Document #1169258
Amnesty International (Author)
Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben auch 2010 vor allem im Hinblick auf politisch brisante Themen wie den Status der Westsahara stark eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Mitglieder der nicht zugelassenen politischen Organisation Al-Adl wal-Ihsan sowie sahrauische Aktivisten wurden schikaniert und aus politischen Beweggründen strafrechtlich verfolgt. Zahlreiche Personen befanden sich wegen angeblicher Vergehen gegen die Sicherheit im Gefängnis. Einige Häftlinge saßen ohne Kontakt zur Außenwelt ein und wurden Berichten zufolge gefoltert oder anderweitig misshandelt. Sicherheitskräfte vertrieben gewaltsam Tausende von Sahrauis aus einem Lager, nachdem sie dort für eine Verbesserung ihrer Situation demonstriert hatten. Bei den Zusammenstößen kam es zu Toten und Verletzten. Ausländische Staatsangehörige wurden verhaftet und im Schnellverfahren des Landes verwiesen. Im Jahr 2010 ergingen Todesurteile, es gab jedoch keine Hinrichtungen. Die für schwere Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen blieben weiterhin straffrei. Die vor langer Zeit angekündigten Reformen des Justizwesens und der Verfassung des Landes kamen nur schleppend voran.
Die Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario um den Status der Westsahara stagnierten weiterhin. Marokko hatte das Gebiet 1975 annektiert. Die Frente Polisario fordert einen unabhängigen Staat und hat eine selbsternannte Exilregierung gebildet. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte im April das Mandat der UN-Mission für einen Volksentscheid in der Westsahara. Das Mandat enthält keine Bestimmungen zur Beobachtung der Menschenrechtslage.
Im Oktober und Dezember 2010 stattete der Persönliche Gesandte des UN-Generalsekretärs für die Westsahara Marokko einen Besuch ab und initiierte anschließend informelle Gespräche zwischen Marokko, der Frente Polisario und den Regierungen von Algerien und Mauretanien.
Ebenfalls im Oktober errichteten Tausende von Sahrauis ein Lager in Gdim Izik, einige Kilometer außerhalb von Laayoune. Sie wollten damit gegen ihre offensichtliche Ausgrenzung und die unzureichenden Arbeits- und Wohnbedingungen protestieren. Am 8. November rissen Sicherheitskräfte das Lager ab und vertrieben gewaltsam mehrere tausend Sahrauis. Daraufhin brachen im Lager Unruhen aus. Viele der Demonstrierenden wurden geschlagen, ihre Habe wurde vernichtet. Wenig später kam es in Laayoune zu gewalttätigen Ausschreitungen mit Verletzten und Schäden an Privateigentum. Insgesamt 13 Personen, darunter elf Angehörige der Sicherheitskräfte, kamen bei den Vorfällen ums Leben. Die Behörden nahmen rund 200 Menschen fest, von denen viele gefoltert oder misshandelt wurden. Mindestens 145 Personen mussten sich wegen Störung der öffentlichen Ordnung und anderer Vergehen vor Gericht verantworten. 20 Zivilpersonen wurden an ein Militärgericht in der Hauptstadt Rabat überstellt.
Im Juli 2010 bestätigte das Berufungsgericht in Salé die Schuldsprüche in der sogenannten Affaire Belliraj, reduzierte aber einige der Haftstrafen. Dieser hochpolitische Fall war von Foltervorwürfen und Verfahrensfehlern begleitet.
Der Beirat für Menschenrechte, der die Einhaltung der Empfehlungen der Marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (Instance Equité et Réconciliation - IER) überwachen soll, veröffentlichte im Januar 2010 einen Bericht über die Entwicklungen nach Abschluss der Arbeiten der Kommission im Jahr 2005. Die Kommission hatte die Aufgabe, Fällen von "Verschwindenlassen" und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, die in der Zeit von 1956 bis 1999 begangen worden waren. Eine vollständige Liste von Fällen von "Verschwindenlassen" sowie nähere Informationen zu Einzelschicksalen oder die Ankündigung von weiteren Untersuchungen blieb der Bericht jedoch schuldig. Eine Liste mit den Namen von 938 "Verschwundenen" und anderen Opfern von Menschenrechtsverletzungen wurde am 14. Dezember nachgereicht und als Anhang des Berichts veröffentlicht. Wenn überhaupt, waren nur wenige und vage Informationen zu den einzelnen Fällen enthalten. Sechs anhängige Fälle wurden aufgeführt und an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Opfer und Überlebende hatten immer noch keinen effektiven Zugang zu Rechtsmitteln, und die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen waren bis Ende des Jahres nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
Bis Ende 2010 hatten die Behörden noch immer keine konkreten Schritte eingeleitet, um die Empfehlungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission bezüglich einer Reform des Justizsystems und der staatlichen Institutionen umzusetzen. Dazu zählt auch die Reform des Gerichtswesens und der Sicherheitskräfte. Die EU stellte der Regierung 20 Mio. Euro für die Durchführung von Gesetzesreformen zur Verfügung. Weitere 8 Mio. Euro waren dazu bestimmt, die schweren Menschenrechtsverletzungen der Jahre 1956 bis 1999 zu dokumentieren und die Erinnerung daran wachzuhalten.
Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und andere Personen wurden bestraft, weil sie sich zu Themen geäußert hatten, die von den Behörden als politisch brisant eingestuft wurden. Darunter fallen die Berichterstattung über die Monarchie und Kritik an Staatsbeamten und staatlichen Einrichtungen.
Die Behörden beschränkten auch 2010 die friedliche Ausübung der Rechte von Sahrauis auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit im Zusammenhang mit dem Ruf nach Selbstbestimmung der Menschen auf dem Gebiet der Westsahara. Sahrauische Menschenrechtsverteidiger und Aktivisten waren Schikanen ausgesetzt. Sie wurden bedroht, von den Sicherheitskräften überwacht oder aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt. Sahrauischen Menschenrechtsorganisationen blieb eine offizielle Genehmigung verwehrt.
Im Jahr 2010 trafen neue Meldungen über Folterungen und andere Misshandlungen ein, die vor allem von Angehörigen des Geheimdienstes (Direction de la Surveillance du Territoire - DST) und in einigen Fällen von der Nationalen Brigade der Justizpolizei (Brigade Nationale de la Police Judiciaire) begangen wurden. Die Verantwortlichen für die Übergriffe gingen meist straffrei aus. Zu den am häufigsten berichteten Foltermethoden zählten Schläge, Elektroschocks und die Drohung mit Vergewaltigung. Unter den Opfern befanden sich Strafgefangene sowie Personen, die wegen Verstoßes gegen die Sicherheit vom DST inhaftiert worden waren.
Die Behörden gaben bekannt, dass mehrere "Terrornetzwerke" enttarnt und zahlreiche Verdächtige inhaftiert worden seien. Die Gefangenen wurden oft über die gesetzlich erlaubten zwölf Tage hinaus in einem inoffiziellen Haftzentrum, vermutlich in Témara, ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Dort sollen sie gefoltert und anderweitig misshandelt worden sein.
Im August und September 2010 gingen die Behörden hart gegen Migranten vor, die mutmaßlich ohne offizielle Genehmigung nach Marokko eingereist waren oder dort lebten. 600 bis 700 Personen wurden in Oujda, Rabat, Tanger und anderen Städten festgenommen, darunter auch Kinder. Während mehrerer Razzien setzten die Behörden schweres Räumgerät ein, um die Siedlungen der Migranten dem Erdboden gleichzumachen. Dem Vernehmen nach schlugen Angehörige der Sicherheitskräfte bei dieser Aktion auf Menschen ein. Die festgenommenen Migranten wurden in der Wüste im Grenzgebiet zu Algerien ohne ausreichende Nahrungs- und Wasservorräte ausgesetzt. Sie hatten keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens prüfen zu lassen.
Im Jahr 2010 wiesen die Behörden 130 ausländische Christen im Schnellverfahren aus Marokko aus, darunter Lehrer und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sie sollen missioniert haben, wurden aber nicht angeklagt. Das Missionieren ist laut Paragraph 220 des marokkanischen Strafgesetzbuchs strafbar.
Gegen mindestens vier Personen ergingen 2010 Todesurteile. Die Regierung hielt jedoch an einem De-facto-Moratorium für Hinrichtungen fest, das seit 1993 in Kraft ist.
Im Dezember 2010 enthielt sich Marokko der Stimme, als in der UN-Generalversammlung eine Resolution für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium zur Abstimmung gelangte.
Angehörige der Frente Polisario nahmen am 21. September 2010 den ehemaligen Polizeibeamten Mostafa Salma Sidi Mouloud fest, weil er öffentlich seine Unterstützung für die von der Regierung favorisierte Lösung der Autonomie der Westsahara unter marokkanischer Verwaltung bekundet hatte. Er wurde am Schlagbaum der Grenze zu den von der Frente Polisario verwalteten Tidouf-Lagern in der Region Mhiriz festgenommen. Nach internationalen Protesten teilte die Frente Polisario schließlich am 6. Oktober mit, Mostafa Salma Sidi Mouloud sei freigelassen worden. Tatsächlich blieb er jedoch in Haft. Der Kontakt zu seiner Familie war ihm bis zum 1. Dezember untersagt. An diesem Tag wurde er dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) in Mauretanien überstellt.
Seitens der Frente Polisario wurde offenbar nichts gegen die Straffreiheit von Personen unternommen, denen Menschenrechtsverstöße in den 1970er- und 1980er-Jahren in den Flüchtlingslagern zur Last gelegt werden.
Im November stattete eine Delegation von Amnesty International Marokko und der Westsahara einen Besuch ab, um die Menschenrechtssituation nach den Vorfällen in dem Protestlager und in Laayoune zu untersuchen. Die Delegation wurde von Regierungsmitgliedern empfangen.
Morocco/Western Sahara: Broken promises - the Equity and Reconciliation Commission and its follow-up (MDE 29/001/2010)
Marocco/Western Sahara: Rights trampled - protests, violence and repression in Western Sahara (MDE 29/019/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)