Amnesty International Report 2010 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte

Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik
Staatsoberhaupt: Zine el 'Abidine Ben 'Ali
Regierungschef: Mohamed Ghannouchi
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 10,3 Mio.
Lebenserwartung: 73,8 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 24/21 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 77,7%

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren auch 2009 stark eingeschränkt. Regierungskritiker wie Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Studentenführer wurden schikaniert, bedroht und strafrechtlich verfolgt. Hunderte Menschen wurden in unfairen Gerichtsverfahren wegen Anklagen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten verurteilt. Es gab Berichte über Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen, welche unter den harten Bedingungen in den Gefängnissen litten. Wenigstens zwei Todesurteile ergingen im Berichtszeitraum. Ein Hinrichtungsmoratorium hatte jedoch weiterhin Bestand.

Hintergrund

Im Oktober wurde Präsident Zine el 'Abidine Ben 'Ali zum fünften Mal in Folge für eine weitere Amtszeit wiedergewählt. Politische Gegner des Präsidenten sahen sich Restriktionen ausgesetzt, abweichende Meinungen wurden unterdrückt.

Freilassungen von politischen Gefangenen

Im November wurden 68 politische Gefangene, darunter auch gewaltlose politische Gefangene, aus Anlass des 22. Jahrestages der Machtübernahme von Präsident Ben 'Ali unter Auflagen aus der Haft entlassen. Ehemalige politische Gefangene werden meist unter "behördliche Kontrolle" gestellt und dürfen ihren Wohnort nicht verlassen. Sie müssen sich in regelmäßigen Abständen bei den Polizeiwachen melden und bekommen weder Reisepässe noch andere Ausweispapiere.

  • Unter den Freigelassenen befanden sich Adnan Hajji und weitere 17 Personen, die in Berufungsverfahren zu bis zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden waren. Sie hatten 2008 gegen zunehmende Arbeitslosigkeit, Armut und steigende Lebenshaltungskosten in der Region Gafsa protestiert. Ihre Prozesse entsprachen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Die Gerichte nahmen weder die Folter- und Misshandlungsvorwürfe der Gefangenen zur Kenntnis, noch leiteten sie Untersuchungen ein.
    Die Präsidialamnestie kam nicht für Gefangene zur Anwendung, die in Abwesenheit verurteilt worden waren und noch nicht in Gewahrsam waren.
  • Der Fernsehjournalist Fahem Boukadous, der in Abwesenheit zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, weil er über die Unruhen in Gafsa berichtet hatte, legte im November 2009 Rechtsmittel gegen den Schuldspruch ein. Er blieb auf freiem Fuß.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit

Personen, die Kritik an der Regierung übten oder Korruption und Menschenrechtsverletzungen anprangerten, riskierten, von den Staatssicherheitskräften schikaniert, eingeschüchtert oder tätlich angegriffen zu werden. Sie wurden wegen konstruierter Beschuldigungen strafrechtlich verfolgt und inhaftiert oder waren Opfer von Verleumdungskampagnen regierungstreuer Medien. Die Verantwortlichen gingen straffrei aus. Es gab kaum Untersuchungen solcher Vorwürfe. Die Kritiker standen unter unverhohlener strenger Überwachung. Ihre Telefonleitungen und Internetzugänge wurden unterbrochen oder gekappt. Die Behörden blockierten außerdem Internetseiten und überwachten streng alle Medien.

Am 30. Januar 2009 verboten die Behörden den unabhängigen Radiosender Radio Kalima. Vier Tage später nahm der Sender aus dem Ausland über Satellit seinen Betrieb wieder auf. Die Polizei blockierte die Geschäftsräume des Senders, schikanierte das Personal und stellte die Chefredakteurin Sihem Bensedrine unter Bewachung, weil sie angeblich eine Sendefrequenz ohne Lizenz benutzt hatte.

  • Am 4. April 2009 bestätigte das Berufungsgericht in Tunis die einjährige Haftstrafe gegen den gewaltlosen politischen Gefangenen Sadok Chourou. Ihm war zur Last gelegt worden, "eine verbotene Organisation zu unterhalten". In Medieninterviews hatte er die politische Situation in Tunesien kommentiert und gefordert, dass Ennahda, eine verbotene islamistische Organisation, die Erlaubnis erhält, ihre politische Arbeit fortzuführen. Er war im November 2008 unter Auflagen freigelassen worden, nachdem er 18 Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Nach seiner erneuten Verhaftung wurde seine vorläufige Freilassung zurückgenommen. Er muss nun das letzte Jahr seiner ursprünglichen Strafe sowie die 2009 verhängte einjährige Haftstrafe verbüßen.
  • Im August 2009 wurden die Vorstandsmitglieder der nationalen tunesischen Journalistengewerkschaft (Syndicat national des journalistes tunisiens) ihres Amts enthoben. Zuvor hatte die Gewerkschaft einen Bericht über die unzureichende Pressefreiheit in Tunesien veröffentlicht. Regierungstreue Mitglieder der Gewerkschaft beriefen eine Sonderversammlung ein und wählten neue Vorstandsmitglieder. Der neue Vorstand erhielt daraufhin einen Gerichtsbescheid, wonach die entlassenen Vorstandsmitglieder unverzüglich die Geschäftsräume der Gewerkschaft zu verlassen hätten.
  • Der Sprecher der nicht zugelassenen tunesischen kommunistischen Arbeiterpartei (Parti communiste des ouvriers tunisiens), Hamma Hammami, wurde am 29. September 2009 auf dem Flughafen von Tunis von Männern - wahrscheinlich Polizisten in Zivilkleidung - zusammengeschlagen. Er war gerade aus Frankreich zurückgekommen, wo er sich öffentlich kritisch über die Wahlen, Präsident Ben 'Ali und die Korruption in Tunesien geäußert hatte.
  • Im November 2009 wurde der Journalist Taoufik Ben Brik wegen politisch motivierter Anklagen in einem unfairen Gerichtsverfahren zu sechs Monaten Haft verurteilt.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger wurden von den Behörden schikaniert, eingeschüchtert und tätlich angegriffen. Sie standen unter ständiger strenger Überwachung. Oft wurden sie von staatlichen Sicherheitskräften gewaltsam daran gehindert, an Treffen oder Versammlungen teilzunehmen, in denen Menschenrechtsfragen diskutiert werden sollten. Die Behörden versuchten weiterhin, die legale Registrierung von Menschenrechtsorganisationen zu verhindern, ihre Aktivitäten zu erschweren und einzuschränken und hielten einige der wenigen zugelassenen Organisationen davon ab, öffentliche oder andere Versammlungen abzuhalten.

  • Der Menschenrechtsanwalt Samir Ben Amor erhielt von August 2009 an keine Erlaubnis mehr, seine inhaftierten Mandanten zu besuchen. Die Behörden nannten keine Gründe für diese Entscheidung. Ben Amor vertritt die Fälle vieler des Terrorismus verdächtigter Personen.
  • Im Oktober 2009 wurde das Auto des Anwalts und Menschenrechtsverteidigers Abderraouf Ayadi von Unbekannten, wahrscheinlich aber von Sicherheitsbeamten, mit einer gefährlichen Substanz übergossen und beschädigt. Dies geschah, als der Anwalt gerade Hamma Hammami und die Menschenrechtsanwältin Radhia Nasraoui sowie deren gemeinsame Tochter in seinem Auto mitnahm. Das Haus der Eheleute Hammami und Nasraoui wurde im Oktober unter strenge polizeiliche Bewachung gestellt. Das Paar musste sich bei der Kriminalpolizei melden und wurde mit nicht genauer spezifizierten Vorwürfen konfrontiert. Beide legten formell Beschwerde ein, der jedoch offensichtlich nicht nachgegangen wurde.
  • Im Dezember 2009 verurteilte ein Gericht den Menschenrechtsverteidiger Zouheir Makhlouf in einem unfairen Verfahren zu drei Monaten Haft und einer hohen Geldstrafe. Der Menschenrechtler hatte auf einer Internetseite eines sozialen Netzwerks ein Video veröffentlicht, in dem Umweltverschmutzung, fehlende Infrastruktur und mangelnde öffentliche Leistungen in einem Industriegebiet der Stadt Nabeul angeprangert wurden.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im August änderte die Regierung das Antiterrorgesetz aus dem Jahr 2003 mit dem Ziel, die Gesetzgebung gegen Geldwäsche zu verstärken. Andere Regelungen wurden abgeschafft, nach denen bisher die Identität der Richter, Staatsanwälte und der ermittelnden Polizeibeamten in Fällen von Antiterrormaßnahmen geheim bleiben musste.
Personen, die verdächtigt wurden, an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen zu sein, wurden weiterhin festgenommen oder strafrechtlich verfolgt. In den meisten Fällen saßen die Häftlinge ohne Anklage oder Gerichtsverfahren und ohne Kontakt zur Außenwelt über die gesetzlich zulässige Zeit von sechs Tagen hinaus in Haft. Ihre Familien und Rechtsanwälte wurden über ihren Aufenthaltsort nicht informiert. Das Verhaftungsdatum wurde gefälscht, um so die tatsächliche Dauer ihrer Haft zu verschleiern.

Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Antiterrorgesetzgebung verliefen unfair. Die Angeklagten erhielten keinen sofortigen Zugang zu einem Rechtsbeistand oder hatten nicht genügend Zeit, ihren Anwalt zu benachrichtigen und ihre Verteidigung vorzubereiten. "Geständnisse", die Berichten zufolge unter Folter zustande gekommen waren, wurden vor Gericht ohne Rückfragen oder weitere Ermittlungen als Beweismaterial zugelassen. Einige Angeklagte mussten sich dem Vernehmen nach zweimal für denselben Tatbestand vor Gericht verantworten und wurden erneut verurteilt.

Mindestens vier Tunesier wurden wegen Terrorismusverdachts von anderen Staaten nach Tunesien ausgeliefert, obwohl es Anlass zur Sorge gab, dass sie dort gefoltert oder misshandelt werden könnten oder ein unfaires Gerichtsverfahren erhielten.

  • Im April 2009 lieferten die italienischen Behörden Mehdi Ben Mohamed Khalaifia nach Tunesien aus. Er war zuvor in Abwesenheit im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Sofort nach seiner Ankunft wurde er festgenommen und zwölf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, also zweimal so lange wie gesetzlich erlaubt. Er gab an, während seiner Haft bei Verhören geschlagen, getreten und geohrfeigt worden zu sein. Außerdem hätte man ihn in einer schmerzhaften verdrehten Stellung aufgehängt und ihm mit Vergewaltigung gedroht. Er legte Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Im September wurde sein Strafmaß auf zwei Jahre reduziert.
  • Sami Ben Khemais Essid war 2008 von den italienischen Behörden nach Tunesien abgeschoben worden. Er war bereits zuvor von Zivil- als auch Militärgerichten zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Jeweils im Januar und im Juni überstellte ihn das Gefängnis an das Innenministerium, wo er verhört und nach seinen Angaben gefoltert wurde. Neue Anklagen wurden gegen ihn erhoben, und er erhielt keinen Zugang zu seinem Anwalt.
    < Die Behörden leiteten im Fall des "Verschwindenlassens" von Abbes Mlouhi keine Ermittlungen ein. Vor seiner Verhaftung im Jahr 2005 war Mlouhi mehrere Male im Innenministerium wegen seiner Mitgliedschaft bei al-Tabligh wa Daaoua, einer islamischen Religionsgemeinschaft, verhört worden.

Folter und andere Misshandlungen

2009 gingen erneut Meldungen über Folterungen und andere Misshandlungen auf Polizeiwachen und in Haftzentren des Staatssicherheitsdienstes des Innenministeriums ein. Viele Gefangene wurden ohne Kontakt zur Außenwelt weit über die gesetzlich festgelegte Höchstdauer hinaus festgehalten. Das Verhaftungsdatum wurde von der Polizei gefälscht, um diese Praxis zu verschleiern. Gefangene ohne Kontakt zur Außenwelt waren besonders gefährdet, gefoltert oder misshandelt zu werden. Die Gerichte nahmen Foltervorwürfe seitens der Angeklagten routinemäßig nicht zur Kenntnis und verurteilten sie auf der Grundlage von "Geständnissen", die dem Vernehmen nach unter Folter zustande gekommen waren. Es gibt keine Hinweise auf Untersuchungen von Foltervorwürfen nach entsprechenden Beschwerden. Die Sicherheitskräfte konnten nach wie vor straffrei operieren.

  • Ramzi Romdhani verbüßt eine Haftstrafe von insgesamt 29 Jahren. Er war 2008 in neun verschiedenen Fällen für schuldig befunden und auf Grundlage des Antiterrorgesetzes von 2003 verurteilt worden. Romdhani gab an, er sei im April vom Wachpersonal des Mornaguia-Gefängnisses gefoltert und misshandelt worden. Sein Rechtsanwalt reichte eine Beschwerde ein, aber die Behörden leiteten keinerlei Ermittlungen ein. Im August wurde Romdhani an die Staatssicherheitsbehörde übergeben, wo er Berichten zufolge von Sicherheitsbeamten gefoltert wurde. Sie verabreichten ihm Elektroschocks, hängten ihn an den Gliedmaßen sowie für einige Sekunden mit einer Schlinge um den Hals auf und bedrohten ihn mit dem Tod. Im Dezember wurde er seinen Angaben zufolge erneut zwei Tage lang von Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes gefoltert und trug schwere Verletzungen am Auge davon.

Todesstrafe

Gegen mindestens zwei Personen ergingen Todesurteile. Es gab jedoch 2009 keine Berichte über Hinrichtungen. Die Regierung hält seit 1991 ein De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht. Trotzdem befinden sich in den Todeszellen noch immer Gefangene, denen jeglicher Kontakt mit ihren Familien oder ihren Rechtsanwälten untersagt bleibt.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Eine Delegation von Amnesty International stattete Tunesien im September und Oktober Besuche ab und traf mit Menschenrechtsverteidigern und Journalisten sowie mit Opfern und deren Familien zusammen.

Behind Tunisia's "economic miracle": inequality and criminalization of protest (MDE 30/003/2009)

Tunisia: Continuing abuses in the name of security (MDE 30/010/2009)

Tunisia: Routine muzzling of dissent mars upcoming presidential elections (MDE 30/013/2009)

© Amnesty International

Associated documents