Konfliktporträt: Nordirland

Der nordirische Friedensprozess stagniert. Zwar erweisen sich die politischen Institutionen zur gewaltfreien Regulierung der Gegensätze als krisenresistent. Doch die widerstreitenden Lager blockieren sich gegenseitig. Die Schatten der Vergangenheit sind immer noch groß. Derweil wartet die Gesellschaft auf die Erträge einer "Friedensdividende".
 

Aktuelle Konfliktsituation



Die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Großbritannien und der Irischen Republik wirken sich positiv auf den Friedensprozess in Nordirland aus. Im April 2014 wurde mit Michael D. Higgins erstmalig ein irischer Präsident mit allen Würden in London empfangen. 2012 war es in Belfast zu einem als historisch eingestuften Handschlag zwischen der britischen Monarchin und dem zweiten Ersten Minister von Nordirland, Martin McGuinness, gekommen. Dieser hat nie geleugnet, Kommandant der Irisch Republikanischen Armee gewesen zu sein, die jahrzehntelang gegen die britische Präsenz in Nordirland gekämpft hat. Heute repräsentiert er die republikanische Partei Sinn Féin in der gemeinsam mit Unionisten gebildeten Regierung des Landes.

Indessen haben sich die Kontroversen auf Fragen der politischen Identität von Nordirland verlagert. Das fand zwischen Dezember 2012 und April 2013 Ausdruck im "Flaggenstreit". Pro-britische ("loyalistische") Gruppen protestierten gewaltsam gegen den Beschluss des Stadtrates der Hauptstadt Belfast, die britische Flagge auf dem Rathaus nur an den gleichen Tagen zu hissen wie auf dem Gebäude des nordirischen Parlaments. Das Weihnachtsgeschäft kam zum Erliegen, und hunderte Polizisten wurden bei Straßenschlachten verletzt. Dennoch verurteilte im Mai 2014 ein Gericht die Polizei, weil sie nicht die Einhaltung Gesetze erzwungen und Unversehrtheit der Bürger und ihres Eigentums gewährleistet hat. Die Führer der politischen Parteien hielten sich aus dem Streit heraus. Ähnlich untätig reagiert die Regierung auf die über 2.000 Traditionsumzüge, die jährlich an den Sieg der Protestanten über die katholische Bevölkerung vor dreihundert Jahren erinnern und auf deren erbitterten Widerstand stoßen.

Daneben beherrschen die nicht aufgearbeitete nordirische Gewaltgeschichte und die ausbleibende juristische Ahndung von Rechtsbrüchen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Sowohl das protestantische als auch das katholische Lager zeigen wenig Interesse, die Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Stattdessen beharren sie auf der Rechtmäßigkeit ihres Tuns und sehen sich jeweils als Opfer der Taten der Gegenseite.

Im Februar 2014 wurde bekannt, dass die republikanische Seite als Kompensation für die Entwaffnung ihrer paramilitärischen Organisation, der Irisch Republikanischen Armee (IRA), von der damaligen britischen Regierung die Zusage erhalten hatte, dass IRA-Angehörige, denen Straftaten zur Last gelegt wurden und deshalb auf der Flucht waren, nicht juristisch verfolgt werden sollten. Von über 200 Fällen ist die Rede. Angesichts der zugesicherten Straffreiheit brach auf unionistischer Seite ein Sturm der Entrüstung los. Die Drohung des unionistischen Ersten Ministers, Peter Robinson, die Zusammenarbeit mit der nationalistisch-republikanischen Seite aufzukündigen, konnte der britische Premierminister David Cameron nur durch die Zusage abwenden, die Vorgänge offiziell untersuchen zu lassen.

Eine andere Seite der dunklen Gewaltgeschichte tat sich zwei Monate später auf. Am 30. April 2014 verhörte die nordirische Polizei vier Tage lang Gerry Adams, den Präsidenten der republikanischen Partei Sinn Féin und derzeitigen Abgeordneten des irischen Parlaments. Ihm wird vorgeworfen, 1972 als IRA-Führer in Belfast die Entführung und Ermordung der Witwe und zehnfachen Mutter Jean McConville angeordnet zu haben. Der Leichnam war verscharrt und erst 30 Jahre später aufgefunden worden. Adams war jahrzehntelang das prominenteste republikanische Gesicht bei den Friedensbemühungen gewesen. Seine Parteifreunde vermuteten "dunkle Kräfte" am Werk, die den nordirischen Frieden bedrohen wollten. Sie drohten, ihre Anerkennung der Polizei zurückzuziehen, was 2007 Voraussetzung des Einstiegs in eine gemeinsame Regierungsverantwortung von Unionisten und Nationalisten-Republikanern gewesen war.

Beiden Krisen war das Scheitern externer Vermittlungsversuche vorangegangen. Zwischen Juli und Dezember 2013 hatten sich die US-Diplomaten Richard Haass und Meghan O’Sullivan um die Regulierung der strittigen Fragen bemüht: Traditionsumzüge, Handhabung der kontroversen Beflaggung öffentlicher Gebäude, Umgang mit den zurückliegenden Rechtsbrüchen und Entschädigung von Opfern und Hinterbliebenen. Ihre Vorschläge scheiterten am Widerstand der unionistischen Repräsentanten. Diese wollten sich nicht mit einem vorteilsfreien Herangehen an die Konfliktgeschichte anfreunden. Im Mai 2014 appellierte der britische Premierminister David Cameron erneut an die nordirischen Parteien, den von US-amerikanischer Seite aufgezeigten Weg weiter zu verfolgen.
 

Ursachen und Hintergründe



Der Nordirland-Konflikt hat viele Merkmale eines "Identitätskonflikts". In ihm stehen sich zwei nach Herkunft und religiösem Bekenntnis unterscheidbare Bevölkerungsgruppen gegenüber, die auf demselben Gebiet leben, aber konträre politische Ambitionen verfolgen und eine gemeinsame Staatlichkeit in Frage stellen. Sie werden gemeinhin einem "protestantischen" und einem "katholischen" Lager zugeordnet. Die protestantische Seite beruft sich auf ihre englischen und schottischen Vorfahren, die vor vier Jahrhunderten den nordöstlichen Teil von Irland besiedelt hatten, und beharrt auf einem Verbleib von Nordirland im Vereinigten Königreich. Ihre politischen Parteien firmieren unter dem Banner des Unionismus; ihre gewaltbereiten Gruppen bezeichnen sich als "Loyalisten".

Das katholische Lager bekennt sich in der Tradition der ursprünglichen Einwohnerschaft zur Einheit der irischen Insel und steht in Abgrenzung zur britischen Monarchie für einen irischen Nationalismus. Ihre Anhänger identifizieren sich mit nationalistischen und republikanischen Parteien. Bis zur Jahrtausendwende konnte sich die protestantische Seite einer Bevölkerungsmehrheit gewiss sein. Doch dem Zensus von 2011 zufolge ist deren Vorsprung bei einer Gesamtbevölkerungszahl von heute ca. 1,8 Mio. Menschen auf 54.000 geschrumpft, wobei der katholische Teil durchschnittlich jünger als der protestantische ist. So steht in Nordirland eine schwindende protestantische Mehrheit einer künftigen katholischen gegenüber.

Im Widerstreit der unterschiedlichen Konfessionen und Identitäten geht es um den Zugang zu Macht und Ressourcen sowie um den Erhalt bzw. die Durchsetzung eines Herrschaftssystems, das den Schutz der jeweils eigenen Traditionen gewähreistet. Bis in die 1970er Jahre hinein nutzte die protestantischen Unionisten den von ihn dominierten Staat, um die katholischen Bevölkerung zu unterdrücken und lehnten es ab, ihr Achtung und Partizipation einzuräumen. Das tägliche Erleben von Diskriminierung und Repression führte auf der katholischen Seite zunächst zur Bildung einer Bürgerrechtsbewegung. Nach deren Unterdrückung eskalierten die zunehmend gewaltsameren Proteste gegen den Staat und seine Sicherheitsorgane in einen Bürgerkrieg. Zwischen 1969 und 2001 verloren 3.523 Menschen ihr Leben. 2.055 Tote gehen auf das Konto republikanischer paramilitärischer Gruppen, 1.022 auf das loyalistischer Organisationen. 365 Opfer sind staatlichen Akteuren (Polizei und britische Armee) zuzurechnen. Mehr als 50.000 Menschen erlitten Verletzungen durch Bomben oder Schießereien.

Noch heute, 16 Jahre nach Unterzeichnung des Belfast- bzw. Karfreitagsabkommens von 1998 (siehe unten), finden sich in Nordirland viele Zeichen einer gespaltenen Gesellschaft. Die Bruchlinien sind nicht nur in Form von territorialen farblichen Abgrenzungen und Mauern zwischen Wohngebieten und Stadtteilen ("peace walls") präsent, sondern auch im Schulwesen und bei der Verteilung öffentlichen Wohnraums. Doch hat das Gewaltniveau inzwischen den niedrigsten Stand seit vierzig Jahren erreicht. Gewaltbreite loyalistische und republikanische Gruppen sind zwar weiter aktiv. Sie haben aber keine Aussicht mehr, politischen Absichten zum Durchbruch zu verhelfen. Auch haben kriminelle Wirtschaftsaktivitäten und interne Auseinandersetzungen ihr Ansehen in der Bevölkerung diskreditiert.
 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze



Das Bemühen um eine gewaltfreie Verregelung des Konflikts folgte einem dreigliedrigen Ansatz: Es galt, 1. die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zu unterbinden, 2. Rechtsstaatlichkeit und staatliches Gewaltmonopol wiederherzustellen sowie 3. die Herrschaftsverhältnisse zu demokratisieren und die Verantwortung für die Geschicke Nordirlands an gesellschaftlich legitimierte Akteure zurückzugegeben. Zunächst mussten also die paramilitärischen Organisationen beider Lager dazu zu bewegt werden, ihre Waffen unbrauchbar zu machen und sich aufzulösen. Kernstück der Sicherheitsreform war eine grundlegende Erneuerung der Polizei und ihre Anerkennung als Sachwalter des Gewaltmonopols durch die Konfliktparteien. Die Demokratisierung stützt sich auf das Modell einer "Konkordanzdemokratie". Es garantiert die Beteiligung sowohl des unionistischen als auch des nationalistisch-republikanischen Lagers an der Regierungsgewalt.

Die drei Elemente der Friedensstrategie fanden ihren Niederschlag im Belfast- bzw. Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998. Es war unter britisch-irischer Ägide ausgehandelt worden. Zustimmende Referenden in Nordirland und in der Republik Irland haben dem Abkommen eine hinreichende Legitimation verliehen.

Die Realisierung der Friedensstrategie erwies sich gleichwohl als außerordentlich vertrackt. Die Unionisten pochten auf die Entwaffnung der IRA und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, bevor sie sich auf eine Teilung der Macht mit dem nationalistisch-republikanischen Lager einlassen wollten. Die Republikaner wiederum beharrten auf der Verwirklichung der Polizeireform und den Einstieg in die Machtbeteiligung als Vorbedingung für die Entwaffnung der IRA. So dauerte es bis 2005, bis die IRA ihre als "Krieg" deklarierten Aktivitäten einstellte.

2006 erkannte die republikanische Partei Sinn Féin die Polizei an und beteiligte sich an den Aufsichtsgremien. Erst 2007 kam es zur Bildung einer Allparteienregierung für Nordirland, womit die britische Direktverwaltung endete. Doch stand die neue Exekutive von Anfang an unter dem Einfluss der radikalen Kräfte, die sich in den vorangegangen Wahlen in beiden Lagern durchgesetzt hatten. Diese Tendenz bestätigte sich auch bei den nachfolgenden Wahlen, die die wechselseitige Abgrenzung beider Lager verfestigten. Ungeachtet dessen haben sich die politischen Institutionen als erstaunlich bestandsfest erwiesen.

Inzwischen stößt das Prinzip der Machtteilung an seine Grenzen seiner Wirksamkeit Zum einen mangelt es der Allparteienregierung infolge des Fehlens einer wirksamen Opposition in der Legislative an Kontrolle. Fällige Entscheidungen zur Modernisierung der Wirtschaft und zur Reform von Verwaltung, Bildung und Gesundheitsversorgung werden wegen der Unvereinbarkeit unionistischer und republikanischer Positionen blockiert. Die zwei gleichbe-rechtigten Ersten Minister – Peter Robinson (Democratic Unionist Party) und Martin McGuinness (Sinn Féin) – achten vorrangig darauf, die Anliegen ihres eigenen Lagers zu befriedigen und Abweichler in Schach zu halten. Zum anderen bieten die Wahlen keine Chancen auf einen Regierungswechsel. Sie dienen beiden Lagern nur dazu, ihre Stärke zu bestätigen. Gewichtsverschiebungen bei Stimmen und Sitzen finden allein innerhalb der beiden Blöcke statt. Alternative Positionen in Politik und Gesellschaft bleiben marginalisiert.
 

Geschichte des Konflikts



Der Konflikt bildete sich bereits in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg heraus. Damals gelang es der britischen Regierung nicht, die irische Insel als Ganzes – historisch die erste britische Kolonie – unter der Souveränität eines in Dublin angesiedelten Parlaments in eine beschränkte Selbstverwaltung zu entlassen. Die Unionisten im Nordosten stellten sich dem unter Androhung von Gewalt entgegen und beharrten auf ihrem privilegierten Status in der Provinz Ulster. 1919 brach im Süden ein britisch-irischer Krieg um die Unabhängigkeit der Insel aus. Er endete 1921 mit der Teilung des Territoriums: Sechs Grafschaften unter unionistischer Kontrolle im Nordosten verblieben bei Großbritannien, 26 Grafschaften im Süden und Nordwesten erhielten als "Freistaat" eine Teilautonomie; in Belfast und in Dublin konstituierten sich jeweils ein Parlament und eine Regierung für die getrennten Landesteile. 1949 erklärte sich der Süden zur unabhängigen Republik Irland. Großbritannien proklamierte sich seinerseits zum "Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland" und bekräftigte seine Souveränität über diesen Teil der irischen Insel.

1968/1969 forderten in Nordirland Bürgerrechtsbewegungen die politische und soziale Gleichstellung des katholischen Bevölkerungsteils. Ihre Aktivitäten wurden von der Polizei und loyalistischen paramilitärischen Organisationen gewaltsam bekämpft. In Nordirland begann ein dreißigjähriger Gewaltkonflikt. Angesichts der Unfähigkeit der lokalen Machthaber, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, löste die britische Regierung 1972 die unionistisch geprägte Selbstverwaltung auf und übernahm die unmittelbare Kontrolle über die nordirische Provinz. Britische Truppen wurden nach Nordirland entsandt. Auf der nationalistischen Seite formierte sich 1972 – 1974 mit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eine schlagkräftige paramilitärische Organisation, deren Aktivitäten auch Großbritannien und das westliche Europa erfassten. Nordirland versank im Bürgerkrieg.

Großbritannien und die Republik Irland verständigten sich 1985 im "Anglo-Irish-Agreement" auf eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit zu Nordirland. In der "Downing Street Declaration" von 1993 formulierten beide Regierungen erste Schritte für eine nordirische Friedensregulierung. 1996 begannen Allparteien-Gespräche unter Leitung des US-Sena¬tors George Mitchell. Sie führten 1998 zum Abschluss des Belfast-Abkommens ("Karfreitags-Abkommen"). Die Übereinkunft, garantiert von Großbritannien und der Republik Irland, fixiert die Grundzüge einer Friedensstrategie. Allerdings scheiterten zwischen 1998 und 2006 alle Versuche, eine nordirische Exekutive zu schaffen. Erst das im schottischen St. Andrews zwischen beiden Garantiemächten und den nordirischen Parteien geschlossene Abkommen ebnete den Weg zur Zusammenarbeit zwischen Sinn Féin und der Democratic Unionist Party (DUP).

Im Folgejahr, 2007, gelang nach weiteren Wahlen die Bildung einer Regierung aus allen in der Versammlung vertretenen Parteien. Die nordirische Legislative und Exekutive übernahmen die Aufgaben der britischen Direktverwaltung. Ein zusätzliches Abkommen unter britisch-irischer Ägide, das Hillsborough-Abkommen von 2010, übertrug die Verantwortung für Polizei und Justiz an nordirische Instanzen. Nachfolgende Wahlen bestätigten Peter Robinson (DUP) und Martin McGuinness (Sinn Féin) als Erste Minister 2011.
 

Literatur



Neumann, Peter (1999): IRA. Langer Weg zum Frieden, Hamburg: Rotbuch Verlag.

Kandel, Johannes (2005): Der Nordirland-Konflikt. Von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart, Bonn: Dietz.

Otto, Frank (2010): Der Nordirlandkonflikt. Ursprung, Verlauf, Perspektiven, München: C.H. Beck.

Bonacker, Thorsten/ Gresshoff, Rainer/ Schimanck, Uwe (Hrsg.) (2008): Sozialtheorien im Vergleich. Der Nordirlandkonflikt als Anwendungsfall, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Hauswedell, Corinna (2014): Nordirland: Sieht so der Frieden aus?, in: Wissenschaft und Frieden, 32. Jg. Nr. 2, S. 43-46. » Moltmann, Bernhard (2013): Ein verquerer Frieden. Nordirland fünfzehn Jahre nach dem Belfast-Abkommen von 1998, Frankfurt am Main: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.«

»Nolan, Paul (2014): Northern Ireland Peace Monitoring Report. Number Three, Belfast: Northern Ireland Community Relations Council.«
 

Links



»Conflict Archive on the Internet (CAIN)«
 

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