Document #1109579
Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Königreich Saudi-Arabien
Staats- und Regierungschef: König Abdullah Bin Abdul Aziz al-Saud
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 28,1 Mio.
Lebenserwartung: 73,9 Jahre
Kindersterblichkeit: 21 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 86,1%
Geplante Demonstrationen, die von den Protestbewegungen in anderen arabischen Ländern inspiriert waren, wurden rücksichtslos unterdrückt. Hunderte von Menschen, die sich an Protestaktionen beteiligten oder es wagten, sich für Reformen auszusprechen, wurden festgenommen. Einige von ihnen wurden unter Berufung auf Sicherheitsbelange oder aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt. Tausende von Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Sicherheitsgründen festgenommen worden waren, befanden sich 2011 noch immer in Haft. Das Justizwesen war weiterhin undurchsichtig; Informationen über Häftlinge, darunter auch gewaltlose politische Gefangene, wurden geheim gehalten. Folter und grob unfaire Gerichtsverfahren waren noch immer an der Tagesordnung. Gerichte verhängten erneut grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen, die auch vollstreckt wurden, vor allem Auspeitschungen. Frauen und Mädchen wurden weiterhin sowohl durch die Gesetzgebung als auch im täglichen Leben sehr stark diskriminiert und erlitten Gewalt. Eine Kampagne für Frauenrechte konnte sich etwas Gehör verschaffen, was zu Festnahmen führte, aber auch zu kleinen Fortschritten. Ausländische Arbeitsmigranten waren nach wie vor Ausbeutung und Misshandlungen durch ihre Arbeitgeber ausgesetzt, die in der Regel ungestraft blieben. Mindestens 82 Gefangene wurden hingerichtet. Dies bedeutete einen drastischen Anstieg der Hinrichtungen gegenüber den beiden vorangegangenen Jahren.
Geplanten Protestaktionen für politische Reformen begegnete die Regierung, indem sie Anfang 2011 die staatlichen Leistungen ausweitete und den Bürgern Berichten zufolge rund 127 Milliarden US-Dollar zukommen ließ. Dennoch kam es weiterhin vor allem in der Ostprovinz sporadisch zu Demonstrationen der dort ansässigen Schiiten. Sie warfen der Regierung Diskriminierung vor und forderten die Freilassung von politischen Gefangenen. Am 5. März bestätigte das Innenministerium erneut das strikte Verbot aller öffentlichen Kundgebungen. Ein von Reformbefürwortern für den 11. März geplanter "Tag des Zorns" wurde durch Drangsalierungen und einen massiven Aufmarsch von Sicherheitskräften vereitelt. Dessen ungeachtet wurden während des Berichtsjahrs Hunderte Menschen bei Protestaktionen festgenommen, vor allem Angehörige der schiitischen Minderheit, politische Aktivisten, die sich für Reformen einsetzten, sowie Frauenrechtlerinnen. Viele von ihnen kamen ohne Anklageerhebung wieder frei.
Am 15. März entsandte die saudi-arabische Regierung 1200 Soldaten mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen über den König-Fahd-Damm ins Nachbarland Bahrain. Die Truppen sollten helfen, die dortigen Protestkundgebungen für politische Reformen niederzuschlagen. Allem Anschein nach hatte die bahrainische Herrscherfamilie darum gebeten.
Im Shura-Rat, einem Gremium, das den König berät, wurde der Entwurf für ein neues Antiterrorgesetz diskutiert. Es war aber bis Ende 2011 noch nicht in Kraft getreten. Die Version des Gesetzentwurfs, die Amnesty International zugespielt wurde, sah zusätzliche und weitreichende Befugnisse für das Innenministerium vor sowie Gefängnisstrafen für alle, die Kritik am König oder an der Regierung übten. Außerdem war vorgesehen, dass Straftatverdächtige ohne Anklage oder Gerichtsverfahren mehr oder weniger unbegrenzt inhaftiert werden können. Denjenigen, die unter Anklage gestellt wurden, drohten unfaire Gerichts- und Berufungsverfahren. Für einige Vergehen war die Todesstrafe vorgesehen. Der Gesetzentwurf gab dem Innenministerium auch die Befugnis, ohne gerichtlichen Beschluss Telefonüberwachungen und Hausdurchsuchungen anzuordnen. Die überaus vage Definition des Begriffs Terrorismus bot Anlass zu der Befürchtung, das Gesetz könne zur Bestrafung und Unterdrückung kritischer Meinungsäußerungen missbraucht werden.
Tausende von Menschen, die bereits in den vergangenen Jahren wegen des Verdachts gegen die Staatssicherheit verstoßen zu haben inhaftiert worden waren, blieben auch nach der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstdauer von sechs Monaten ohne Anklage oder Gerichtsverfahren über längere Zeiträume hinweg in Gewahrsam. Unter den Gefangenen befanden sich u.a. Regierungskritiker, die bereits seit Monaten und Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftiert waren. Viele Häftlinge, die aus Gründen der Sicherheit inhaftiert worden waren, saßen bereits seit vielen Jahren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im Gefängnis, oder sie waren wegen Taten verurteilt worden, die nach internationalem Recht kein Verbrechen darstellen.
Verdächtige, denen man Verstöße gegen die Sicherheit vorwarf, wurden nach der Festnahme grundsätzlich ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und verhört, oft über Monate. Erst danach durften sie Besuch von ihren Familien bekommen. Viele der Gefangenen wurden gefoltert oder anderweitig misshandelt. Sie blieben meist so lange in Haft, bis die Behörden davon überzeugt waren, dass sie keine Gefahr mehr für die Sicherheit darstellten, oder die Häftlinge sich verpflichteten, ihre oppositionellen Tätigkeiten einzustellen. Einige von ihnen wurden freigelassen, unmittelbar danach aber erneut festgenommen; viele blieben ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft.
Die genaue Anzahl der Gefangenen, die aus Gründen der Sicherheit oder wegen vermeintlicher Verbindungen zum Terrorismus in Haft waren, konnte weiterhin nicht unabhängig ermittelt werden. Verlautbarungen der Regierung ließen jedoch Rückschlüsse auf das Ausmaß der Inhaftierungen in den vergangenen Jahren zu.
Im Februar ließ der Justizminister verkünden, dass das Sonderstrafgericht (Special Criminal Court - SCC) in Riad in 442 Fällen vorläufige Urteile gefällt habe; insgesamt gehe es um 765 Verdächtige, die aus Gründen der Sicherheit inhaftiert worden seien. Im April teilte das Innenministerium mit, in den vergangenen Jahren seien 5831 Menschen freigelassen worden, die wegen Verstößen gegen die Staatssicherheit inhaftiert waren. Allein in den ersten Monaten des Jahres 2011 habe man 184 Häftlinge entlassen. 5080 Gefangene, die unter Berufung auf Sicherheitsbelange festgenommen worden waren, seien verhört und an ein Gericht überstellt worden, die Befragung von 616 Personen dauere noch an. 1931 weitere Gefangene seien verhört worden und könnten an das Sonderstrafgericht überstellt werden. 1612 Menschen seien für schuldig befunden worden, "terroristische Straftaten" begangen zu haben. Außerdem teilte das Innenministerium mit, dass 486 Personen, die wegen Vergehen gegen die Sicherheit verurteilt worden waren, Entschädigungszahlungen erhalten hätten, weil sie über die Dauer ihrer Freiheitsstrafen hinaus inhaftiert gewesen seien.
Die Anwendung des Presse- und Publikationsgesetzes wurde im Januar 2011 auf Veröffentlichungen im Internet ausgeweitet. Im April wurde das Gesetz erneut geändert und das Recht auf freie Meinungsäußerung noch weiter eingeschränkt.
Menschenrechtsverteidiger, friedliche Unterstützer eines politischen Wandels, Angehörige religiöser Minderheiten und Menschen, die sich für Reformen einsetzten, waren von Festnahmen betroffen. Sie wurden ohne Anklage und Gerichtsverfahren inhaftiert oder in unfairen Gerichtsverfahren ohne die Anwesenheit eines Rechtsbeistands verurteilt.
Alle Versuche, Protestaktionen zu organisieren, wurden von den Behörden im Keim erstickt. Diejenigen, die es trotzdem wagten, an Demonstrationen teilzunehmen, wurden festgenommen oder anderweitig unter Druck gesetzt.
Frauen litten 2011 auch weiterhin unter starker Diskriminierung sowohl vor dem Gesetz als auch im täglichen Leben. Sie benötigten nach wie vor die Erlaubnis eines männlichen Vormunds, wenn sie verreisen, eine Arbeitsstelle antreten, ein Studium beginnen oder heiraten wollten. Vor Gericht zählte ihre Aussage weniger als die eines Mannes. Es gab Grund zu der Annahme, dass häusliche Gewalt gegen Frauen weiterhin sehr verbreitet war.
Frauen schlossen sich den Forderungen nach politischen Reformen an und organisierten sich, um mehr Rechte für Frauen zu erreichen. Eine Gruppe rief über das Internet die Kampagne "Women2Drive" ins Leben: Frauen, die im Besitz eines internationalen Führerscheins waren, sollten sich ab dem 17. Juni ans Steuer ihrer Autos setzen und durch die Straßen fahren. Dem Vernehmen nach folgten viele Frauen diesem Aufruf. Einige von ihnen wurden festgenommen und mussten Erklärungen unterschreiben, in denen sie sich verpflichteten, kein Fahrzeug mehr zu steuern. Mindestens zwei Frauen wurden angeklagt. Die Aktion mündete in eine neue, breiter angelegte Kampagne unter dem Motto "Mein Recht, meine Würde".
Im September 2011 gab der König bekannt, dass Frauen ab 2015 das aktive und passive Wahlrecht bei der (Teil-)Kommunalwahl zugestanden werde. Diese Wahl ist der einzige öffentliche Urnengang in Saudi-Arabien. Außerdem könnten Frauen dann in den Shura-Rat berufen werden.
Arbeitsmigranten wurden nach wie vor von privaten wie auch staatlichen Arbeitgebern ausgebeutet und missbraucht und hatten so gut wie keine Möglichkeiten, Entschädigungen einzufordern. Zu den üblichen Verstößen zählten lange Arbeitszeiten und die Verweigerung der Lohnauszahlung. Besonders weibliche Hausangestellte waren Gewalt ausgesetzt. Weibliche Arbeitsmigranten, die vor ihren gewalttätigen Arbeitgebern flohen, endeten oft auf dem illegalen Arbeitsmarkt, auf dem noch schlechtere Bedingungen herrschten.
Im Jahr 2011 trafen erneut Berichte über Folter und andere Misshandlungen ein. Es schien, als sei dies das übliche Vorgehen von Vernehmungsbeamten, um "Geständnisse" von Verdächtigen zu erpressen.
Körperstrafen, vor allem Auspeitschungen, wurden regelmäßig von Gerichten als Haupt- oder Zusatzstrafen verhängt und auch vollstreckt. Mehr als 100 Männer und Frauen wurden zu Peitschenhieben verurteilt.
Die Zahl der erfassten Hinrichtungen stieg im Berichtsjahr stark an. 2011 wurden mindestens 82 Menschen hingerichtet, mehr als dreimal so viele wie im Jahr 2010. Unter den Hingerichteten waren mindestens fünf Frauen und mehr als 28 ausländische Staatsbürger. In den Gefängnissen befanden sich mindestens 250 zum Tode verurteilte Häftlinge, darunter einige, die keine Gewaltverbrechen begangen hatten, sondern denen man "Apostasie" (Abfall vom Glauben) oder "Hexerei" vorgeworfen hatte. Viele der Häftlinge waren ausländische Staatsangehörige, die nach grob unfairen Gerichtsverfahren wegen Drogenvergehen zum Tode verurteilt worden waren.
Die saudi-arabischen Behörden verweigerten Amnesty International weiterhin den Zugang zum Land. Mitarbeiter der saudi-arabischen Botschaft in Großbritannien empfingen im Juli Vertreter von Amnesty International, um sich über die Veröffentlichung des Entwurfs des neuen Antiterrorgesetzes zu beschweren.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)