Document #1199449
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Bundesrepublik Nigeria
Staats- und Regierungschef: Goodluck Jonathan
Gewalt und Unsicherheit nahmen 2012 zu, mindestens 1000 Menschen wurden bei Angriffen der islamistischen Gruppierung Boko Haram in Zentral- und Nordnigeria getötet. Die Polizei und Soldaten führten straffrei rechtswidrige Tötungen durch. Tausende Menschen im ganzen Land wurden aus ihren Häusern vertrieben. Rechtswidrige Inhaftierungen und willkürliche Festnahmen waren an der Tagesordnung.
Im Januar 2012 riefen der nigerianische Gewerkschaftsverband Nigeria Labour Congress, weitere Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen aus Protest gegen die angekündigten Kürzungen der Benzinsubventionen einen landesweiten Streik aus. Die überwiegend friedlichen Protestveranstaltungen begannen am 2. Januar und fanden unter Beteiligung von Zehntausenden Menschen in verschiedenen Bundesstaaten statt. In mehreren Fällen schoss die Polizei auf Protestierende, und in den Bundesstaaten Kaduna, Kano und Lagos starben mindestens drei Personen und 25 wurden verletzt. Im Januar soll im Zusammenhang mit dem Einsatz von Gewalt ein Polizeibeamter festgenommen und inhaftiert worden sein, doch bis Ende des Jahres war nichts über die Einleitung weiterer Schritte gegen ihn bekannt.
Am 20. Januar starben mindestens 186 Menschen in der Stadt Kano, als Mitglieder von Boko Haram an acht verschiedenen Orten Sicherheitskräfte angriffen. Die Bombenanschläge zogen einen mehrere Stunden anhaltenden Schusswechsel zwischen Boko Haram und den Sicherheitskräften nach sich. Unter den Getöteten befanden sich Polizisten, ihre Angehörigen und Anwohner. Auch ein Journalist des neuen Nachrichtensenders Channels, Enenche Akogwu, wurde dabei erschossen.
Im selben Monat rief Präsident Jonathan in 15 Kommunen in vier Bundesstaaten den Ausnahmezustand aus, der nach sechs Monaten auslief.
Im Nigerdelta kam es erneut zu Spannungen, als ehemalige Mitglieder der bewaffneten Bewegung für die Emanzipierung des Nigerdeltas (Movement for the Emancipation of the Niger Delta - MEND) angaben, sie erhielten ihre monatlichen "Amnestie"-Zahlungen nicht, die Teil einer Vereinbarung mit der Regierung sind. Die Gruppe gab außerdem an, sie sei unzufrieden mit der Handhabung von Programmen zur Reintegration von ehemaligen Kämpfern in die Gesellschaft.
Zwischen August und Oktober kamen bei der schwersten Überflutung in der Geschichte des Landes mehr als 300 Personen ums Leben, und 1 Mio. Menschen in 15 Bundesstaaten mussten ihr Zuhause verlassen.
Angriffe von Boko Haram
Mehr als 1000 Menschen wurden 2012 bei Angriffen der bewaffneten islamistischen Gruppierung Boko Haram getötet. Die Gruppe bekannte sich zu Bombenanschlägen und Angriffen mit Schusswaffen in Nord- und Zentralnigeria. Sie griff Polizeiwachen, Militärkasernen, Kirchen, Schulgebäude und Zeitungsredaktionen an und tötete muslimische und christliche Geistliche und Gläubige, Politiker und Journalisten sowie Polizisten und Soldaten. Im November gab die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs bekannt, es bestehe die begründete Annahme, dass Boko Haram seit Juli 2009 Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen habe.
Die nigerianischen Sicherheitsbehörden begingen 2012 schwere Menschenrechtsverletzungen bei ihren Maßnahmen gegen Boko Haram - dazu gehörten Verschwindenlassen, außergerichtliche Hinrichtungen, das Abbrennen von Häusern und rechtswidrige Inhaftierungen.
Zahlreiche Menschen wurden von der Gemeinsamen Einsatztruppe (Joint Task Force - JTF) oder von der Polizei getötet. Die JTF setzt sich aus Armee, Polizei und anderen Sicherheitskräften zusammen und wurde ins Leben gerufen, um auf die Gewalt zu reagieren. Weitere Menschen fielen im Gewahrsam der Polizei oder der JTF dem Verschwindenlassen zum Opfer.
Die JTF brannte die Häuser von Menschen in mindestens fünf Gemeinden in Maiduguri nieder. Dies geschah häufig nach Hausdurchsuchungen und Festnahmen in der Gegend, und in einigen Fällen schien es eine Strafmaßnahme zu sein.
Hunderte Menschen, die man beschuldigte, Verbindungen zu Boko Haram zu unterhalten, wurden von der JTF willkürlich inhaftiert. Viele Personen hielt man ohne Kontakt zur Außenwelt über lange Zeit in Haft, ohne dass sie unter Anklage gestellt wurden oder ein Verfahren erhielten. Sie wurden weder einer Justizbehörde vorgeführt, noch hatten sie Zugang zu einem Rechtsbeistand. Hunderte Menschen wurden ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in der Giwa-Kaserne der 21. Bewaffneten Brigade in Maiduguri unter schlechten Haftbedingungen, die unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gleichkamen, festgehalten.
Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte waren nur selten Gegenstand unabhängiger und unparteiischer Untersuchungen, und wenn es dazu kam, wurden die Ergebnisse nicht veröffentlicht.
Im ganzen Land beging die Polizei rechtswidrige Tötungen. Im März 2012 teilte der Vorsitzende des Führungsgremiums der Nationalen Menschenrechtskommission NHRC mit, dass jährlich schätzungsweise 2500 Gefangene von der Polizei summarisch getötet werden.
Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Straftatverdächtigen und Gefangenen durch Sicherheitskräfte waren auch 2012 weit verbreitet.
Weit verbreitete Korruption und die Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Verfahren und Prinzipien beeinträchtigten nach wie vor das Strafrechtssystem des Landes. Viele Menschen wurden willkürlich festgenommen und ohne Anklage über Monate inhaftiert. Die Polizei forderte Inhaftierte weiterhin auf, Geld für ihre Freilassung zu bezahlen. Viele Gefangene wurden über lange Zeiträume und unter schlechten Haftbedingungen in Untersuchungshaft gehalten. Die Verfahren bei Gericht verliefen weiter schleppend und waren nicht vertrauenswürdig. Laut Angaben des Geschäftsführers der NHRC warteten mehr als 70% der Inhaftierten auf ihr Gerichtsverfahren oder auf ein Urteil. Anordnungen des Gerichts wurden von der Polizei und den Sicherheitskräften häufig ignoriert.
Zwölf Bundesstaaten setzten das Bundesgesetz über die Rechte des Kindes nicht in bundesstaatliches Gesetz um. Die Polizei inhaftierte in den Polizeizellen Minderjährige nach wie vor zusammen mit Erwachsenen.
In der Region Middle Belt hielten die Gewalttätigkeiten zwischen den Bevölkerungsgruppen an und kosteten über 100 Menschen das Leben.
Im September 2012 erklärte das Hohe Gericht im Bundesstaat Lagos die obligatorische Verhängung der Todesstrafe in einem 2008 vom Rechtszentrum Legal Resources Consortium (LRC) angestrengten und von der nigerianischen NGO LEDAP (Legal Defence and Assistance Project) unterstützten Fall für verfassungswidrig. Doch für eine große Bandbreite von Verbrechen blieb die Todesstrafe im nigerianischen Strafrecht zwingend vorgeschrieben.
Etwa 1002 Gefangene befanden sich Ende 2012 in den Todeszellen, darunter auch Personen, die zur Tatzeit noch minderjährig gewesen waren. Viele wurden nach grob unfairen Verfahren zum Tode verurteilt oder nachdem sie bereits über zehn Jahre im Gefängnis verbracht hatten. Die Bundesregierung gab 2012 an, dass das Hinrichtungsmoratorium, das im Vorjahr in Kraft war, "freiwillig" gewesen sei. Gerichte verhängten weiterhin die Todesstrafe.
In ganz Nigeria kam es auch weiterhin zu rechtswidrigen Zwangsräumungen und rechtswidrigen Abrissen. 2012 wurden die Häuser von Zehntausenden Menschen in vier verschiedenen Gemeinden in Port Harcourt, Lagos und Abuja abgerissen. Hunderttausenden drohte die Vertreibung, da die Regierungen der Bundesstaaten weiterhin Massenabrisse androhten.
Einschüchterungsversuche und Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger setzten sich fort.
In Nigeria kommt es laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation zu 14% aller Müttersterblichkeitsfälle in der Welt. Das Land hat damit eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten weltweit. Gewaltakte gegen Frauen und Mädchen, wie Vergewaltigungen, sexuelle Angriffe und häuslicher Missbrauch, waren nach wie vor ein großes Problem.
Es kam weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen gegen Menschen, die verdächtigt wurden, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unterhalten oder eine nicht konventionelle Geschlechtsidentität zu haben. Der Gesetzentwurf zum Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen, der im Dezember 2011 von der Nationalversammlung verabschiedet worden war, passierte am 13. November im Repräsentantenhaus die zweite Lesung. Der Gesetzentwurf sieht 14 Jahre Gefängnis für jede Person vor, die "eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft oder Ehe eingeht". Der Gesetzentwurf würde bei seiner Verabschiedung die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit kriminalisieren.
Die Ölverschmutzung und die Umweltschäden wirkten sich weiterhin verheerend auf das Leben und die Sicherung des Lebensunterhalts der Menschen im Nigerdelta aus. Umweltgesetze und -vorschriften wurden nur sehr unzureichend durchgesetzt. Die Empfehlungen zur Säuberung der Region Ogoniland im Nigerdelta in der 2011 veröffentlichten maßgeblichen Studie des UN-Umweltprogramms waren bis Ende 2012 nicht umgesetzt worden.
Am 11. Oktober begann das von einer Gruppe Bauern angestrebte Verfahren gegen das Mineralölunternehmen Shell vor einem Gericht im niederländischen Den Haag.
Am 14. Dezember stellte ECOWAS in einem bahnbrechenden Urteil fest, dass die nigerianische Regierung es versäumt hatte, dafür zu sorgen, dass die Operationen der Erdölgesellschaft die Menschenrechte nicht verletzten, und forderte die Regierung auf, angemessene Vorschriften für Operationen von Erdölgeschäften in Kraft zu setzen.
Delegierte von Amnesty International besuchten Nigeria zwischen Februar und November sieben Mal.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2013 - The State of the World's Human Rights - Nigeria (Periodical Report, English)