Amnesty International Report 2014/15 - The State of the World's Human Rights - Yemen

Amnesty Report 2015

Jemen

 

 

Regierungstruppen begingen Menschenrechtsverletzungen wie rechtswidrige Tötungen und Verschwindenlassen von Befürwortern der Abspaltung Südjemens. Der erneut aufgeflammte Konflikt zwischen der Regierung und den Huthi-Rebellen im Norden führte ebenfalls zu Verstößen auf beiden Seiten. Noch immer herrschte Straflosigkeit und politische Attentate konnten nicht eingedämmt werden. Die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit kam ebenfalls nur schleppend voran. Sicherheitskräfte lösten friedliche Protestaktionen in Sana'a und Städten im Süden des Landes mit exzessiver Gewalt auf.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde durch ständige Attacken und Übergriffe auf Journalisten und Pressekanäle weiter geschwächt. Frauen waren nach wie vor von Diskriminierung, häuslicher Gewalt und geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht. Bewaffnete oppositionelle Gruppierungen verübten willkürliche Anschläge und begingen Menschenrechtsverstöße. US-Streitkräfte setzten Drohnen für Angriffe auf mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer ein. Dabei kam es zu Toten und Verletzten in der Zivilbevölkerung.

Hintergrund

Der politische Übergangsprozess, der nach den Massenprotesten von 2011 begonnen hatte, wurde fortgesetzt, blieb jedoch gefährdet. Am 26. Februar 2014 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution Nr. 2140, die Sanktionen gegen Personen und Organisationen vorsah, welche den Übergangsprozess behinderten.

Der Ausbruch erneuter Feindseligkeiten zwischen der Regierung und den Huthi, einer bewaffneten zaiditischen Gruppierung, die in den Gouvernements Sa'ada und Amran operiert, stellte eine große Bedrohung des Übergangsprozesses dar. Im September 2014, einen Tag nach der Unterzeichnung einer von den Vereinten Nationen vermittelten Vereinbarung über ein Ende der Kampfhandlungen, brachten Huthi-Kämpfer den Großteil der Hauptstadt Sana'a unter ihre Kontrolle.

Nachdem die Konferenz des Nationalen Dialogs (National Dialogue Conference - NDC) über zehn Monate lang getagt hatte, beendete das Gremium seine Arbeit am 25. Januar 2014. Die Konferenz hatte 565 Vertreter rivalisierender politischer Parteien und Bewegungen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft, Frauen- und Jugendgruppen an den Verhandlungstisch gebracht und über 1800 Empfehlungen erarbeitet. Die Abgeordneten plädierten für mehr gesetzlich garantierten Schutz der Grundrechte und kamen zu dem Schluss, dass Jemen ein Föderalstaat mit einer neuen Verfassung werden solle.

Im Juni 2014 fand die Allgemeine Regelmäßige Überprüfung des Landes durch die Vereinten Nationen statt. Regierungsvertreter erklärten bei dieser Gelegenheit, dass der Jemen dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes und der UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen beitreten werde. Ende 2014 hatte das Parlament noch keine entsprechenden Gesetze verabschiedet, um diese Beitritte rechtskräftig werden zu lassen.

Der Regierung gelang es nicht, die Armee und zwei Geheimdienste - Nationaler und Politischer Sicherheitsdienst - zu reformieren und neu aufzustellen. Beide Organisationen waren an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt und unterstehen nur dem Präsidenten.

Bewaffnete Konflikte

Die Sicherheitslage im Land verschlechterte sich 2014 zusehends. Hohe Regierungsbeamte sowie leitende Armeeangehörige fielen Attentaten zum Opfer, ausländische Staatsangehörige und weitere Personen wurden entführt, und bewaffnete Konflikte flammten immer wieder auf.

Im Norden begannen 2013 in der Stadt Dammaj im Gouvernement Sa'ada bewaffnete Zusammenstöße zwischen Huthis und Anhängern der sunnitischen islamistischen Partei al-Islah sowie der salafistischen Partei al-Rashad. Dabei wurden zahlreiche Menschen getötet und Hunderte verletzt. Nach einem Waffenstillstandsabkommen im Januar 2014 wurden in Dammaj Tausende Unterstützer von al-Rashad aus ihren Häusern vertrieben. Es handelte sich dabei hauptsächlich um die Familien von Studierenden, die am Dar-al-Hadith-Institut für Religion studierten, welches al-Rashad nahesteht.

Trotz des Waffenstillstandsabkommens weiteten sich die Kämpfe nach Süden aus. Mitte 2014 stießen Huthi-Kämpfer mit ihren Gegnern und den jemenitischen Streitkräften zusammen und eroberten den Großteil der Gouvernements Amran, Hajja und al-Dschauf. Im September griffen Huthi-Rebellen Sana'a an und nahmen große Teile der Hauptstadt ein. Mehr als 270 Menschen wurden dabei getötet und Hunderte verletzt. Bewaffnete Huthi-Kämpfer plünderten in der Hauptstadt Armeestützpunkte, Regierungsgebäude, Parteizentralen, Pressebüros und Privatwohnungen von Mitgliedern der Partei al-Islah.

Im November 2014 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, und die Huthi traten der neuen Regierung bei. Dennoch drangen Huthi-Kämpfer weiter nach Süden vor, und es kam zu Zusammenstößen mit den dortigen Armeeeinheiten und Volksgruppen sowie mit Kämpfern mit Verbindungen zur bewaffneten Gruppierung Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP). Daraufhin griff AQAP Sana'a und andere Städte an und tötete und verletzte dabei zahlreiche Zivilpersonen, darunter auch Kinder.

Im Süden kämpften Regierungstruppen gegen AQAP-Kämpfer. AQAP verübte mehrere Selbstmordattentate und weitere Angriffe auf Regierungseinrichtungen. Ein Anschlag auf ein Militärhospital in Sana'a am 5. Dezember 2013 kostete mindestens 57 Menschen das Leben. Unter den Opfern befanden sich Mitarbeiter und Patienten der Klinik. Im Juni 2014 griff AQAP einen Kontrollpunkt der Armee in Schabwa an und tötete acht jemenitische Soldaten und sechs Zivilpersonen. AQAP gab an, die Angriffe als Vergeltungsschlag für die von der jemenitischen Regierung gebilligten Drohnenangriffe der US-Streitkräfte durchgeführt zu haben.

Die jemenitische Armee führte im April 2014 Angriffe auf Stellungen der AQAP in den Gouvernements Abyan und Schabwa durch. Die daraufhin entflammten Kampfhandlungen führten zur Vertreibung von rund 20000 Menschen. Die US-Streitkräfte griffen die AQAP ebenfalls an. Bei Drohnenangriffen auf AQAP-Kämpfer starb Berichten zufolge auch eine unbekannte Zahl von Zivilpersonen, weitere wurden verletzt. Im Dezember endete der Versuch der US-Streitkräfte, den Journalisten Luke Somers aus der Geiselhaft der AQAP zu befreien, tödlich für ihn und eine weitere Geisel.

Ein im August 2014 veröffentlichter Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte stellte fest, dass sowohl die Regierungstruppen als auch bewaffnete oppositionelle Gruppierungen Kindersoldaten rekrutierten und einsetzten, obwohl es Bestrebungen gab, diese Praxis zu verbieten.

Politisch motivierte Tötungen

Attentate auf Persönlichkeiten aus der Politik und auf Sicherheitsbeamte wurden weiterhin verübt. Am 21. Januar 2014 wurde Ahmed Sharaf el-Din, einer der bekanntesten Huthi-Anführer, auf seinem Weg zu einer Sitzung der NDC in Sana'a ermordet. Im November wurde Dr. Mohammad Abdul-Malik al-Mutawwakkil, ein bekannter Politiker und Hochschullehrer, in Sana'a von vermummten Männern erschossen. Zwischen Mitte 2012 und Ende 2014 fielen über 100 Militär- und Sicherheitsbeamte Attentaten zum Opfer. Zahlreiche weitere Personen überlebten Attentatsversuche. Die Verantwortlichen für diese Taten wurden nicht ermittelt. Informationen über die strafrechtliche Verfolgung von mutmaßlichen Tätern liegen nicht vor.

Exzessive Gewaltanwendung

Am 9. September 2014 eröffneten Armeeangehörige in der Hauptstadt Sana'a das Feuer auf eine Gruppe von demonstrierenden Huthis, die einen Regierungswechsel forderten. Mindestens sieben Personen wurden getötet und einige weitere verletzt. Zwei Tage zuvor hatten Sicherheitskräfte auf der Straße zum Flughafen in Sana'a auf Huthi-Demonstrierende geschossen. Mindestens zwei der friedlich Protestierenden wurden getötet.

Die Behörden kündigten an, einige Fälle von exzessiver Gewalt untersuchen zu wollen. Diese Maßnahme betraf die Auflösung von Demonstrationen im Süden des Landes (siehe unten) sowie am 9. Juni 2013 in Sana'a, als mindestens 13 Demonstrierende starben und über 50 Personen Verletzungen davontrugen. Das Ergebnis der Untersuchungen war Ende 2014 noch nicht bekannt.

Unterdrückung Andersdenkender - Südjemen

Die Stadt Aden und deren Umgebung war weiterhin Schauplatz schwerer Unruhen. Etliche Splittergruppen der Bewegung des Südens (Al-Hirak al-Janoubi) nahmen an den Sitzungen der NDC teil. Demonstrierende in Aden und anderen Städten forderten weiterhin die Abspaltung des Südens und organisierten Streiks und weitere Protestaktionen, von denen einige von der Armee mit exzessiver - oft auch rechtswidriger tödlicher - Gewalt aufgelöst wurden. Am 21. Februar 2014 gingen Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende in al-Mukallah und Aden vor. Zwei Personen starben, über 20 Protestierende wurden verletzt.

Am 27. Dezember 2013 tötete die 33. Panzerbrigade der Armee zahlreiche friedliche Trauernde in al-Sanah im Gouvernement al-Dale'. Der Präsident ordnete daraufhin eine offizielle Untersuchung an, deren Ergebnisse bis Ende 2014 jedoch noch nicht veröffentlicht wurden. Dieselbe Panzerbrigade tötete bzw. verletzte Berichten zufolge Anfang 2014 bei offenbar willkürlichem Granatfeuer und anderen Angriffen weitere Zivilpersonen. Am 16. Januar kamen bei solch einem Anschlag zehn Zivilpersonen ums Leben, darunter zwei Kinder, 20 Personen wurden verletzt. Die Aktion war offensichtlich ein Vergeltungsakt für einen Angriff der Bewegung des Südens auf einen Armeekontrollpunkt in al-Dale'.

Sicherheitskräfte nahmen in Aden und anderen Städten Mitglieder der Bewegung des Südens fest. Einige von ihnen fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Am 31. August wurde Khaled al-Junaidi von unbekannten bewaffneten Männern geschlagen und dann in ein Auto gezerrt. Augenzeugen gingen davon aus, dass es sich um Sicherheitskräfte gehandelt habe. Er war seitdem "verschwunden". Die Behörden bestätigten seine Inhaftierung nicht, und seine Familie konnte nichts über sein Schicksal und seinen Aufenthaltsort herausfinden. Zuvor war er bereits mindestens viermal von Sicherheitskräften inhaftiert worden. Im November 2013 wurde er drei Wochen lang in Einzelhaft gehalten. Am 27. November 2014 wurde Khaled al-Junaidi freigelassen, dann aber am 15. Dezember erschossen, offenbar von einem Angehörigen der Sicherheitskräfte.

Gesetzliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Im November 2013 wurde das Justizgesetz geändert. Befugnisse, die vorher beim Justizministerium gelegen hatten, wurden nun an den Obersten Justizrat übertragen. Dies trug zu mehr Unabhängigkeit des Justizwesens bei. Neue Maßnahmen, die im Jahr 2014 ergriffen wurden, beinhalteten einen Gesetzentwurf zur Bildung einer nationalen Menschenrechtskommission sowie einen Vorschlag für ein Kinderschutzgesetz.

Letzteres würde, neben anderen Reformen, das Problem der Kinderehen zum Thema machen, indem das Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre festgesetzt würde. Weiterhin könnte die Anwendung der Todesstrafe für Jugendliche unter 18 Jahren verboten und weibliche Genitalverstümmelung zur Straftat erklärt werden. Beide Gesetzentwürfe waren Ende 2014 noch nicht in Kraft getreten.

Am 8. März 2014 erließ der Präsident die Präsidialdekrete 26/2014 und 27/2014 zur Bildung einer Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung und ernannte deren 17 Mitglieder. Die Dekrete räumen der Kommission ein Jahr Zeit für den Entwurf einer Verfassung ein. Danach sollen öffentliche Konsultationen und ein Volksentscheid erfolgen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalisten und andere Medienschaffende wurden von Regierungskräften und unbekannten bewaffneten Männern bedroht und tätlich angegriffen. Am 11. Juni 2014 stürmte die Garde des Präsidenten offenbar ohne Genehmigung der Staatsanwaltschaft den Satelliten-Fernsehkanal Yemen Today und erzwang die Einstellung der Übertragungen. Die Tageszeitung Yemen Today durfte nicht mehr erscheinen. Nach Angaben ortsansässiger Organisationen, die sich für Pressefreiheit einsetzen, hatten diese im ersten Halbjahr 2014 rund 146 Vorfälle von Bedrohung, Angriffen und anderen Übergriffen auf Journalisten dokumentiert. Bewaffnete Huthi überfielen im September eine Reihe von Presseeinrichtungen in Sana'a und zwangen sie zur Schließung.

Straflosigkeit

Die Behörden machten nur wenige Fortschritte bei der Untersuchung der weitreichenden Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit.

Die Regierung unternahm nichts, um das Schicksal Hunderter politischer Aktivisten und anderer Personen aufzuklären, die in der jahrzehntelangen Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh "verschwunden" waren. Die Verantwortlichen wurden noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl einige Personen, die vor Jahrzehnten "verschwunden" waren, wieder auftauchten.

Übergangsjustiz

Nach zahlreichen Gesetzentwürfen, die jedoch bei weitem keine Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für Verbrechen in der Vergangenheit sichergestellt hätten, wurde dem Kabinett im Mai 2014 ein Gesetz zur Übergangsjustiz und nationalen Versöhnung zur Genehmigung vorgelegt, welches auf Veranlassung der NDC zustande gekommen war. Bis Jahresende 2014 war es jedoch noch nicht in Kraft getreten. Gleichermaßen hatte der Präsident im September 2012 die Bildung einer Untersuchungskommission angekündigt, welche Menschenrechtsverletzungen aufklären sollte, die während der Massenproteste im Jahr 2011 begangen worden waren. Die Ernennung der Mitglieder dieses Gremiums stand Ende 2014 noch aus.

Zwei weitere Kommissionen, deren Gründung der Präsident 2013 verkündet hatte, wurden mit Klagen überhäuft. Bei einer der Kommissionen, die sich mit dem Problem der Grundenteignung in Südjemen in den 1990er Jahren befasste, gingen bis Mai über 100000 Klagen ein. Die zweite Kommission, die geschaffen worden war, um den Entlassungen von Südjemeniten aus dem Staatsdienst nachzugehen, registrierte im Mai 93000 Klagen. Keine der beiden Kommissionen verfügte allerdings über eine ausreichende Ausstattung, um alle eingegangenen Anträge zur Zufriedenheit bearbeiten zu können.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen wurden weiterhin vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert. Dies betraf vor allem ihre Rechte bei Eheschließungen, Scheidungen, dem Sorgerecht für die Kinder und Erbschaftsangelegenheiten. Häusliche Gewalt und andere geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen blieben an der Tagesordnung. Es gab weiterhin Berichte über Kinderehen und Zwangsverheiratung. In manchen Gegenden war weibliche Genitalverstümmelung noch immer weitverbreitete Praxis.

Die NDC empfahl, dass Universitäten und andere Hochschulen 30% der Studienplätze für weibliche Studierende reservieren sollten. Außerdem solle die neue Verfassung eine Frauenquote festschreiben und sicherstellen, dass 30% der Stellen in Regierungseinrichtungen mit Frauen besetzt werden.

Rechte von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten

2014 kamen sehr viele Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten in den Jemen, die auf der Suche nach Sicherheit, Schutz und besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten waren. Viele der Flüchtlinge kamen mit dem Schiff aus Äthiopien und Somalia. Transit- und Erstaufnahmeeinrichtungen wurden ausschließlich vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) und dessen Partnern vor Ort geleitet. Die Regierung übernahm dabei keine aktive Rolle.

Todesstrafe

Die Todesstrafe blieb für eine große Anzahl von Straftaten in Kraft. Gerichte verurteilten weiterhin Personen zum Tode, und es wurden Hinrichtungen vollzogen. Unter den Gefangenen im Todestrakt befanden sich auch zahlreiche Straftäter, die für Verbrechen verurteilt worden waren, die sie vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres begangen haben.

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