Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights

Amtliche Bezeichnung: Republik Sierra Leone
Staats- und Regierungschef: Ernest Bai Koroma
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 6 Mio.
Lebenserwartung: 47,8 Jahre
Kindersterblichkeit: 192,3 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 40,9%

Die Regierung bestätigte ein offizielles Hinrichtungsmoratorium. Vor allem in ländlichen Regionen war es für Mütter schwierig, medizinische Betreuung zu erhalten. Im Strafrechtssystem gab es erhebliche Verzögerungen. Die Gefängnisse waren überfüllt, die Haftbedingungen schlecht. Gewalt gegen Frauen und Mädchen war weit verbreitet. Im Vorfeld der für 2012 angesetzten Wahlen kam es zu Gewalttaten zwischen rivalisierenden politischen Parteien.

Hintergrund

Im Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor vor dem Sondergerichtshof für Sierra Leone (Special Court for Sierra Leone), der im niederländischen Den Haag stattfindet, wurde im März 2011 die Beweisaufnahme abgeschlossen. Taylor muss sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantworten, die während des elfjährigen Bürgerkriegs in Sierra Leone begangen wurden. Ihm werden u.a. Mord, Vergewaltigung, Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren für die Streitkräfte sowie andere unmenschliche Handlungen zur Last gelegt. Die Urteilsfindung war Ende 2011 noch nicht abgeschlossen.

Das Friedensabkommen von Lomé aus dem Jahr 1999 sieht eine Amnestie vor, so dass nur 13 Personen wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt wurden.
Am 5. Mai 2011 wurde das Schwerbehindertengesetz verabschiedet. Es sieht die Einrichtung einer nationalen Kommission für Menschen mit Behinderungen vor und verbietet die Diskriminierung Betroffener. Die Schaffung der Kommission ließ jedoch Ende 2011 weiterhin auf sich warten.

Bei der Überarbeitung der Verfassung wurden keine Fortschritte erzielt. Die Überarbeitung soll erst nach den Wahlen 2012 fortgesetzt werden.

Im Mai 2011 befasste sich der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) mit der Lage der Menschenrechte in Sierre Leone. Die Regierung akzeptierte alle Empfehlungen des Menschenrechtsrats, mit Ausnahme derjenigen über Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender.

Justizsystem

Die Richter waren überarbeitet und zu schlecht ausgebildet. Ständige Prozessverschiebungen, verlorene Akten, das Fehlen eines Gefangenentransportsystems zum Gericht und zurück sowie der Mangel an Richtern führten zu erheblichen Verzögerungen.

Ein Pilotprojekt für unentgeltliche Rechtsberatung verzeichnete gewisse Erfolge; allerdings wurde das Projekt nur in Freetown, der Hauptstadt des Landes, durchgeführt. Ein Gesetzentwurf über die Ausweitung der unentgeltlichen Rechtsberatung war Ende 2011 noch nicht ins Parlament eingebracht worden.
Traditionelle Gerichte (chief's courts) überschritten weiterhin ihre Kompetenzen. Es kam häufig vor, dass sie hohe Geldstrafen verhängten und Menschen willkürlich inhaftierten. Im September wurde ein neues Gesetz über die lokale erstinstanzliche Rechtsprechung (Local Courts Act) angenommen, das aber Ende 2011 noch nicht umgesetzt war.

Verantwortung von Unternehmen

Bei Landnutzungsvereinbarungen zwischen Unternehmen, Regierung und Gemeinden wurde die betroffene Bevölkerung in der Regel weder in angebrachter Form konsultiert noch informiert. Es gab auch keine Transparenz bei Entscheidungen, und die Betroffenen wurden eingeschüchtert. Einige Menschenrechtsverteidiger, die sich für die Pflicht von Unternehmen zur Rechenschaftslegung engagierten, waren ebenfalls Einschüchterungsversuchen ausgesetzt und wurden bedroht.

  • Im Oktober 2011 wurden im Chiefdom Sahn Malen (Bezirk Pujehun) 40 Männer und Frauen festgenommen, weil sie gegen den Vertrag protestiert hatten, mit dem ihr Land an die Palmöl- und Kautschukfirma Socfin verpachtet werden sollte. 15 Festgenommene wurden nach dem Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von 1965 wegen "Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" sowie "Zusammenrottung" angeklagt und für weitere sieben Tage in Untersuchungshaft gehalten, bevor man sie auf Kaution freiließ. Das Verfahren war Ende 2011 noch nicht abgeschlossen.

Zwangsräumungen

Am 11. Mai 2011 wurden mehr als 100 Menschen - behinderte Bewohner, Angehörige und Pfleger - von der Polizei aus einem Wohnheim und Trainingszentrum in Freetown vertrieben. Erst eine Woche vor der rechtswidrigen Zwangsräumung war eine Information über die Räumung an die Tür der Einrichtung geheftet worden. Die Polizei schoss Tränengas in das Gebäude und warf das Hab und Gut der Bewohner einfach auf die Straße.

  • Recht auf freie Meinungsäußerung
    Journalisten waren Schikanen, Drohungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt. Das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung von 1965, dessen Bestimmungen über staatsgefährdende Verleumdung die Meinungsfreiheit einschränken, wurde nicht aufgehoben. Ein Ende 2010 ins Parlament eingebrachter Gesetzentwurf über die Informationsfreiheit war Ende 2011 noch nicht angenommen worden.
  • Im September 2011 wurden vier Journalisten nach einem Fußballspiel von Angehörigen der Präsidentengarde zusammengeschlagen. Der für die BBC tätige Sportjournalist Mohamed Fajah Barrie wurde dabei so schwer verletzt, dass er ins Koma fiel. Präsident Koroma kündigte öffentlich eine Untersuchung des Vorfalls an. Bis Jahresende war aber noch keiner der Verantwortlichen angeklagt worden.

Müttersterblichkeit

Obwohl die Regierung im April 2010 eine umfassende kostenlose Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen und Mädchen eingeführt hatte, war es für Schwangere nach wie vor schwierig, die Medikamente und medizinische Behandlung zu erhalten, die sie für eine sichere Schwangerschaft und Geburt benötigten. Die Qualität der Betreuung war häufig schlecht, und obwohl die Gesundheitsversorgung eigentlich kostenlos war, zahlten viele Frauen auch weiterhin für dringend benötigte Medikamente. Die Zustände führten dazu, dass viele in Armut lebende Frauen und Mädchen während der Schwangerschaft und Geburt kaum oder gar nicht medizinisch betreut wurden. Ein großes Problem des Gesundheitswesens war, dass es keine effektiven Kontroll- und Rechenschaftsmechanismen gab. In den ländlichen Regionen war die Gesundheitsversorgung von Müttern besonders schlecht.

Polizei und Sicherheitskräfte

Schlechte Zustände in den Haftzellen der Polizei und unrechtmäßig lange Inhaftierungen ohne Anklageerhebung waren an der Tagesordnung. Bei sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt führte die Polizei häufig keine effektiven Ermittlungen durch.

  • Nach Streitigkeiten um Grund und Boden wurden im Juni 2011 neun Männer und Jugendliche auf dem Polizeirevier von Kissi 17 Tage in Gewahrsam gehalten. Zwei der Inhaftierten waren erst 15 bzw. 16 Jahre alt, und vier waren behindert. Sie wurden schließlich ohne Anklageerhebung aus dem Gewahrsam entlassen.

Haftbedingungen

Etliche Gefängnisse in Sierra Leone waren völlig überfüllt und ihre sanitäre Ausstattung meist extrem schlecht; als Toiletten dienten Eimer.

In Sierra Leone gab es drei Jugendhaftanstalten, zwei in Freetown und eine in Bo. In den anderen Landsteilen waren Kinder in den Hafteinrichtungen der Polizei und in Gefängnissen routinemäßig mit Erwachsenen in einer Zelle untergebracht. In der Regel gab die Polizei das Alter der Kinder, die sie ins Gefängnis überstellte, zu hoch an.

Ein Krankenhaus gab es nur im Gefängnis Pademba Road. Die Häftlinge mussten jedoch häufig bezahlen, um dort behandelt zu werden.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Familiäre Gewalt, Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt waren 2011 weiterhin weit verbreitet. Nur wenige Fälle wurden bei den Behörden angezeigt. Typisch für die Mehrzahl dieser Fälle waren oberflächliche Ermittlungen und eine geringe Zahl erfolgreicher Anklageerhebungen. Medizinische Einrichtungen stellten Opfern von sexueller Gewalt routinemäßig Atteste nur gegen Bezahlung aus. Ohne ein Attest war eine erfolgreiche strafrechtliche Verfolgung der Täter jedoch praktisch nicht möglich. Die gesellschaftliche Stigmatisierung, teure und einschüchternde Gerichtsverfahren sowie die Einmischung von Angehörigen und traditionellen Würdenträgern führten dazu, dass es häufig zu außergerichtlichen Einigungen mit den Tätern kam. Da die Sonderdezernate der Polizei für sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt mit zu wenig Personal ausgestattet und unterfinanziert waren, konnten sie das hohe Aufkommen an Fällen nicht bewältigen.
Nach wie vor gab es diskriminierende traditionelle Praktiken. Dazu gehörten auch Genitalverstümmelung sowie Zwangs- und Frühverheiratungen. Die Genitalverstümmelung bei Mädchen unter 18 Jahren war jedoch leicht rückläufig.
Menschenrechtsverteidiger wurden wegen ihres Kampfs gegen die Genitalverstümmelung schikaniert und bedroht. Die Genitalverstümmelung ist in Sierra Leone nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt.

Es wurden kaum Fortschritte erzielt, um die Lücken in dem Gesetz über familiäre Gewalt, dem Vermögensübergangsgesetz, dem Gesetz über die Registrierung von Eheschließungen und Ehescheidungen nach traditionellem Ritus sowie dem Kinderschutzgesetz zu schließen, die alle 2007 in Kraft getreten waren. Durch die bestehenden Gesetzeslücken wurde der gesetzliche Schutz der Frauen- und Kinderrechte ausgehöhlt. NGOs führten zwar Kampagnen durch, um die Gesetze bekannt zu machen, dennoch fanden sie bis Ende 2011 kaum Anwendung.

Es wurden keine Anstrengungen zur Abschaffung von Artikel 27 (4d) der Verfassung unternommen, der Diskriminierung von Frauen bei Adoption, Scheidung, Bestattung und Erbschaft zulässt.

Politisch motivierte Gewalt

2011 verschärften sich die politischen Spannungen zwischen den beiden größten Parteien, der Volkspartei von Sierra Leone (Sierra Leone People's Party - SLPP) und dem Allgemeinen Volkskongress (All People's Congress - APC). Grund dafür waren die für 2012 angesetzten Wahlen.

Die Ergebnisse und Empfehlungen des Shears Moses Independent Review Panel waren der Öffentlichkeit Ende 2011 immer noch nicht zugänglich. Die Kommission war 2009 eingesetzt worden, um die politisch motivierte Gewalt im März 2009 zu untersuchen.

  • Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern des APC und der SLPP am 9. September 2011 in Bo ging die Polizei mit Tränengas und scharfer Munition gegen die Beteiligten vor, um sie auseinanderzutreiben. Dabei gab es einen Toten und 23 Verletzte. SLPP-Anhänger wurden mit Steinen beworfen und die Büros der örtlichen APC-Zentrale in Bo niedergebrannt; eine Regionalvorsitzende der APC wurde durch Messerstiche verletzt. Präsident Koroma setzte zu den Vorfällen eine Untersuchungskommission ein, deren Empfehlungen bis Jahresende jedoch noch nicht umgesetzt worden waren.

Todesstrafe

Am 19. Mai 2011 sprach ein Gericht ein Todesurteil gegen einen Mann wegen Mordes aus. Ein weiterer Mann wurde am 26. Mai ebenfalls wegen Mordes zum Tode verurteilt. Ende 2011 saßen insgesamt zwei Männer und eine Frau in den Todeszellen ein.

Im März 2011 hob das Berufungsgericht das Urteil gegen eine Frau auf, die im Jahr 2005 wegen der Ermordung ihres Kindes zum Tode verurteilt worden war.

Im April begnadigten die Behörden zwei Männer und eine Frau, die in den Todeszellen einsaßen, und wandelten alle weiteren Todesurteile in lebenslange Freiheitsstrafen um. Nur das Urteil gegen Baby Allieu, die im November 2010 wegen Mordes zum Tode verurteilt worden war, wurde aufrechterhalten.

Im Dezember wurde in einem Berufungsverfahren das Todesurteil gegen eine Frau, die bereits 2010 auf Kaution freigelassen worden war, aufgehoben.

Im September 2011 bestätigte die Regierung ein offizielles Hinrichtungsmoratorium.
Amnesty International: Mission und Bericht Delegierte von Amnesty International besuchten Sierra Leone im September und November.

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