Document #1213677
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Islamische Republik Afghanistan
Regierungschef: Hamid Karzai
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 29,1 Mio.
Lebenserwartung: 44,6 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 233/238 pro 1000 Lebendgeburten
Bewaffnete Auseinandersetzungen und damit verbundene Menschenrechtsverletzungen nahmen im gesamten Land zu, auch in den bislang als relativ sicher geltenden Gebieten im Norden und Westen. Nach Angaben der beratenden Organisation Afghanistan NGO Security Office (ANSO) wurden 2010 2428 Zivilpersonen im Zuge des Konflikts getötet; für die meisten Fälle wurden die Taliban und andere bewaffnete oppositionelle Gruppen verantwortlich gemacht. Die Zahl der Zivilpersonen, die von Taliban ermordet oder hingerichtet wurden, weil sie angeblich die Regierung "unterstützt" oder für die internationalen Streitkräfte "spioniert" hatten, nahm deutlich zu. Die zunehmende Gewalt der Aufständischen führte dazu, dass Menschenrechtsverstöße weit verbreitet waren. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Konflikts und in Anbetracht der Tatsache, dass es in Afghanistan kein funktionierendes Justizsystem gab, forderte Amnesty International den Internationalen Strafgerichtshof auf, Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzunehmen. Die internationale Gemeinschaft diskutierte vermehrt darüber, ihre militärische Präsenz in Afghanistan zu beenden. In der afghanischen Bevölkerung wurde zunehmend bezweifelt, dass es der Regierung und den internationalen Sicherheitskräften gelingen würde, die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten und grundlegende Versorgungsleistungen sicherzustellen. In den meisten ländlichen Gebieten hatten die Menschen nach wie vor praktisch keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen und humanitären Hilfsleistungen. Dies betraf vor allem die Regionen im Süden und Südosten des Landes, die am stärksten von dem bewaffneten Konflikt betroffen waren.
Im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen vom 18. September wurden annähernd 6000 Beschwerden registriert. Dazu zählten Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug, Angriffe auf Kandidaten sowie Einschüchterungen und Angriffe vonseiten der Taliban gegenüber Wählern, Wahlhelfern und Kandidaten.
Im Nachgang zur Internationalen Afghanistan-Konferenz in London am 28. Januar 2010 und der Nationalen Ratsversammlung ("Friedens-Jirga") in Kabul vom 2. bis 4. Juni richtete Präsident Hamid Karzai im September einen aus 68 Mitgliedern bestehenden Friedensrat ein, der Friedensverhandlungen mit den aufständischen Gruppen aufnehmen soll. Zu den Mitgliedern des Friedensrats zählten auch Personen, denen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen vorgeworfen werden. Für das Gremium wurden nur zehn Frauen nominiert, obwohl auf nationaler wie internationaler Ebene nachdrücklich gefordert worden war, dass Frauen in allen Verhandlungsgremien und Diskussionsrunden angemessen vertreten sein müssten.
Zivilgesellschaftliche Gruppen, insbesondere Frauenorganisationen, Kriegsopfer und Personen, die unter den Taliban gelitten hatten, forderten die Regierung auf, sie solle sicherstellen, dass der Schutz und die Förderung der Menschenrechte nicht geopfert würden, um die Verhandlungen mit den Taliban und anderen aufständischen Gruppen zu erleichtern.
Im Januar 2010 wurde das bereits im März 2007 vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Stabilität und Versöhnung offiziell verkündet. Dem Gesetz zufolge genießen Personen, die in den vergangenen 30 Jahren schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen haben, Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung.
9 Mio. Afghanen, d.h. mehr als ein Drittel der Bevölkerung, lebten von weniger als 25 US-Dollar im Monat, die notwendig waren, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nach Angaben von UNICEF war die Müttersterblichkeit mit 1800 Todesfällen pro 100000 Lebendgeburten weiterhin die zweithöchste weltweit. Schätzungen zufolge sterben pro Jahr mehr als 500000 Frauen bei oder unmittelbar nach einer Geburt.
Die Taliban und andere bewaffnete Gruppen - regierungsfeindliche, aber auch solche, die angeblich die Regierung unterstützten - begingen 2010 Menschenrechtsverstöße und schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts, indem sie gezielt Zivilpersonen ins Visier nahmen, sie entführten, wahllos angriffen und rechtswidrig töteten. Nach Angaben von ANSO waren die Taliban und andere bewaffnete oppositionelle Gruppen 2010 für 2027 Todesopfer verantwortlich, über ein Viertel mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Zivilpersonen, die von bewaffneten Gruppen ermordet und hingerichtet wurden, verdoppelte sich nahezu. Unter den Opfern waren auch Kinder, die öffentlich hingerichtet wurden. Man warf den Opfern vor, sie hätten die Regierung "unterstützt" oder für die internationalen Streitkräfte "spioniert".
Selbstmordanschläge
Entführungen
Widerrechtliche Tötungen
Nach Angaben von ANSO wurden im Berichtsjahr 401 Zivilpersonen von afghanischen und internationalen Streitkräften getötet - 14% weniger als 2009. Luftangriffe hatten nach wie vor die schlimmsten Auswirkungen: Sie waren für 53% der zivilen Todesopfer verantwortlich, die den internationalen und afghanischen Truppen zugeschrieben wurden. 37% der Todesfälle ereigneten sich bei Einsätzen der Bodentruppen, einschließlich nächtlicher Angriffe.
Die Internationale Schutztruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force - ISAF) gab im März und im August 2010 taktische Leitlinien heraus, um die Auswirkungen der Kämpfe auf die Zivilbevölkerung zu vermindern. Die Richtlinien vom März enthielten Regelungen für nächtliche Razzien, die vom August bezogen sich auf Luftangriffe und den wahllosen Beschuss bewohnter Gebiete. Gleichwohl nahmen die nächtlichen Razzien 2010 zu, vor allem in den östlichen und südlichen Landesteilen. Dabei kamen häufig Zivilpersonen ums Leben.
Weder die afghanische Justiz noch die Regierungen der Staaten, die ISAF-Kontingente stellten, zeigten sich willens oder in der Lage, die Verantwortlichkeiten zu klären und den Opfern eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Auch 2010 waren afghanische Journalisten, die sich kritisch äußerten, von Schikanen, Gewalt und Zensur bedroht. Die Behörden, insbesondere der Geheimdienst NDS (National Directorate of Security) nahmen Journalisten willkürlich in Haft. Die Generalstaatsanwaltschaft schloss ohne rechtliche Grundlage Radiosender und zensierte andere Medien. Als Begründung wurde zumeist der vage und unklar definierte Vorwurf anti-islamischer Berichterstattung angeführt.
Die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte nahmen weiterhin Journalisten ins Visier und verhinderten nahezu jegliche Berichterstattung aus Gebieten, die unter ihrer Kontrolle standen.
Personen, die zu einer anderen Religion konvertierten, wurden von der afghanischen Justiz verfolgt. Drei Afghanen, die zum Christentum übergetreten waren, wurden vom NDS inhaftiert. NGOs mit religiösem Hintergrund mussten ihre Arbeit vorübergehend einstellen, weil man ihnen vorwarf, sie würden missionieren.
Frauen und Mädchen litten nach wie vor unter Gewalt und Diskriminierung, die im ganzen Land alltäglich waren und sowohl das häusliche Umfeld als auch den öffentlichen Raum betrafen. Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission) dokumentierte 1891 Fälle von Gewalt gegen Frauen, die tatsächliche Anzahl könnte jedoch höher liegen.
Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) wurden 2010 mindestens 102658 Afghanen durch den bewaffneten Konflikt dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Die Zahl der Binnenflüchtlinge stieg damit auf 351907 an.
Laut UNHCR lebten 2,3 Mio. Afghanen nach wie vor als Flüchtlinge im Ausland, die meisten von ihnen in den Nachbarländern Iran und Pakistan. Wegen der kritischen Sicherheitslage und der mangelhaften Infrastruktur sowie fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten und der schlechten Versorgungssituation vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich wagten 2010 nur wenige Menschen die Rückkehr in die Heimat. Die meisten Binnenflüchtlinge lebten in informellen Siedlungen am Stadtrand ohne grundlegende Versorgungseinrichtungen und waren ständig von erneuter Vertreibung bedroht.
Auch 2010 stand das offizielle Justizsystem nur den wenigsten Bürgern offen. Weil sie Korruption, Ineffizienz und hohe Kosten befürchteten, griffen viele Menschen auf traditionelle Methoden der Streitschlichtung zurück. Andere wandten sich auf der Suche nach "Gerechtigkeit" an die Taliban-Justiz, die ohne die grundlegendsten Garantien für ein rechtmäßiges Verfahren und Rechtsstaatlichkeit ausgeübt wurde, grausame Strafen verhängte und Frauen durchweg diskriminierte.
Die Regierung begann damit, die Zahl der Polizisten von 96800 auf 109000 aufzustocken, und ergriff Maßnahmen, um die Arbeit der Polizei auf lokaler Ebene zu verbessern. Dennoch waren Vorwürfe weit verbreitet, die afghanische Polizei sei an illegalen Aktivitäten beteiligt, wie z.B. Schmuggel, Entführungen und Erpressungen an Kontrollpunkten.
In Ermangelung eines funktionierenden Justizsystems, das die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aller beteiligten Konfliktparteien hätte zur Verantwortung ziehen können, drängte Amnesty International bei der afghanischen Regierung darauf, den Internationalen Strafgerichtshof einzuschalten, um entsprechenden Vorwürfen nachzugehen.
2010 wurden mindestens 100 Menschen zum Tode verurteilt. Der Oberste Gerichtshof bestätigte diese Urteile. Die Entscheidung des Präsidenten über ihre Gnadengesuche stand noch aus. Am 24. Oktober 2010 ordnete Präsident Karzai eine richterliche Überprüfung aller Fälle an, in denen die Todesstrafe verhängt worden war.
Delegierte von Amnesty International besuchten Afghanistan im Februar und Juli.
Afghanistan: Human rights must be guaranteed during reconciliation talks with the Taleban (ASA 11/003/2010)
Open letter to delegates of the International Conference on Afghanistan, Kabul, 20 July 2010 (ASA 11/009/2010)
Afghan civilians at risk during NATO offensive against Taleban, 17 February 2010
Afghan women human rights defenders tell of intimidation and attacks, 8 March 2010
Afghanistan leak exposes NATO's incoherent civilian casualty policy, 25 July 2010
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)