Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation, Tschetschenien: Ablauf einer Zwangsheirat; Möglichkeit der Verweigerung einer Zwangsheirat (ggf. Art und Weise der Verweigerung) und Konsequenzen für die Braut bzw. deren Familie in diesem Fall; Wer entscheidet über den Tod bei Verweigerung einer Zwangsheirat?; Zulässigkeit von Zwangsheirat; strafrechtliche Verfolgung bei Versuch bzw. Durchführung einer Zwangsheirat? [a-8891]

23. Oktober 2014
 

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Ablauf einer Zwangsheirat

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) bemerkt in seinem im Februar 2014 veröffentlichten Länderbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2013, dass Frauen in einigen Teilen des Nordkaukasus weiterhin von Zwangsheirat sowie Brautraub betroffen seien. Es würden Berichte darüber vorliegen, dass Männer in einigen Teilen des Nordkaukasus unter dem Vorwand, dass Brautraub eine alte örtliche Sitte darstelle, junge Frauen entführt und vergewaltigt hätten. In einigen dieser Fälle hätten sie die Frauen gezwungen, eine Ehe mit ihnen einzugehen:

„In some parts of the North Caucasus, women continued to face bride kidnapping, polygyny, forced marriage (including child marriage), legal discrimination, and enforced adherence to Islamic dress codes. […] There were cases in some parts of the North Caucasus where men, claiming that kidnapping brides is an ancient local tradition, reportedly abducted and raped young women, in some cases forcing them into marriage.” (USDOS, 27. Februar 2014, Section 6)

Laut einem im September 2014 vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) herausgegebenen Bericht (verfasst vom norwegischen Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo) stelle Brautraub eine historische Tradition dar, die in Tschetschenien in der Praxis heute noch vorkomme. Beim Brautraub würde ein Mann mithilfe anderer Personen eine Frau entführen, um sie dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Brautraub werde häufig so organisiert, dass die Komplizen des Bräutigams eine Frau in ein Auto zwingen und sie dann zu den Verwandten bzw. Freunden des Bräutigams fahren würden. Dort würde man versuchen, die Frau zur Einwilligung in eine Eheschließung zu überreden, oder man würde eine solche Zustimmung von der Frau erzwingen. Eine „Delegation“ von Ältesten würde sich mit der Familie der Frau in Verbindung setzen und versuchen, durch Verhandlungen eine Übereinkunft zu erzielen. Häufig erfolge dies, indem der Familie der Braut eine Geldsumme gezahlt werde, oder die Situation werde intern gelöst. Laut einer E-Mail-Auskunft der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) aus dem Jahr 2009 erfolge Brautraub allerdings nicht immer mittels Zwang. Sehr oft komme es zum Brautraub, wenn die Frau und der Mann heiraten wollten, die jeweiligen Familien jedoch gegen eine Eheschließung seien. In solchen Fällen werde der Brautraub von den beiden Parteien selbst „organisiert“ und erfolge nicht gegen den Willen der Braut.

Zum Thema Zwangsheirat schreibt der EASO-Bericht unter Berufung auf eine Auskunft einer im Nordkaukasus tätigen internationalen Organisation aus dem Jahr 2009, dass sich im Normalfall die beiden beteiligten Familien darauf einigen würden, ob eine Heirat stattfinden solle. Braut und Bräutigam seien je nach Fall in unterschiedlichem Maße in diese Entscheidung involviert. Das Ausmaß des dabei angewendeten Zwanges variiere. In Fällen, in denen es zur Anwendung von Zwang komme, sei es oft die Familie der Braut, welche die führende Rolle beim Arrangieren der Ehe einnehme. Es könne jedoch auch Fälle geben, in denen den Eltern und Verwandten des Bräutigams die Verantwortung für die Wahl der künftigen Ehefrau zukomme. Zwangsehen kämen sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum vor und seien unter Menschen mit geringerem Bildungsgrad häufiger zu beobachten:

„Bride kidnapping is a historical tradition practised in Ingushetia and Chechnya that still occurs. Bride kidnapping is part of Adat, but not of Sharia.

Bride kidnapping is when a man, with the help of others, kidnaps a woman for the purpose of getting her to marry him. A common way of organising bride kidnapping is for the groom’s accomplices to force the woman into a car and drive off with her. The woman (the bride-to-be) is then brought to the groom’s relatives or friends. Here, they try to persuade her, or she is forced, to give her consent to marriage. A delegation of elders contacts the woman’s family and tries to formalise an agreement through negotiations. This often takes place by paying the bride’s family or resolving the situation internally. […]

HRW states that bride kidnapping does not always take place by force. Very often, bride kidnapping occurs in cases where both the woman and the man want to get married and where the respective families are opposed to the marriage. The bride kidnapping is thus ‘organised’ by the parties themselves and does not happen against the bride’s will, but as a symbolic kidnapping.” (EASO, September 2014, S. 22)

„Usually, the families agree that a marriage will take place and the bride and groom are involved to a greater or lesser degree in the decision. The degree of coercion varies. Where coercion takes place, it is often the bride’s family that takes the leading role in arranging the marriage. There may also be cases where the groom’s parents and his family are responsible for selecting a future wife. Forced marriages occur both in urban and rural areas but are more frequent among those with lower education.” (EASO, September 2014, S. 25)

Laut einem Bericht von Landinfo vom Juni 2013 komme Zwangsheirat auch ohne vorhergehenden Brautraub vor. Zwangsehen würden für gewöhnlich von den Eltern und Verwandten von Braut und Bräutigam – in erster Linie jedoch von der Familie der Braut – arrangiert. Auf die Frau (die künftige Braut) werde seitens ihrer Eltern starker Druck ausgeübt: Die Eltern würden die Entscheidungen treffen, und die Tochter habe ihnen zu gehorchen. Es könne auch Fälle geben, in denen die Eltern bzw. die Familie des künftigen Ehemannes dahinter stecken würden. Die Grenzen zwischen Zwangsehen und arrangierten Ehen seien fließend:

„Tvangsekteskap uten forutgående bruderov forekommer. Tvangsekteskap arrangeres vanligvis av foreldre og slektninger til både brud og brudgom, men først og fremst av brudens familie. Kvinnen (den vordende brud) er under sterk påvirkning fra sine foreldre. Foreldrene bestemmer og kvinnen må adlyde dem. Det kan også være tilfeller der det er ektemannens foreldre og hans familie som står bak. […] Det er glidende overgang mellom tvangsekteskap og arrangert ekteskap.“ (Landinfo, 28. Juni 2013, S. 20-21)

Weitere Informationen Ablauf von zum Zwangseheschließungen in Tschetschenen finden sich in folgender älteren Anfragebeantwortung von ACCORD vom Jänner 2011:

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Zwangsheirat (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan) [a-7488], 13. Jänner 2011 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/file_upload/response_de_153952.html

Möglichkeit der Verweigerung einer Zwangsheirat (ggf. Art und Weise der Verweigerung) und Konsequenzen für die Braut bzw. deren Familie in diesem Fall

Der bereits oben erwähnte Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) vom September 2014 (Verfasser: Landinfo) bemerkt, dass laut Angaben einer NGO in Grosny aus dem Jahr 2011 der Umstand, dass eine Frau im Zuge eines Brautraubs eine Nacht im Haus des Entführers verbracht habe, um dann nach Hause zurückgebracht zu werden, ihrer Familie Schande bereite.

Laut einem im Juli 2010 veröffentlichten Bericht des Moskauer ANNA Centre, dessen Ziel vor allem die Berichterstattung zu Gewalt gegen Frauen sei, könne unter anderem eine Verweigerung einer Eheschließung mit einer von der Familie ausgewählten Person (arrangierte Ehe), einen Ehrenmord nach sich ziehen.

Nach Angaben einer im Jahr 2011 interviewten NGO in Grosny, die Frauen psychologische und rechtliche Hilfe anbiete, sei es für eine Frau, die Opfer eines Brautraubs geworden sei und die Nacht im Haus eines Mannes verbracht habe, sehr schwierig, eine Heirat zu verweigern und in weiterer Folge jemand anderen zu heiraten. Wie eine im Nordkaukasus tätige internationale Organisation im Jahr 2009 bemerkt habe, könne in solchen Fällen zwar die Familie unter Umständen die Frau wieder bei sich zu Hause aufnehmen, jedoch sei es wahrscheinlich, dass es dann zu einer Konfrontation zwischen der Familie der jungen Frau und des jungen Mannes komme. Falls der Frau jedoch unmittelbar nach ihrer Entführung die Flucht gelinge, sodass sie die Nacht nicht im Haus des Mannes verbringe, würde sie ihrer Familie keine Schande bereiten. Üblicherweise würde ein Brautraub dazu führen, dass die Frau den Mann heirate, da sie keine andere Wahl habe.

Laut Aussage der oben genannten NGO in Grosny aus dem Jahr 2009 könne sich ein Brautraub zu einer sehr gefährlichen Situation entwickeln, wenn eine Frau sich weigere, den Entführer zu heiraten, und nach Hause zurückkehre. Dies sei vor allem dann der Fall, wenn der „Bräutigam“ bei einer Sicherheitsorganisation angestellt sei:

„Bride kidnapping […] has not been emphasised by Landinfo´s sources as a circumstance which would typically trigger an honour killing. However, according to Civic Assistance, bride kidnapping can lead to honour killings, although it is not a common reason. The fact that a bride-kidnapped woman has spent the night in the kidnapper´s house to then be returned home, brings shame to her family.

The ANNA Centre in Moscow, whose primary task is to report violence against women, mentions in its report several situations that may lead to honour killing. The report mentions that refusal to marry someone selected by the family (arranged marriage) can lead to honour killing and that also divorce, if initiated by the woman, can lead to honour killing.” (EASO, September 2014, S. 15)

In 2009, an NGO in Grozny that offers women psychological and legal assistance stated that of 200 enquiries received by the organisation in 2008–2009, 41 cases concerned forced marriage and bride kidnapping. […]

According to the abovementioned NGO in Grozny, it would be very difficult for a woman who has been subjected to bride kidnapping and spent the night in a man’s house to refuse marriage and subsequently marry someone else. The woman’s family may accept her back into their house, but a confrontation is likely to take place between the families of the young woman and the young man. If the woman escapes immediately and does not spend the night at the man’s house, she will not bring shame to her family. Bride kidnapping usually ends with the woman marrying the man because she has no other option.

The NGO in Grozny stated that bride kidnapping may lead to a very dangerous situation if the woman refuses to get married and returns to her own family. This is particularly true if the ‘groom’ is employed by a security organisation.” (EASO, September 2014, S. 22)

Laut einem Artikel von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) vom Oktober 2010 sei in einer traditionellen Gesellschaft wie Tschetschenien der Umstand, dass eine Frau eine Nacht – oder auch nur wenige Stunden bis zu ihrer Befreiung – im Haus eines Mannes verbracht habe, ausreichend, um der Frau soweit Schande zu bereiten, dass sie ihren Entführer heiraten müsse.

Weiters zitiert der Artikel Tanja Lokschina, Rechercheurin bei Human Rights Watch (HRW), mit der Aussage, dass durch einen Brautraub die männlichen Verwandten der Frau in die schwierige Position versetzt würden, mit den Entführern die Sache „in Ordnung zu bringen“. Wenn die Frau eine Eheschließung verweigert habe, könne sie als „beschmutzt“ bzw. als „schwierig“ angesehen werden. Die betreffenden Frauen würden an die Probleme denken, mit denen ihr Vater bzw. ihre Brüder künftig konfrontiert sein würden, und es vorziehen, sich quasi für das Wohl der Familie zu opfern:

„Bride abductions are an endemic phenomenon in the Caucasus and Central Asia. In Chechnya alone, rights activists say as many as one in four marriages begins with the woman being kidnapped and forced to wed against her will. The social stigma attached to spending the night in a man's house -- or even just a few hours before being rescued -- is enough in deeply traditional societies like Chechnya, Kazakhstan, and Kyrgyzstan to shame a woman into marrying her abductor. […]

The woman's male relatives are then put in the difficult position of having to ‘sort things out’ with the kidnappers, and the woman can be considered tainted, or difficult, after refusing the marriage. ‘[The women are] thinking of the consequences or the problems that their father and their brothers are going to be burdened with, and they prefer to sacrifice themselves, if you will, for the well-being of the family,’ Lokshina says.” (RFE/RL, 21. Oktober 2010)

Das russische Menschenrechtszentrum Memorial schreibt in einem Bericht vom März 2012, dass ein Brautraub von der Familie der Braut als Affront betrachtet werde. Trotzdem würden die Familien dann in aller Regel beginnen, miteinander zu verhandeln. Was in weiterer Folge geschehe, hänge von zahlreichen Faktoren ab, unter anderem davon, inwieweit das Mädchen bereit sei, sich dem Druck ihrer Verwandten zu widersetzen, und über wieviel Macht die Familie der „Entführten“ verfüge. Als Ergebnis seien unterschiedliche Szenarien möglich: die Rückkehr des Mädchens nach Hause, ein heftiger Konflikt zwischen den Familien oder auch eine Zwangsheirat:

„Sometimes the so-called ‘bridal kidnapping’ takes place - the girl gets taken away without her consent. This is viewed as an affront to the bride’s family; however as a rule the families start negotiations. The future scenario depends on many factors: how ready the girl is to resist the pressure from her relatives, how powerful the family of the ‘kidnapped’ is, etc. There can be different outcomes: the girl’s return home, a strong conflict between families, forced marriage.” (Memorial, 23. März 2012)

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) bemerkt in einem Artikel vom November 2010:

„Eine junge Frau hat im Nordkaukasus traditionsgemäss am wenigsten Rechte. Wurde sie missbraucht, hält sie die Gesellschaft in einem Abwehrreflex für schuldig. Zwar müssten ihre männlichen Verwandten, der Blutrache folgend, die Täter umbringen, doch diese sind zu mächtig. Es ist bequemer, die Schande von der Familie zu bannen, indem man die Wehrlose tötet.“ (NZZ, 8. November 2011)

Derselbe NZZ-Artikel berichtet unter Angabe redaktionell geänderter Personennamen:

„Der traditionelle Brautraub ist populär geworden. Ilijas* hat ein Auge auf Seda* geworfen, er organisiert seine Freunde und männlichen Verwandten, sie lauern der Nichtsahnenden auf, zerren sie in den Wagen und bringen sie in Ilijas' Haus, wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen wird: Es sei für sie und ihre Familie besser, sich zu fügen. Seda, die eine typische Mädchenerziehung zur Bescheidenheit genossen hat, fühlt sich gar geschmeichelt, dass sie es wert ist, geraubt zu werden. Kommt dann ihre aufgebrachte Familie, um die Tochter zurückzuholen, erklärt ihnen Seda, dass der Raub ihr innerster Wunsch gewesen sei. Die Familie kann sich weigern, ‚dem innersten Wunsch‘nachzugeben, doch man wird Seda jederzeit vorwerfen können: Du wurdest geraubt, ohne zu heiraten. Sie gilt als angetastet, verbraucht. Die Gefahr des Raubes bindet die Frau fester ans Haus, was der patriarchalen Gesellschaft nur recht ist.“ (NZZ, 8. November 2011)

Wer entscheidet über den Tod bei einer Verweigerung der Zwangsheirat?

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine Informationen darüber gefunden werden, wer bei einer Verweigerung der Zwangsheirat über den Tod entscheidet.

Gesucht wurde mittels ecoi.net, Refworld, Factiva, Google und Yandex nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: chechnya, tschetschenien, Чечня, forced marriage, coerced marriage, arranged marriage, forced, coerced marriage, marriage, marry, zwangsehe, zwangsheirat, arrangierte ehe, ehe, heiraten, брак по принуждению, принудительный брак, насильственный брак, брак по договорённости, договорённый брак, брак, жениться, замуж, woman, girl, bride, refuse, refusal, verweigerung, weigerung, weigern, widersetzen, отказаться, отказ, death, killed, killing, murdered, murder, tod, tötung, töten, ermorden, ermordung, mord, смерть, убить, убийство, parents, family, relatives, eltern, verwandte, Familie, семья, decide, decision, entscheiden, entscheidung, решение, решать.

Zulässigkeit von Zwangsehen

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine Informationen zur Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit von Zwangsehen gefunden werden, die nicht mit Brautraub in Zusammenhang stehen.

 

Folgende Berichte gehen auf die rechtliche Zulässigkeit von Brautraub ein:

 

Wie der Bericht des EASO vom September 2014 festhält, habe der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow im Jahr 2010 eine Resolution verabschiedet, die vorsehe, dass Brautraub nicht mehr praktiziert werden solle.

Brautraub komme im russischen Strafgesetzbuch nicht als eigener Tatbestand vor, sei aber nach Artikel 126 des Strafgesetzbuchs (Entführung) strafbar. Das Strafgesetzbuch sehe vor, dass gegen einen Entführer nicht strafrechtlich vorgegangen werde, wenn dieser das Entführungsopfer freiwillig freigelassen und keine weiteren Straftaten begangen habe:

„In 2010, Ramzan Kadyrov passed a resolution that bride kidnapping should no longer take place. […] Bride kidnapping is not included as a concept in the Russian Criminal Code, but is punishable according to Article 126 of the Federal Criminal Code on abduction. The Criminal Code states that if the kidnapper releases the victim voluntarily and he has committed no other criminal act, he will not be prosecuted.” (EASO, September 2014, S. 22-23)

Die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtet unter Berufung auf den Pressedienst der tschetschenischen Regierung, dass die Teilrepublik eine Geldstrafe von einer Million Rubel [derzeit 19.080 Euro, Anm. ACCORD] für Brautraub eingeführt habe (RIA Novosti, 6. Oktober 2010).

 

Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet ebenfalls, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow im Oktober 2010 eine drastische Erhöhung der Strafe für Brautraub auf eine Million Rubel bekannt gegeben habe. Weiters habe er verlautbart, dass die Bestimmungen des russischen Strafgesetzes zu Entführung, die dafür eine Gefängnisstrafe von vier bis 20 Jahren vorsehen würden, auch auf Brautraub angewendet würden:

„Earlier this month Kadyrov announced a drastic increase in the fine for bridal kidnapping to 1 million rubles, about $33,560, up from about $1,011. And fulfilling a longstanding demand of women's rights activists, he has also pledged to apply Russia's Criminal Code for abductions, which stipulates a sentence of between four and 20 years in jail, to bride kidnapping.” (RFE/RL, 21. Oktober 2010)

Das russische Menschenrechtszentrum Memorial schreibt im März 2012, dass durch eine Entscheidung Kadyrows die Verantwortung für Brautentführungen seit Anfang 2011 nicht nur bei den jeweiligen Entführern, sondern auch bei den Behördenleitern, Leitern von Polizeikommissariaten und bei geistlichen Amtsträgern liege. Tschetschenische geistliche Amtsträger hätten beschlossen, dass Brautraub mit einer Geldstrafe in Höhe von einer Million Rubel [ca. 19.080 Euro, Anm. ACCORD] zu bestrafen sei:

„In the beginning of year 2011 the Head of Republic Ramzan Kadyrov placed responsibility for the ‘kidnapping’ of brides upon heads of administration, heads of police departments and the clergy along with kidnappers. One can only welcome any fighting against people being kidnapped. However fighting against bridal kidnapping in Chechnya sometimes takes strange forms. Law enforcement workers take no actions regarding family members of those close to power, who are involved in such kidnappings. […] The clergy of Chechnya has decided to set a penalty at a rate of one million roubles for bridal kidnapping. But who establishes the fact of kidnapping and in what manner? In practice it’s sometimes enough for the girl’s family to make a statement about kidnapping. The opinion of the kidnapped girl isn’t taken often into account.” (Memorial, 23. März 2012)

Auch Caucasian Knot, eine russische Nachrichtenseite, die schwerpunktmäßig über Menschenrechtsthemen im Nordkaukasus berichtet, geht in einem Artikel vom Jänner 2012 auf das im Oktober 2010 von Kadyrow erlassene Verbot von Brautentführungen ein. Damals hätten geistliche Vertreter erklärt, dass künftig Bürger, die des Brautraubs schuldig seien, zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von einer Million Rubel an die Familie der Entführten verpflichtet würden und Geistliche, welche die Eltern einer Entführten zur Einwilligung in eine Eheschließung zwingen würden, sofort ihres Amtes enthoben würden. Ebenso müssten die Leiter der Rajonverwaltungen und der Polizeikommissariate in Fällen von Brautraub Verantwortung übernehmen:

Напомним, в октябре 2010 года власти Чечни объявили запрет на обычай похищения невест, существующий в республике. Глава республики Рамзан Кадыров заявил, что практика похищения невест противоречит не только нормам исламской религии, но и традициям и обычаям чеченцев, и что эта практика должна быть искоренена из нашего общества.

Тогда же представители духовенства заявили, что отныне виновный в похищении невесты житель республики обязан будет выплатить ее семье штраф в размере одного миллиона рублей, а религиозный деятель, который будет принуждать родителей похищенной согласиться на брак их дочери с похитителем, будет немедленно снят с должности. Также за похищение придется отвечать главам районных администраций и начальникам отделов милиции.“ (Caucasian Knot, 6. Jänner 2012)

Der russische Auslandsfernsehsender Russia Today (RT) berichtet im November 2010, dass Tschetschenien neue Gesetze eingeführt habe, um die Praxis des Brautraubs „auszumerzen“. Diese Gesetze würden vorsehen, dass Brautentführer mit einer Gefängnisstrafe sowie einer Geldbuße an die Familie des Mädchens zu rechnen hätten. Weiters würden auch religiöse Führer, die ein Mädchen dazu drängen würden, ihren Entführer zu heiraten, bestraft:

„Chechnya has introduced new laws to try and stamp out the practice of men kidnapping their brides. […] With the new laws coming into force, bride kidnappers will face a prison sentence and will have to pay over US$ 30,000 in fines to the girl's family. Even religious leaders pushing a girl to marry her kidnapper will be punished.” (RT, 11. November 2010)

Strafrechtliche Verfolgung bei Versuch bzw. Durchführung einer Zwangsheirat

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine Informationen zur Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung von versuchter bzw. tatsächlich erfolgter Zwangsheirat gefunden werden.

 

Folgende Berichte behandeln das gerichtliche bzw. behördliche Vorgehen bei versuchtem bzw. erfolgtem Brautraub:

 

Der Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) vom September 2014 schreibt unter Berufung auf ein im Jahr 2011 geführtes Interview mit einer NGO in Grosny, dass infolge der Resolution von Kadyrow von 2010 die Zahl der Brautentführungen laut Berichten leicht abgenommen habe. Nach Angaben derselben NGO gebe es in Tschetschenien weiterhin Fälle von Brautraub, allerdings erfolge dieser in verborgenerer Form als zuvor.

Weiters bemerkt der Bericht des EASO, dass laut Auskunft einer im Nordkaukasus tätigen internationalen Organisation aus dem Jahr 2009 Brautentführer in der Praxis nicht nach dem Gesetz bestraft würden. Laut dieser Organisation werde die Polizei äußerst selten in Fällen von Brautraub oder Zwangsheirat kontaktiert, da solche Vorfälle Familienangelegenheiten darstellen würden.

Nach der Verabschiedung der Resolution von Kadyrow im Jahr 2010 habe man laut Auskunft von Human Rights Watch (HRW) und der oben genannten NGO in Grosny aus dem Jahr 2011 erwartet, dass sich die Situation ändere und es leichter werden könnte, Fälle von Brautraub bei den Behörden zur Anzeige zu bringen. Laut Angaben von Swetlana Gannuschkina (Komitee Bürgerbeteiligung) (2012 und 2013) und Human Rights Watch (HRW) (2013) würden nun mehrere Fälle vorliegen, in denen Männer nach Begehung eines Brautraubs verurteilt worden seien:

„This resolution allegedly led to a slight drop in the number of bride kidnappings. According to the same NGO mentioned above, bride kidnappings still occur in Chechnya, but are now more concealed.” (EASO, September 2014, S. 22)

„In practice, bride kidnappers are not punished in accordance with the law. According to a representative of an international organisation contacted in February 2009, in the North Caucasus region the police are never or very rarely contacted in cases that concern bride kidnapping or forced marriage, as such incidents are a family matter.

With Ramzan Kadyrov’s resolution in 2010, it was assumed that the situation might change and that it might become easier to report cases of bride kidnapping to the authorities. According to Svetlana Gannushkina from the Civic Assistance Committee and HRW, there are now several examples of men having been convicted after having committed bride kidnapping.” (EASO, September 2014, S. 23)

Das Menschenrechtszentrum Memorial bemerkt in seinem oben genannten Bericht vom März 2012, dass der Kampf der Behörden gegen Brautraub bisweilen eigenartige Formen annehme. So würde die Polizei nicht gegen Familienangehörige von Personen vorgehen, die den Machtzentren nahestünden (Memorial, 23. März 2012).

 

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet im Jänner 2011, Kadyrow habe eingeräumt, dass er Mühe damit habe, die alte Praxis des Brautraubs abzuschaffen. Seinen Angaben zufolge hätten „die lokalen Behörden die Situation nicht völlig unter ihrer Kontrolle“. Laut Kadyrow habe der Brautraub weder im Islam noch im russischen Recht einen Platz. Weiters habe er auf den Fall einer versuchten Brautentführung im Dezember 2010 hingewiesen, bei dem es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Familien der Frau und des Mannes gekommen sei, nachdem sich die Frau geweigert habe, den Mann zu heiraten. Nach eigenen Angaben habe Kadyrow einen örtlichen Imam, der die Entführung bewilligt habe, entlassen.

Nachdem Kadyrow im Oktober 2010 zu einem Ende der Brautentführungen aufgerufen und eine Geldstrafe von einer Million Rubel festgelegt habe, sei im November desselben Jahres das erste Strafverfahren wegen Brautraubs eröffnet worden. Allerdings würden viele Menschen in Tschetschenien, darunter auch Frauen, Brautraub als einen zentralen Teil ihrer regionalen Identität betrachten:

„The leader of Russia's Muslim Chechnya region has admitted he is struggling to end the age-old practice of bride kidnapping, which conflicts with Russian law. […]

‘Local authorities are not fully in charge of this situation ... Bride kidnapping has no place in Islam, nor in Russian law,’ Kadyrov told a Chechen government meeting, in comments published on Wednesday on the official www.chechnya.gov.ru website. […]

Kadyrov referred to the attempted kidnapping of a young woman on Dec. 28 in the village of Geldagen, which sparked a physical fight between the families of the potential bride and groom after the woman put up resistance.

Kadyrov said he had sacked a local imam who had approved of the kidnapping. […]

Kadyrov first called for an end to bride kidnapping in October, when he set a 1 million rouble ($33,180) fine, and in November the first criminal case involving the practice opened.

But many in Chechnya, even women, see bride kidnapping as a central part of local identity.” (Reuters, 13. Jänner 2011)

Laut Caucasian Knot habe die Polizei im Jänner 2012 einen jungen Mann im Bezirk Sunscha (Tschetschenien) verhaftet, der ein Mädchen entführt hatte, um es zu heiraten. Nach Angaben des tschetschenischen Innenministeriums könne er zu einer Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren verurteilt werden:

Полиция задержала 5 января в Сунженском районе Чечни молодого мужчину, похитившего девушку с целью вступления в брак, проинформировали в МВД [Министерство внутренних дел] республики. Житель Сунженского района накануне совершил похищение молодой девушки с целью вступления в брак, помимо ее воли. Несостоявшийся жених задержан и находится под стражей. За совершение этого преступления ему грозит до десяти лет лишения свободы, - уточнили в правоохранительных органах.“ (Caucasian Knot, 6. Jänner 2012)

Die Nachrichtenagentur RIA Novosti berichtet im November 2010 über das erste Strafverfahren wegen Brautraubs in Tschetschenien, nachdem diese Praxis von den Behörden verboten worden sei. In diesem Fall habe es sich nicht um einen „herkömmlichen“ Brautraub gehandelt, da der betreffende Mann seine Ex-Frau in der Stadt Gudermes entführt habe. Der Frau sei kurze Zeit später die Flucht gelungen:

The first criminal case on stealing brides has been launched in Chechnya after the Russian North Caucasus republic's authorities banned the practice of bride kidnappings, investigators said. This particular incident is not a ’standard’ bride kidnapping as a man abducted his ex-wife in the town of Gudermes. The woman escaped shortly after.” (RIA Novosti, 3. November 2010)

Im Oktober 2010 zitiert Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) die Human Rights Watch (HRW)-Rechercheurin Tanja Lokschina mit der Aussage, dass es vereinzelte Hinweise darauf gebe, dass die Zahl der Brautentführungen stark im Ansteigen begriffen sei. Als wichtigsten Grund für diesen Anstieg nennt Lokschina das geringe Risiko einer Strafverfolgung. (RFE/RL, 21. Oktober 2010)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 23. Oktober 2014)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Zwangsheirat (Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan) [a-7488], 13. Jänner 2011

http://www.ecoi.net/file_upload/response_de_153952.html

·      Caucasian Knot: Житель Чечни задержан по подозрению в похищении невесты [Ein Einwohner Tschetscheniens wurde wegen Vorwurfs der Brautentführung verhaftet], 6. Jänner 2012

http://www.kavkaz-uzel.ru/articles/198845/

·      EASO - European Asylum Support Office: Chechnya: Women, Marriage, Divorce and Child Custody, September 2014 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/file_upload/90_1412929576_2014-10-10-easo-coi-report-chechnya.pdf

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Tsjetsjenia: Kvinner i Tsjetsjenia, 28. Juni 2013 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1387467159_2496-1.pdf

·      Memorial: Chechnya: Fighting For Women’s Moral Look Is Becoming More and More Severe, 23. März 2012

http://www.memo.ru/eng/news/2012/03/23/2303121.htm

·      NZZ - Neue Zürcher Zeitung: Raub der Tschetscheninnen, 8. November 2011

http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/raub-der-tschetscheninnen-1.8303420

·      Reuters: Muslim Chechnya struggles to end bride kidnapping, 13. Jänner 2011 (verfügbar auf Factiva)

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Despite Official Measures, Bride Kidnapping Endemic In Chechnya, 21. Oktober 2010

http://www.rferl.org/content/Despite_Official_Measures_Bride_Kidnapping_Endemic_In_Chechnya/2197575.html

·      RIA Novosti: Chechnya introduces fine for bride kidnapping, 6. Oktober 2010

http://en.ria.ru/russia/20101006/160855432.html

·      RIA Novosti: Bride stealing case launched in Russia's Chechnya, 3. November 2010

http://en.ria.ru/society/20101103/161201746.html

·      RT – Russia Today: Bride kidnapping no longer legal in Chechnya, 11. November 2010

http://rt.com/news/kidnapping-brides-chechnya-forbidden/

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2013 - Russia, 27. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)

https://www.ecoi.net/local_link/270638/399498_de.html