Konfliktporträt: Kurdenkonflikt

Der gemeinsame Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) hat zur Vernetzung der verschiedenen Kurden-Konflikte und einem Image-Wandel der Kurden im Westen beigetragen. Wurden die Kurden bisher vor allem als Problem wahrgenommen, sind sie nun ein willkommener Allianz-Partner gegen den IS.
 

Die aktuelle Situation



Im Zuge der Blitzoffensive des IS gegen die irakische Zentralregierung seit Juni 2014 gerieten auch die Autonome Region Kurdistan und weitere kurdisch besiedelte Gebiete unter Druck. Als Reaktion darauf kam es zu einem Eingreifen des Westens. Westliche Staaten unterstützen mit Waffenlieferungen die "Kurdische Regionalregierung" (KRG) im Irak und führen Luftschläge gegen Stellungen des IS. Es waren letztlich kurdische Kämpfer der "Einheiten zum Schutz des Volkes" (YPG), des bewaffneten Arms der "Partei der Demokratischen Union" (PYD) in Syrien, die entscheidend zur Rettung der in einer Bergregion im Norden des Irak eingeschlossenen Jesiden beitrugen. Mit der Unterstützung des Westens gelang es den "Peshmerga"-Truppen der KRG vorerst, den weiteren Vormarsch des IS in kurdische Gebiete im Irak aufzuhalten. Bis Dezember 2014 waren bereits über 700 "Peshmerga"-Kämpfer gefallen.

Seitdem hat sich der Fokus des Konflikts wieder nach Syrien verschoben. Schon ab April 2014 gab es vermehrt Versuche des IS, den Distrikt Kobanê (arabisch auch Ain al-Arab) einzunehmen. Diese Kampfhandlungen haben sich seit September massiv verstärkt. Die Schlacht um Kobanê ist in vielerlei Hinsicht zu einem Schlüsselereignis geworden. Kobanê ist fast komplett von Truppen des IS eingekesselt, abgesehen von einem Grenzübergang in die Türkei. Die Verteidigung des Distrikts wird von den syrischen YPG organisiert. Sie wird vom Westen und einer Allianz arabischer Staaten mit Luftschlägen sowie von irakischen Peshmerga, der PKK und der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) mit Kämpfern und Material unterstützt. Im Oktober ermöglichte die Türkei einer kleinen Gruppe von Peshmerga-Kämpfern die Passage nach Kobanê. Ansonsten ist die Grenze weitgehend geschlossen, und die türkische Regierung lehnt eine direkte Unterstützung für die YPG ab. Offiziell wird das damit begründet, dass die YPG der PKK nahestehe und deshalb als Terrororganisation anzusehen sei.

In der Türkei hatte der damalige Premierminister und heutige Präsident Recep Tayyıp Erdoğan mit seinem "Demokratiepaket" am 30. September 2013 den Kurden mehr kulturelle Rechte eingeräumt. Im Anschluss daran begannen zaghafte Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der PKK. Die Situation in Kobanê hat nun die Aussichten auf eine Einigung massiv verschlechtert. Die türkische Regierung verhält sich bisher äußerst zurückhaltend im Kampf gegen den IS, was wohl zum Teil mit der Angst vor Anschlägen in der Türkei begründet ist. Die Kurden fühlen sich von dieser Politik verraten. Entsprechend kam es im Oktober zu Protesten in der Türkei. Nach einem Angriff auf einen militärischen Außenposten bombardierte die türkische Armee erstmals wieder PKK Stellungen. Einige Tage später wurden drei türkische Soldaten von maskierten Männern erschossen. Experten warnen deshalb vor dem kompletten Scheitern der Friedensgespräche, insbesondere dann, wenn Kobanê im Kampf gegen den IS fallen sollte.

Im weitgehend schiitischen Iran gibt es weiterhin Spannungen mit den überwiegend sunnitischen Kurden. Obwohl die "Partei für ein Freies Leben in Kurdistan" (PJAK) im September 2011 einen Waffenstillstand verkündete, kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften. Die Armee erklärte z.B. im Juni 2014, sie hätte zwei "Terroristen" der PJAK getötet. Eine Veränderung könnte ein Strategiewechsel auf Seiten der PJAK bringen. Sie hat die "Organisation für eine Freie und Demokratische Gesellschaft für Rojhelat" (KODAR) gegründet und die Regierung in Teheran zu einem Dialog über eine autonome, lokale Selbstverwaltung aufgerufen.
 

Ursachen und Hintergründe des Konflikts



Die Ursprünge der Kurdenproblematik lassen sich auf den Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg zurückführen. Waren die Kurden bis dahin eine Entität neben anderen, traten nun vor allem Türken, Araber, Perser und Armenier als ethnische Gruppen in Erscheinung, die sich für die Bildung eines eigenen Nationalstaates einsetzten. Die Grenzen der neu geschaffenen Staaten verliefen quer durch die kurdischen Siedlungsgebiete, bestehende familiäre und ökonomische Beziehungen wurden dadurch unterbrochen. Die Kurden sahen sich bald starken Repressalien ausgesetzt.

Die Kurden (ca. 24-27 Mio.) bezeichnen sich als "größtes Volk ohne Land". Beheimatet in fünf Ländern (Türkei ca. 13 Mio., Irak ca. 4 Mio., Iran ca. 5,7 Mio., Syrien ca. 1 Mio. und Armenien ca. 400.000) sind sie höchst verschieden und teilweise zerstritten. Es gibt drei kurdische Sprachen und unterschiedliche Religionszugehörigkeiten, vor allem Sunniten, Jesiden, Aleviten und assyrische Christen. Die Frage, wer Kurde ist, ist in vielen Fällen nicht leicht zu beantworten. Gleiches gilt für die Grenzen der kurdischen Gebiete und die Geschichtsschreibung.

Die Republik Türkei unter Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk betrieb seit ihrer Gründung 1923 unter dem Slogan "Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin ein Türke" die Schaffung einer türkischen Nation. Der Status geschützter Minderheiten wurde lediglich Griechen, Armeniern und Juden zuerkannt – eine Folge des Osmanischen Millet-Systems, das die Bevölkerung gemäß ihrer Religionszugehörigkeit (Muslime, Christen, Juden) einteilte und behandelte. Die Kurden wurden nicht als eigenständige Minderheit anerkannt. Seitdem wurden kurdische Traditionen, ihre Sprache und Kultur weitgehend negiert und unterdrückt.

In den anderen, neu entstandenen Staaten erging es den Kurden nicht besser. Besonders prekär war ihre Lage in Iran unter Ayatollah Khomeini und im Irak unter Saddam Hussein, die beide 1979 an die Macht kamen. In den nachfolgenden Kriegen und Konflikten zwischen beiden Staaten wurden die Kurden beiderseits der Grenze als Sündenböcke abgestempelt und massiv diskriminiert.
 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze



Führende Kräfte auf kurdischer Seite haben vorerst Versuche der Schaffung eines gemeinsamen Staates aufgegeben. Die friedliche Eingliederung der Kurden in bestehende staatliche Strukturen erscheint aber kurzfristig nur in Iran wahrscheinlich.

Obwohl die türkische Regierung seit dem Amtsantritt von Premierminister Erdoğan in der Kurdenfrage deutlich realistischer agiert als ihre Vorgängerinnen, wird es immer wahrscheinlicher, dass der Friedensprozess scheitern wird. Die türkische Regierung hatte in Syrien islamistische Kräfte unterstützt, um die Regierung von Bashar al-Assad zu schwächen. Auch wenn diese Politik nun nicht mehr weiterverfolgt wird, ist Erdoğan aus innen- und sicherheitspolitischen Überlegungen nicht bereit, sich dem Kampf gegen den IS voll anzuschließen. Die Türken sehen die internationale Unterstützung für die syrische PYD extrem kritisch. Die PKK wiederum gibt der Solidarität mit der PYD und den syrischen Kurden den Vorrang gegenüber dem Friedensprozess mit der türkischen Regierung. Eine Entwaffnung der PKK, wie von der türkischen Regierung gefordert, ist solange unvorstellbar, wie die PKK meint, ihre Waffen zur Selbstverteidigung gegen den IS zu brauchen.

Auch im Irak wird das Verhältnis zwischen den Kurden und der Zentralregierung immer komplizierter. Nach Unstimmigkeiten Ende 2013 entschied die Regierung von Nuri al-Maliki Anfang 2014, Zahlungen nach Kurdistan einzustellen. Daraufhin begann KRG-Präsident Masoud Barzani, Erdöl direkt zu verkaufen. Anfang Juli erklärte Barzani, dass er die Absicht habe, noch im selben Jahr ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Diese Pläne wurden zwar vorerst zurückgestellt, um sich auf den Kampf gegen den IS zu konzentrieren, dennoch erscheint die Rolle der KRG im Gesamtirak zunehmend problematisch. Die Streitigkeiten zwischen der Regierung in Bagdad und der KRG werden zusätzlich durch den ungeklärten Grenzverlauf der kurdischen Gebiete verschärft. Direkte Waffenlieferungen des Westens und des Iran an die Kurden stellen das Machtmonopol der Regierung in Bagdad nun auch auf der internationalen Ebene in Frage.

In Syrien ist die Zukunft der Kurden aufgrund der unklaren politischen Lage weiterhin völlig ungewiss. Eine schnelle Lösung des Syrienkonflikts erscheint illusorisch. Dennoch ist nicht mit der Aufteilung Syriens in mehrere international anerkannte Staaten zu rechnen. Es ist eher zu erwarten, dass die Kurden auch in Syrien zunehmend von anderen Ländern unterstützt werden, weil sie eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS spielen. Die weitere Entwicklung wird in hohem Maße davon abhängen, in welchem Umfang es zu einer Kooperation von Peshmerga, PKK und YPG kommt.

Im Gegensatz zu Irak, Türkei und Syrien erscheint die Lage der Kurden in Iran eher vielversprechend. Viele Kurden in Iran unterstützten im Juni 2013 Hassan Rouhanis Wahl zum Staatspräsidenten, da er besondere Rechte für ethnische Minderheiten ankündigte. Der Strategiewechsel der PJAK und die Formierung der KODAR könnten einen nachhaltigen Lösungsweg eröffnen.
 

Geschichte des Konflikts



Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches waren die Kurden zur Minderheit in den fünf neu geschaffenen Staaten Armenien, Türkei, Irak, Iran und Syrien geworden. Als solche waren sie von Anfang an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Repressionen ausgesetzt. Die jahrzehntelange Diskriminierung der Kurden in der Türkei führte 1984 zum ersten bewaffneten Angriff der PKK gegen türkische Militäreinrichtungen. Seitdem fielen den Kämpfen nach offiziellen türkischen Angaben rund 45.000 Menschen zum Opfer. Zum Repertoire der PKK gehörten neben Entführungen und bewaffneten Überfällen auch Selbstmordattentate und die Ermordung von Türken – nicht nur in der Türkei. Attentate der PKK wurden von der türkischen Armee mit Luftangriffen auf kurdische Stellungen beantwortet, phasenweise auch auf irakischem Territorium.

In Iran war die Ausrufung der "Kurdischen Republik von Mahabad" am 22. Januar 1946 nur ein kurzes Intermezzo in den Wirren nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon nach elf Monaten hatten die iranischen Truppen das Gebiet wieder unter Kontrolle. Die islamische Revolution von 1979 verschärfte die ohnehin schwierige Situation für die Kurden, zentrale Führungsfiguren wurden vom Teheraner Regime ermordet.

Von der irakischen und iranischen Regierung wurden die Kurden bei der Ausfechtung ihrer wechselseitigen Konflikte oftmals instrumentalisiert. Sowohl Bagdad als auch Teheran unterstützten die Kurden der jeweils anderen Seite, damit diese dort die Zentralregierung destabilisieren. Im Krieg zwischen beiden Ländern von 1980-1988 verschärften sich die Repressalien, da die Kurden der Kollaboration mit der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden. Trauriger Höhepunkt auf irakischer Seite war der Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha im März 1988 mit tausenden Toten.

Nach der Niederlage Saddam Husseins gegen die alliierten Truppen im 2. Golfkrieg 1991 wurden die kurdischen Gebiete vom UN-Sicherheitsrat zur Flugverbotszone erklärt, um sie vor weiteren Angriffen der irakischen Armee zu schützen. Seitdem verwalten sich die Kurden mit der KRG faktisch selbst und greifen seit 2003 auch aktiv in die Geschicke des Gesamtirak ein.

In Syrien galten die Kurden in der "Arabischen Republik" meist als Bürger zweiter Klasse. Die Kriegswirren nutzend, haben sie im Nordosten des Landes eine leidlich funktionierende eigene Verwaltung ("Rojava") aufgebaut.

Der Traum eines vereinigten Kurdistans konnte nie realisiert werden und bleibt auf absehbare Zeit unrealistisch. Zugleich wird die friedliche Eingliederung der Kurden in die bisherigen Nationalstaaten wieder stärker in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz ist nicht mit einer schnellen Veränderung des Status Quo zu rechnen.
 

Literatur



Dolzer, Martin (2011): Der türkisch-kurdische Konflikt. Menschenrechte - Frieden - Demokratie in einem europäischen Land, Bonn: Pahl-Rugenstein.

Gunter, Michael M./Mohammed M.A. Ahmed (Hrsg.) (2014): The Kurdish Spring: Geopolitical Changes and the Kurds, Costa Mesa: Mazda Publishers.

Küchler, Hannelore (2011): Kurdistan – ein Land in Geiselhaft: Das Schicksal eines geschundenen Volkes. Berlin: Eigenverlag.

Meggle, Sarah (2009): Kurdistan im neuen Irak, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.

Strohmaier, Martin/ Yalcin-Heckmann, Lale (2010): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München: Verlag C.H. Beck.
 

Links



»Informationen, Analysen und Berichte zum Kurdenkonflikt der Arbeitsgemeinschaft Friedensforschung der Universität Kassel«

»International Crisis Group (2014): Turkey and the PKK: Saving the Peace Process, Nr. 234, 6. November 2014«

»Offizielle Internetpräsenz der Kurdischen Regionalregierung im Irak«
 

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