Document #1147856
AI – Amnesty International (Author)
Die Regierung nahm die immer noch geltende Notstandsgesetzgebung zum Anlass, friedliche Kritiker und Oppositionelle festzunehmen und Personen, die angeblich die Sicherheit gefährdet hatten oder unter Terrorismusverdacht standen, zu inhaftieren. Viele von ihnen wurden in Verwaltungshaft genommen oder erhielten nach unfairen Gerichtsverfahren vor Militärgerichten Haftstrafen. Folter und andere Misshandlungen blieben in Polizeistationen, Haftzentren der Sicherheitspolizei und Gefängnissen weiterhin an der Tagesordnung. Die meisten der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gingen straflos aus. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit blieben stark eingeschränkt. Journalisten und Blogger wurden strafrechtlich verfolgt oder inhaftiert. Hunderte von Familien, die in Kairos "unsicheren Stadtvierteln" wohnten, mussten ihre Häuser zwangsweise verlassen. Viele wurden obdachlos, andere ohne sicheres Wohnrecht umgesiedelt. Vermeintlich homosexuelle Männer sahen sich strafrechtlicher Verfolgung mit Berufung auf ein "Gesetz gegen Ausschweifungen" ausgesetzt. Mindestens 19 Menschen wurden bei dem Versuch, die Grenze zu Israel zu überschreiten, von Grenzposten erschossen. Berichten zufolge hatten sie keine Bedrohung dargestellt. Mindestens 269 Menschen erhielten die Todesstrafe, mindestens fünf Verurteilte wurden hingerichtet.
In Ägypten galt weiterhin die Notstandsgesetzgebung, die seit 1981 ununterbrochen in Kraft ist; erst im Mai 2008 war der Notstand verlängert worden. Im April ließ die Regierung verlautbaren, der Entwurf des lange erwarteten Antiterrorgesetzes sei bis auf einen Absatz ausformuliert. Von dem Gesetz hatte man sich ursprünglich die Aufhebung des Notstands versprochen. Es war jedoch zu befürchten, dass dieses Gesetz die Behörden dauerhaft mit den Notstandsvollmachten ausstatten würde, die bereits in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen Vorschub geleistet hatten. Bis Ende 2009 lag der Gesetzentwurf noch nicht vor.
Im Januar kam es zu Demonstrationen gegen die israelische Militäroffensive im Gazastreifen und die Reaktionen der ägyptischen Regierung darauf. Die Grenze zum Gazastreifen blieb den größten Teil des Jahres geschlossen, auch während der Offensive. Somit war es vielen Palästinensern nicht möglich, in Ägypten Zuflucht zu suchen. Die Behörden ließen nur Kranke und Verwundete sowie Hilfsgüterlieferungen passieren. Im Dezember kündigten die Behörden den Bau eines Stahlzauns entlang der Grenze zu Gaza an. Damit sollte der Schmuggel unterbunden werden. Rund 1000 Menschen aus 43 Ländern, die sich in Kairo versammelt hatten, bekamen keine Erlaubnis, aus Anlass des ersten Jahrestages der israelischen Militäroffensive in einem friedlichen Marsch humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen. Viele der Demonstranten wurden von der Polizei tätlich angegriffen.
Im Februar kam eine Frau bei einem Bombenanschlag in Kairo ums Leben; 25 Personen wurden verletzt, die meisten von ihnen ausländische Touristen. Im Mai schrieben die Behörden den Anschlag einer Al-Qaida und der Palästinensischen Islamischen Armee (Palestinian Islamic Army - PIA) nahestehenden Gruppierung zu.
Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Ayman Nour wurde im Februar aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen. Im November hinderten ihn die Behörden an der Ausreise in die USA.
Bei vereinzelten Zusammenstößen zwischen koptischen Christen und Muslimen kamen mehrere Menschen ums Leben oder wurden verletzt. Im März wurden die Häuser von Baha'i in al-Shuraniyya, einem Dorf im Gouvernement Sohag, niedergebrannt. Berichten zufolge hatten einige Medien zu Hass und Gewalt gegen die Baha'i aufgerufen.
Im April verabschiedete das Parlament das Gesetz zur Pflege von psychisch kranken Personen, um deren Rechte abzusichern.
Im Juni wurde die Anzahl der Parlamentssitze im Unterhaus von 454 auf 518 erhöht. 64 davon wurden für Frauen reserviert, um eine größere Beteiligung der Frauen im öffentlichen Leben zu fördern.
Einige der 2009 vorgelegten Gesetzentwürfe enthielten weitere Restriktionen für NGOs, andere sahen für die Diffamierung monotheistischer Religionen und ihrer Propheten Gefängnisstrafen und Geldbußen vor. Im November verlangten NGOs, dass ein Gesetzesentwurf von 2007, der Vergewaltigungsopfern eine Abtreibung ermöglichen soll, endlich vom Parlament beraten werden müsse.
Steigende Lebensmittelpreise und Armut führten zu einer Welle von Arbeitnehmerstreiks im privaten und öffentlichen Sektor.
Nach einem Bombenanschlag in Kairo im Februar wurden zahlreiche Personen festgenommen. Im Mai bestätigten die Behörden die Inhaftierung von sieben Verdächtigen, darunter eine französische Staatsbürgerin albanischer Herkunft. Den Häftlingen wurde zur Last gelegt, ausländische Studenten und andere Personen für Terroranschläge in Ägypten und im Ausland rekrutiert zu haben. Mindestens 41 Bürger ausländischer Staaten wurden inhaftiert und anschließend in ihre Heimatländer ausgewiesen. Unter den Ausgewiesenen befanden sich russische und französische Staatsbürger, die in Ägypten wohnhaft waren und angaben, Arabisch und Islamwissenschaften zu studieren. Einige von ihnen waren dem Vernehmen nach während der Haft gefoltert und anderweitig misshandelt worden. Sie hatten keine Möglichkeit erhalten, die Rechtmäßigkeit ihrer Ausweisung gerichtlich prüfen zu lassen. Mehreren der Ausgewiesenen könnten nach ihrer zwangsweisen Rückführung in ihre Heimatländer Menschenrechtsverletzungen drohen.
Der UN-Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus stattete Ägypten im April einen sechstägigen Besuch ab. Sein im Oktober erschienener Bericht kritisierte die Antiterrorpolitik der Regierung sowie die unangemessene Einschränkung der Menschenrechte. Er forderte die Regierung mit Nachdruck auf, den Notstand aufzuheben, der eher den "Normalzustand" als eine Ausnahmeregelung darstelle.
Unter Rückgriff auf Bestimmungen der Notstandsgesetzgebung inhaftierten die Behörden nicht nur Menschen, die unter dem Verdacht des Terrorismus oder der Bedrohung der inneren Sicherheit standen, sondern auch friedliche Kritiker der Regierung. Einige von ihnen wurden trotz gerichtlicher Anordnung zur Haftentlassung weiterhin gefangen gehalten. In derartigen Fällen erließ das Innenministerium neue Haftbefehle als Ersatz für die von den Gerichten für ungültig erklärten und untergrub damit den Stellenwert gerichtlicher Kontrolle und Aufsicht.
Vor Militär- und Sondergerichten fanden nach wie vor grob unfaire Prozesse gegen Zivilisten statt, welche nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprachen. Mindestens drei Zivilpersonen wurden in solchen Verfahren zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt.
Folterungen und andere Misshandlungen kamen in den Polizeiwachen, Gefängnissen und Haftzentren des SSI systematisch zur Anwendung. Die meisten der Verantwortlichen gingen straffrei aus. Die Polizei drohte den Opfern mit erneuten Verhaftungen, falls sie Beschwerde einlegen würden. Dennoch wurden einige mutmaßliche Folterer 2009 vor Gericht gestellt.
Mindestens vier Menschen starben im Gewahrsam, offenbar infolge von Folterungen und anderen Misshandlungen.
Die Behörden schränkten auch 2009 das Recht auf Meinungsfreiheit und die Arbeit der Medien ein. Regierungskritische Journalisten und Blogger wurden schikaniert, mit Verhaftung bedroht und wegen Verleumdung strafrechtlich verfolgt. Bücher und ausländische Zeitungen unterlagen der Zensur, wenn sie über Themen berichteten, die als Tabus galten oder angeblich die nationale Sicherheit gefährdeten.
Die Behörden behinderten weiterhin die Arbeit von politischen Parteien, NGOs, Berufsverbänden und Gewerkschaften mithilfe von gesetzlichen Beschränkungen und anderen Kontrollmaßnahmen. Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft und anderer Oppositionsgruppen sahen sich Schikanen und Verhaftungen ausgesetzt.
Die Regierung stellte weiterhin einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Männern unter Strafe.
Nachdem das Oberste Verwaltungsgericht im März entschieden hatte, dass Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Baha'i Personalausweise erhalten können, ohne Angaben zu ihrer Konfession machen zu müssen, verfügte der Innenminister per Dekret, dass diese Regelung auch für Angehörige anderer Religionen gelte. Sie müssen sich jetzt nicht mehr als Muslime, Christen oder Juden zu erkennen geben.
Verwaltungsgerichte ordneten mehrfach die Aufhebung des Verbots von Gesichtsschleiern (niqab) an. Universitäten und Ministerien hatten Frauen und Mädchen das Tragen des Schleiers in ihren Institutionen untersagt.
In 26 Armenvierteln im Großraum Kairo, die 2008 im Rahmen eines Masterplans der Regierung für die Stadtentwicklung bis zum Jahr 2050 als "unsicher" bezeichnet worden waren, sahen sich die Bewohner weiterhin in zweifacher Hinsicht bedroht: zum einen durch Steinschlag, Hochspannungsleitungen und ähnliche Gefahren, zum anderen durch Zwangsräumungen. In den "unsicheren Stadtvierteln" gab es keine oder nur sehr unzureichende Absprachen mit den betroffenen Gemeinden.
Zwangsräumungen fanden auf Anordnung der örtlichen Behörden in al-Duwayqah, Establ Antar und Ezbet Khayrallah statt. Diese Stadtviertel gelten alle als "unsicher". Die Bewohner siedeln auf staatseigenen Grundstücken und sind von Steinschlag bedroht. Die Zwangsräumungen wurden ohne vorherige Ankündigung und ohne Absprache mit den betroffenen Gemeinden durchgeführt. Die Bewohner bekamen zuvor keine schriftliche Benachrichtigung und konnten somit keine gerichtliche Untersuchung zur Rechtmäßigkeit der Maßnahme einfordern. Im Juni wurden rund 28 Familien aus Atfet al-Moza und al-Duwayqah obdachlos, als die Behörden sie aus ihren Häusern vertrieben, angeblich, um den Felsabhang zu sichern, auf dem die Familien gewohnt hatten. Mehreren Einwohnern von Establ Antar wurde gesagt, sie sollten ihre Häuser abreißen oder man werde sie zwangsräumen.
Nachdem im September 2008 mindestens 119 Bewohner des Armenviertels al-Duwayqah bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen waren, hatten die Behörden zum Ende des Jahres 2009 etwa 4000 Familien in andere Gebiete umgesiedelt. Etwa 1400 weitere Familien aus Establ Antar und Ezbet Khayrallah fanden in der 6 October City südwestlich von Gise und somit weit entfernt von ihrem früheren Lebensmittelpunkt eine Bleibe. Die umgesiedelten Familien erhielten jedoch keine Urkunden, die den rechtmäßigen Besitz ihrer neuen Grundstücke sicherten. Getrennt lebende oder geschiedene Frauen bekamen keinen Wohnraum zugeteilt.
Im Dezember 2009 erhob die Staatsanwaltschaft gegen acht Beamte der Kairoer Gouvernementverwaltung und der Stadtteilverwaltung von Manshiyet Nasser Anklage wegen fahrlässiger Tötung im Zusammenhang mit den tödlichen Erdrutschen von al-Duwayqah.
Mindestens 19 Menschen wurden von den ägyptischen Sicherheitskräften beim Versuch, die Grenze zu Israel zu überschreiten, erschossen. Alle waren vermutlich ausländische Staatsbürger und Migranten, Flüchtlinge oder Menschen, die in Ägypten Asyl gesucht hatten. Im September verteidigte die Regierung die Anwendung von Gewalt mit Todesfolge. Diese Praxis solle die Grenzen Ägyptens schützen und wende sich gegen "Unterwanderer", Drogen- und Waffenschmuggler.
2009 wurden mindestens 269 Todesurteile gefällt und mindestens fünf Menschen hingerichtet.
Delegierte von Amnesty International statteten Ägypten im Berichtsjahr mehrere Besuche ab, um Nachforschungen anzustellen, und nahmen an Konferenzen und Workshops teil.
Buried alive: Trapped by poverty and neglect in Cairo's informal settlements (MDE 12/009/2009)
Egypt: Government should immediately release Musaad Abu Fagr and Karim Amer (MDE 12/029/2009)
Egypt: Government must urgently rein in border guards (MDE 12/032/2009)
Egyptian court overturns journalists' prison sentences, 2 February 2009
Egypt: Military Court of Appeals fails to rectify injustice, 19 November 2009
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Amnesty International Report 2010 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)