, John (2004): Macedonia: warlords and rebels in the Balkans, London: I.B. Tauris.

Troebst, Stefan (2007): Das mazedonische Jahrhundert. Von den Anfängen der nationalrevolutionären Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893-2001, München: Oldenbourg.

Links

»International Crisis Group (2009): Macedonia's Name: Breaking the Deadlock, Europe Briefing N°52, 12. Januar 2009«

»International Crisis Group (2011): Macedonia: Ten Years after the Conflict.«

»Weitere Analyse der International Crisis Group zu Mazedonien:«

»EU-Fortschrittsbericht zu Mazedonien 2009 über den Stand der Vorbereitung auf die Erweiterung (PDF)f«

»Veranstaltungen und Publikationen der Konrad-Adenauer-Stiftung zu Mazedonien und Kosovo«

»Interview mit dem mazedonischen Minister für europäische Integration zum Namensstreit mit Griechenland.«

»Radio Free Europe: Balkans:«

»Reliefweb (Mazedonien):«

»Text des Ohrid-Abkommen/ Europarat-Homepage:«

»Mazedonien im Fischer Weltalmanach:«
 

 
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Zur Person

Lutz Schrader

Lutz Schrader (Jg. 1953) ist freiberuflicher Dozent, Berater und Trainer mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung sowie Konfliktberatung und -bearbeitung. Forschungsthemen sind die Konflikte im westlichen Balkan, Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure in bewaffneten Konflikten und Post-Konfliktgesellschaften, Verfahren der Konflikttransformation sowie Friedens- und Konflikttheorien.