Amnesty International Report 2014/15 - The State of the World's Human Rights - Afghanistan

 

Angesichts des für Dezember 2014 geplanten Abzugs von 86000 ausländischen Soldaten war die Sicherheitslage im gesamten Land zunehmend angespannt. Das Mandat der NATO-geführten Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force - ISAF) lief zum Jahresende aus.

Die USA sagten zu, einen Teil ihrer Kampftruppen bis Ende 2015 im Land zu belassen. Nach Angaben der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan - UNAMA) war die Zahl der Zivilpersonen, die im Zuge des Konflikts getötet wurden, 2014 so hoch wie nie zuvor.

Die Taliban und andere bewaffnete Gruppen trugen die Verantwortung für etwa 74% der zivilen Opfer, 9% wurden den afghanischen Streitkräften und ihren Verbündeten zugerechnet. Weitere 12% wurden bei Bodenkämpfen zwischen Regierungstruppen und Taliban getötet, konnten aber keiner der beiden Seiten zugeordnet werden. Bei den übrigen zivilen Opfern infolge des bewaffneten Konflikts konnten die Umstände nicht näher spezifiziert werden. Da in vielen Fällen nicht untersucht wurde, wer die Zivilpersonen widerrechtlich getötet oder verletzt hatte, konnten zahlreiche Opfer und Angehörige keine Gerechtigkeit und Entschädigung einfordern. Im Parlament und im Justizministerium wurden im Laufe des Jahres mehrere Gesetze verabschiedet bzw. reformiert. Die Strafprozessordnung sollte dahingehend abgeändert werden, dass Familienangehörige sowohl von Opfern als auch von Tätern nicht mehr als Zeugen vor Gericht aussagen dürfen. Da die meisten der erfassten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt in der Familie verübt werden, würde diese Änderung eine erfolgreiche Strafverfolgung de facto verhindern. Das Gesetz wurde von beiden Kammern des Parlaments verabschiedet. Nach einem Proteststurm afghanischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen verweigerte der damalige Präsident Hamid Karzai jedoch die Unterzeichnung des Gesetzes.

Hintergrund

Nachdem es in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im April 2014 keinen Sieger gegeben hatte und beiden Kandidaten nach der Stichwahl im Juni massiver, systematischer Wahlbetrug vorgeworfen wurde, herrschte fünf Monate lang politischer Stillstand. Nach langwierigen Verhandlungen unter Vermittlung von US-Außenminister John Kerry und dem UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan Jan Kubis einigten sich die beiden Kontrahenten nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse am 22. September darauf, eine "Regierung der nationalen Einheit" zu bilden. Am 29. September wurde Ashraf Ghani als Präsident vereidigt, sein Rivale Abdullah Abdullah wurde Regierungsvorsitzender mit Befugnissen, die denen eines Ministerpräsidenten gleichen. Ende 2014 war die Zusammensetzung des neuen Kabinetts allerdings noch immer nicht bekannt gegeben worden.

Nachdem von internationaler Seite rechtliche Regelungen gefordert worden waren, um die Finanzierung des Terrorismus einzudämmen, verabschiedeten beide Kammern des Parlaments im Juni 2014 ein Gesetz gegen Geldwäsche, das von Präsident Hamid Karzai unterzeichnet wurde.

Am 30. September 2014 unterzeichnete Präsident Ashraf Ghani ein bilaterales Sicherheitsabkommen (Bilateral Security Agreement - BSA) mit den USA und ein Abkommen über die Rechtsstellung der Truppen (Status of Forces Agreement - SOFA) mit der NATO. Darin wurde vereinbart, dass nach dem offiziellen Ende des Kampfeinsatzes im Dezember 2014 weiterhin 9800 US- und 2000 NATO-Soldaten im Land bleiben, deren Aufgabe hauptsächlich darin besteht, die afghanischen Streitkräfte auszubilden und zu beraten.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Allein im ersten Halbjahr 2014 wurden im Zuge des Konflikts 1564 unbeteiligte Zivilpersonen getötet und 3289 verletzt. Für mehr als 70% der Fälle waren die Taliban und andere bewaffnete Gruppen verantwortlich. Mit insgesamt 4853 hatte sich die Zahl der getöteten und verletzten Zivilpersonen gegenüber 2009 verdoppelt und lag etwa 24% höher als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Nach Angaben von UNAMA forderten selbstgebaute Sprengsätze und Selbstmordattentate die meisten Opfer. Mit 474 Toten und 1427 Verletzten waren 39% der zivilen Opfer auf Bodenkämpfe zurückzuführen, eine Steigerung um 89% gegenüber 2013.

Die Zahl der getöteten und verletzten Zivilpersonen war besonders hoch, weil die Taliban und andere bewaffnete Gruppen ihre Anschläge häufig gegen "weiche" Ziele richteten. Im ersten Halbjahr 2014 waren 29% der zivilen Opfer Frauen und Kinder; im Vergleich zu 2013 bedeutete dies einen Anstieg um 24%.

Zwischen Januar und August 2014 verzeichnete die afghanische Nichtregierungsorganisation ANSO (Afghanistan NGO Safety Office), die internationale Organisationen bezüglich der Sicherheitslage berät, 153 Anschläge auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Dabei wurden 34 Menschen getötet und 33 verletzt. Nach Angaben der Regierung wurden die meisten Anschläge von Tätern verübt, die zu aufständischen Gruppen wie den Taliban gehörten.

Menschenrechtsverletzungen afghanischer und internationaler Streitkräfte
Obwohl die Verantwortung für die Sicherheit im Juni 2013 offiziell an die afghanischen Streitkräfte übertragen worden war, führten ISAF und NATO weiterhin nächtliche Razzien sowie Luft- und Bodenangriffe durch, die zahlreiche Zivilpersonen das Leben kosteten. Nach Angaben von UNAMA waren für 9% der zivilen Todesopfer afghanische und internationale Streitkräfte verantwortlich (8% ließen sich den afghanischen Streitkräften zurechnen, 1% den ISAF- und NATO-Truppen). Die meisten Menschen wurden bei Bodenkämpfen getötet oder weil sie ins Kreuzfeuer gerieten. Die Zahl der von internationalen Truppen getöteten Zivilpersonen sank im ersten Halbjahr 2014 von 302 auf 158, vor allem wegen der geringeren Zahl von Luftangriffen. Den afghanischen Streitkräften war ein größerer Teil der zivilen Opfer zuzuschreiben, weil sie ihre militärischen Operationen und Bodenkämpfe in vollem Umfang aufrechterhielten.

Der Tod unbeteiligter Zivilpersonen hatte für die Verantwortlichen nur selten Konsequenzen. Den entsprechenden Untersuchungen mangelte es an Transparenz, und die Opfer sowie ihre Angehörigen hatten kaum Chancen auf Gerechtigkeit.

Im Mai 2014 fällte der britische High Court ein Urteil im Fall von Serdar Mohammed, der 2010 von britischen Streitkräften in Afghanistan festgenommen und mehr als 100 Tage lang festgehalten worden war, bevor man ihn an die afghanischen Behörden übergab. Nach Ansicht des Gerichts war seine Inhaftierung, die über die zulässigen 96 Stunden hinausging, willkürlich und verstieß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach dem Gerichtsurteil forderte die afghanische Regierung von Großbritannien die Überstellung von 23 Häftlingen, die sich im Gewahrsam der britischen Streitkräfte in Helmand befanden.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Allein im ersten Halbjahr 2014 verzeichnete die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission) 4154 Fälle von Gewalt gegen Frauen. Dies bedeutete einen Anstieg von 25% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auch die Zahl der Strafanzeigen nahm zu, es blieb jedoch unklar, ob dies auf einen Anstieg der Delikte zurückzuführen war oder ob Frauen stärker sensibilisiert waren und vermehrt Beschwerdemöglichkeiten in Anspruch nahmen. 2013 hatte ein UN-Bericht festgestellt, dass das Gesetz zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen nur in 17% aller gemeldeten Fälle tatsächlich zur Anwendung kam.

Frauen- und Menschenrechtsgruppen begrüßten die Entscheidung von Präsident Karzai, die vom Parlament verabschiedete Reform der Strafprozessordnung nicht zu unterzeichnen. Sie sah vor, Angehörige eines Angeklagten in einem Strafverfahren nicht mehr als Zeugen zuzulassen. Da die meisten der erfassten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt in der Familie verübt werden, hätte diese Änderung eine erfolgreiche Strafverfolgung de facto verhindert. Opfer von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt sowie Frauen und Mädchen, die von Zwangsverheiratung betroffen waren, hätten nach dieser Regelung kaum eine Chance gehabt, Recht zu bekommen. Die Reduzierung der Frauenquote in den Provinzräten und die Tatsache, dass keine Frau an den Friedensverhandlungen mit den Taliban teilnahm, bedeuteten hingegen einen Rückschritt in Bezug auf Frauenrechte.

Nach einer Statistik des afghanischen Gesundheitsministeriums wurden für das Jahr 2014 offiziell 4466 Selbstmordversuche durch Gifteinnahme und 2301 durch Selbstanzünden erfasst. In 166 Fällen führten die Suizidversuche zum Tod. Als wichtigster Grund für die Selbstmordversuche bei Frauen galt geschlechtsspezifische Gewalt, gefolgt von Traumatisierung und Vertreibung infolge des bewaffneten Konflikts.

Am 30. April 2014 wurde ein Geistlicher in Haft genommen, der in der Provinz Kundus eine zehnjährige Koranschülerin gefesselt und vergewaltigt hatte.

Willkürliche Inhaftierungen sowie Folter und andere Misshandlungen

Wie in den Vorjahren waren der nationale Geheimdienst (National Directorate of Security - NDS) und die Polizei für willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen verantwortlich. Teilweise wurden Häftlinge ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Tatverdächtige erhielten in der Regel kein faires Verfahren und hatten keinen Zugang zu einem Anwalt oder ihren Angehörigen. Dem Personal des NDS wurden weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Misshandlung und Verschwindenlassen vorgeworfen.

Im Haftzentrum Parwan auf dem Gelände des US-Militärstützpunkts Bagram waren Ende 2014 noch mindestens 50 Personen inhaftiert, die keine afghanische Staatsbürgerschaft besaßen. Einige von ihnen waren dort vermutlich bereits seit 2002 inhaftiert. Ihre Namen und mögliche Anklagepunkte wurden nach wie vor geheim gehalten. Es wurde auch nicht bekannt, ob sie Zugang zu einem Rechtsbeistand hatten oder ärztlich versorgt wurden.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalisten und andere Medienschaffende, die auf friedliche Weise ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausübten, wurden 2014 weiterhin angegriffen. Die Regierung sorgte nicht dafür, dass angemessene Untersuchungen und Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die mutmaßlichen Täter eingeleitet wurden.

Die Zahl der Journalisten, die 2014 getötet wurden, lag 50% über der des Vorjahres. Bei den Angriffen auf Journalisten war im ersten Halbjahr 2014 ein Anstieg von 60% gegenüber dem Vorjahreszeitraum festzustellen.

Journalisten wurden aus politischen Gründen von Staatsbediensteten, Soldaten der internationalen Streitkräfte, bewaffneten Gruppen und Anhängern der Präsidentschaftskandidaten bedroht, inhaftiert, mit Schlägen misshandelt oder getötet. Nach Angaben der afghanischen NGO zur Unterstützung der Medien Nai wurden 20 Journalisten angegriffen und sieben getötet. Besonders gefährdet waren Journalisten, die über die Präsidentschaftswahlen berichteten.

Flüchtlinge und Binnenvertriebene

Nach Schätzungen des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) stammten 2013 weltweit die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan. Von den 2,7 Mio. afghanischen Flüchtlingen lebte die überwiegende Mehrheit in den Nachbarländern Iran und Pakistan. Zu Ende März 2014 dokumentierte der UNHCR die Zahl von 659961 afghanischen Binnenvertriebenen, die wegen des bewaffneten Konflikts, der sich verschärfenden Sicherheitslage oder aufgrund von Naturkatastrophen ihre Heimatorte verlassen mussten.

Am 11. Februar 2014 stellte das afghanische Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung ein Strategiepapier zur Lösung der Vertriebenenproblematik vor, das den Begriff Binnenflüchtling definierte und die wichtigsten Aufgaben der Regierung in Bezug auf Soforthilfemaßnahmen, langfristige Unterstützung und den Schutz der Binnenvertriebenen festlegte. Es wurde jedoch befürchtet, dass die Zahl der Vertriebenen nach der vollständigen Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Streitkräfte Ende 2014 zunehmen könnte, da Aufständische um die Vormacht in Gebieten kämpften, die zuvor unter der Kontrolle der internationalen Streitkräfte gestanden hatten.

Die Binnenvertriebenen strömten weiterhin in Ballungszentren wie Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif. Unzureichende und überfüllte Behelfsunterkünfte, mangelnde sanitäre Einrichtungen und harte klimatische Bedingungen führten dazu, dass chronische und ansteckende Krankheiten wie Malaria und Hepatitis zunahmen. Bemühungen, das Polio-Virus durch Impfkampagnen auszurotten, wurden von den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen behindert, sodass fortwährend neue Fälle von Kinderlähmung auftraten.

Todesstrafe

Die Todesstrafe wurde weiterhin verhängt, oft nach unfairen Verfahren.

Am 8. Oktober 2014, weniger als zwei Wochen nach der Amtseinführung von Präsident Ghani, wurden im Kabuler Pul-e-Charkhi-Gefängnis sechs Männer hingerichtet. Fünf von ihnen waren im Zusammenhang mit einer Gruppenvergewaltigung von vier Frauen im Bezirk Paghman schuldig gesprochen worden. Der sechste wurde in einem Verfahren verurteilt, in dem es um mehrere Entführungen, Tötungsdelikte und bewaffnete Raubüberfälle ging. Präsident Karzai hatte die sechs Hinrichtungsbefehle am 28. September unterzeichnet - unmittelbar vor dem Ende seiner Amtszeit. Das Verfahren gegen die fünf Männer war umstritten und wurde von Kritikern als unfair bezeichnet. Während Politik und Öffentlichkeit das Gericht drängten, ein hartes Urteil zu verhängen, erklärten die Angeklagten, sie seien in Polizeigewahrsam durch Folter zu einem "Geständnis" gezwungen worden.

Präsident Ghani ordnete die Überprüfung von fast 400 noch nicht vollstreckten Todesurteilen an.

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