Document #1060103
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Author)
1. Oktober 2014
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In seinen letzten verfügbaren Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Afghanistan vom August 2013 geht das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen wie folgt auf die Lage von MitarbeiterInnen von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen ein:
„Regierungsfeindliche Kräfte greifen Berichten zufolge Zivilisten an, die Mitarbeiter internationaler oder afghanischer humanitärer Hilfsorganisationen sind, darunter afghanische Staatsbürger, die für UN-Organisationen arbeiten, Mitarbeiter internationaler Entwicklungsorganisationen, nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen sowie LKW-Fahrer, Bauarbeiter und Personen, die in Bergbau- und anderen Entwicklungsprojekten tätig sind. Personen mit diesen Profilen wurden getötet, entführt und eingeschüchtert. Familienangehörige solcher Personen, darunter Kinder, wurden ebenfalls angegriffen.“ (UNHCR, 6. August 2013, S. 39-40)
Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Länderbericht zur Menschenrechtslage vom Februar 2014 (Berichtsjahr 2013), dass die Sicherheitslage weiterhin negative Auswirkungen auf die Fähigkeit humanitärer Organisationen gehabt habe, frei in vielen Teilen des Landes zu agieren. Regierungsangestellte und MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen seien vorsätzlich von Aufständischen angegriffen worden. Mutmaßliche Taliban-Mitglieder hätten auf NGO-Fahrzeuge geschossen und NGO-Büros, Gästehäuser und Hotels, in denen Angestellte von NGOs untergebracht gewesen seien, angegriffen. Laut USDOS hätten NGOs berichtet, dass Organisationen Bestechungsgelder an Aufständische, einflussreiche Personen und Anführer von Milizen hätten zahlen müssen, um Hilfsgüter ins Land bringen und verteilen zu können:
„The security environment continued to have a negative effect on the ability of humanitarian organizations to operate freely in many parts of the country. Insurgents deliberately targeted government employees and aid workers. Suspected Taliban members fired on NGO vehicles and attacked NGO offices, guest houses, and hotels frequented by NGO employees. Violence and instability hampered development, relief, and reconstruction efforts. NGOs reported that insurgents, powerful local individuals, and militia leaders demanded bribes to allow groups to bring relief supplies into the country and distribute them.” (USDOS, 27. Februar 2014, Section 1g)
Die Dachorganisation Agency Coordinating Body For Afghan Relief (ACBAR), die gegründet wurde, um die Arbeit von NGOs in Afghanistan zu koordinieren, führt im August 2014 an, dass in den ersten acht Monaten des Jahres 2014 insgesamt 33 MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen bei von unterschiedlichen Akteuren verursachten sicherheitsrelevanten Vorfällen getötet worden seien:
„33 aid workers have been killed during the first eight months of 2014 in Afghanistan, in several security incidents with different causes and actors involved. ACBAR calls on all actors, government, opposition, and independent, to actively refrain from hostile acts that cause injuries or death of aid workers. The situation for Afghans, as well as for aid workers, remains precarious, but aid workers keep implementing projects for the Afghan people. Insecurity represents a major challenge in Afghanistan for civilians and aid workers. Indiscriminate attacks, military operations affecting civilians as well as health providers, and overall instability were on the rise in the six first months of 2014.” (ACBAR, 25. August 2014)
Humanitarian Outcomes, ein laut eigenen Angaben unabhängiges Team von ExpertInnen, das Forschung und Politikberatung für humanitäre Hilfsorganisationen und Geberländer anbietet, stellt auf Seite 6 eines im August 2014 veröffentlichten Berichtes eine Tabelle zur Verfügung, die auf den Daten der Aid Worker Security Database (AWSD), einem Projekt von Humanitarian Outcomes, beruht und aus der hervorgeht, dass sich in Afghanistan im Jahr 2013 insgesamt 81 Angriffe auf MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen („aid workers“) ereignet hätten. Die entsprechende Zahl habe im Vorjahr bei 56 und im Jahr 2011 bei 51 gelegen (Humanitarian Outcomes, August 2014, S. 6). Eine genaue Erklärung, welche Personengruppen der Bericht unter dem Begriff „aid workers“ zusammenfasst, findet sich auf der undatierten Website der AWSD (AWSD, ohne Datum).
Die New York Times (NYT) berichtet in einem Artikel vom Dezember 2013, dass sich die Zahl der getöteten MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen in Afghanistan laut von der UNO vorgestellten Daten im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht habe. Zwar hätten UNO-VertreterInnen gezögert, den Anstieg einem einzigen Faktor zuzuschreiben, doch hätten sich Taliban-Kämpfer, obwohl es die offizielle Linie der Aufständischen sei, Angriffe auf humanitäre Helfer abzulehnen, bei einer Reihe von Vorfällen in der letzten Zeit offen zu den jeweiligen Angriffen bekannt. Dem UNO-Koordinator für humanitäre Hilfe in Afghanistan zufolge hätten sich von Jänner bis Ende November 2013 insgesamt 237 Angriffe auf MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen ereignet. Dabei seien 36 Personen getötet, 46 verletzt und 96 festgenommen oder entführt worden.
Der Leiter einer humanitären Organisation habe angegeben, er glaube, dass sich die Aufständischen nach dem Rückzug der Koalitionstruppen in Ermangelung anderer Angriffsziele gegen die Hilfsorganisationen wenden würden. Der Leiterin von ACBAR zufolge sei es unmöglich, Verantwortliche auszumachen, da die Angriffe in vielen Fällen anscheinend von Kriminellen verübt würden. ACBAR habe für das Jahr 2013 insgesamt 32 Todesfälle gezählt, allerdings verwende die Organisation auch eine andere Definition des Begriffs „aid workers“.
Offiziell würden die Taliban verlautbaren, dass es keine Veränderung hinsichtlich ihrer Linie, Angriffe auf MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen zu vermeiden, gegeben habe. Ein Taliban-Sprecher habe telefonisch mitgeteilt, dass es keine solchen Angriffe in Gebieten gebe, die unter Kontrolle der Aufständischen stehen würden. Die Taliban würden nicht gegen NGO-MitarbeiterInnen vorgehen, die nicht für ausländische Kräfte („the foreigners“) arbeiten würden. Allerdings, so der Artikel weiters, habe ein Überlebender eines kurz zuvor verübten Angriffs auf MitarbeiterInnen einer französischen Hilfsorganisation in der Provinz Faryab angegeben, dass die Angreifer sichergestellt hätten, dass alle MitarbeiterInnen, bei denen es sich ausschließlich um AfghanInnen gehandelt habe, wirklich tot seien. Auf ihrer Website hätten sich die Taliban zu dem Angriff bekannt. Bei der französischen Hilfsorganisation handle es sich um eine Organisation, die seit rund 20 Jahren an vielen ländlichen Projekten in Konfliktgebieten in Afghanistan arbeite und keinerlei Verbindung zum Militär habe:
„The number of aid workers killed in Afghanistan has more than tripled this year, making the country by far the most dangerous place in the world for relief work, according to data released by United Nations officials here. Officials were reluctant to attribute the increase to any single factor. But in a number of recent cases, Taliban insurgents have openly claimed responsibility – despite espousing an official policy that rejects attacks on humanitarian workers. […] Through November, he [Mark Bowden, the humanitarian coordinator for the United Nations in Afghanistan] said, there were 237 attacks on Afghanistan’s aid workers, with 36 people killed, 46 wounded and 96 detained or abducted. Last year, there were 175 attacks, with 11 people killed, 26 wounded and 44 detained or abducted. […]
‘I think it’s just that we don’t have any more ISAF in the field, so these people who are on a jihad, they need someone to attack – so we are the target because we are out there,’ said the head of a humanitarian organization, who did not wish to be named criticizing any side in the conflict. […]
She [Justine Piquemal, the director of ACBAR] said it was impossible to be sure whom to blame, saying in many cases that attacks seemed to stem from criminal behavior. Her organization, using different definitions for aid workers, counted 32 fatalities this year. […]
Officially, the Taliban say there has been no change in their policy of avoiding attacks on aid workers. ‘In the places which are under our control, there aren’t any incidents,’ Zabiullah Mujahid, a Taliban spokesman, said by telephone. ‘We do not target those NGO workers who aren’t working for the foreigners.’ Yet when six workers with a French aid group were shot to death in their car in northern Faryab Province on Wednesday, a survivor of the ambush said the armed men who carried out the attack made sure each of the workers, all Afghans, were dead. In a statement on a Taliban website dated Wednesday, the insurgents claimed responsibility for the attack on the group, the Agency for Technical Cooperation and Development, naming them but giving no explanation. The French group has worked in Afghanistan for about 20 years on many rural projects in conflict areas and has no association with the military.” (NYT, 2. Dezember 2013)
Bette Dam, eine niederländische Journalistin, die vor allem im Süden Afghanistans zu Themen im Zusammenhang mit den Taliban arbeitet, geht in einem im Mai 2014 veröffentlichten Artikel für das Afghanistan Analysts Network (AAN), eine unabhängige, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, auf den Tod des radikalen afghanischen Religionsführers Abdullah Zakeri Sahebzada, der den Taliban nahe gestanden habe, ein. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sei dieser sich mit Mullah Omar (dem Anführer der Taliban, Anm. ACCORD) uneins gewesen. Beispielsweise habe Zakeri im Jahr 2012 in einer seiner Stellungnahmen die Auffassung vertreten, dass die Taliban nicht mit ausländischen NGOs zusammenarbeiten sollten, da es sich bei diesen um ausländische Spione handle. Im Gegensatz dazu habe die Taliban-Führung, obwohl sie ausländischen NGOs im Allgemeinen argwöhnisch gegenüberstehe, diesen während ihrer Herrschaftszeit erlaubt, in Afghanistan zu arbeiten. Auch danach habe sie mit einigen ausländischen NGOs zusammengearbeitet. Gegenwärtig müssten sich ausländische NGOs bei der Taliban-Kommission zur Regulierung und Kontrolle von Unternehmen und Organisationen registrieren:
„After 9/11, Zakeri and Mullah Omar were not on the same page. For example, Zakeri argued in 2012 in one of his statements that the Taleban should not work with any foreign NGOs; he considered all of them foreign spies. The Taleban leadership, in contrast, although suspicious of them in general, allowed foreign NGOs to work during their regime and continued to cooperate with some of them afterwards. (Currently, they need to register with the Taleban Commission for the Arrangement and Control of Companies and Organisations.)” (Dam, 25. Mai 2014)
Kate Clark vom Afghanistan Analysts Network (AAN) berichtet in einem Artikel vom April 2014, dass der Verhaltenskodex der Taliban aus dem Jahr 2006 Kämpfer aufgefordert habe, aufsässige LehrerInnen zu töten, Schulen niederzubrennen und als „Werkzeuge der Ungläubigen“ angesehene NGOs anzugreifen. Spätestens ab 2009 sei diese Aufforderung aufgehoben worden, da sich mögliche UnterstützerInnen der Taliban Hilfsprojekte und Bildung für ihre Kinder wünschen würden. Diese neuen Anweisungen seien bis zur Basis durchgedrungen und im Allgemeinen würden NGOs nicht zum Ziel von Angriffen. Allerdings könne es vorkommen, dass NGOs in Gebieten, in denen die Taliban präsent seien, mit den lokalen Taliban-Vertretern verhandeln und sich bei diesen registrieren müssten.
Bezüglich AusländerInnen sei die Botschaft weiterhin uneindeutig. Obwohl die Taliban in Kabul zivile Ziele angegriffen hätten, habe der Leiter der Taliban-Kommission für NGOs und private Unternehmen am 20. März 2014 ein Interview gegeben, das wie ein Versuch gewirkt habe, in- und ausländische NGOs davon zu überzeugen, dass sie keinem besonderen Risiko ausgesetzt seien. Dem Leiter der Kommission zufolge hätten sich die Taliban nie dem Wiederaufbau und der Entwicklung Afghanistans widersetzt. Es gebe keine Hindernisse für all jene Personen und Gruppen, die beabsichtigen würden, den Wiederaufbau voranzutreiben und humanitäre Hilfe zu leisten. Sie könnten ihre Aktivitäten ausführen, solange sie die diesbezüglichen Regeln einhalten würden, so der Leiter der Kommission.
Laut Clark werde deutlich, dass es Widersprüche bei den Richtlinien, Handlungen und Botschaften der Taliban gebe. Dies könne, müsse aber nicht, mit verschiedenen Strängen innerhalb der Bewegung in Zusammenhang stehen:
„This appears to be the reason for example behind the movement’s change of policy on schools and NGOs – in the Taleban’s 2006 Code of Conduct […], fighters were ordered to kill recalcitrant teachers and burn schools and target NGOs, deemed ‘tools of the infidels’. By 2009, these orders had been rescinded, largely it seems because those who might support the Taleban want their children educated and aid projects. Orders percolated through to the grassroots and NGOs generally are not targeted, although in areas where there is a Taleban presence, NGOs may have to negotiate and ‘register’ with local Taleban officials to carry out their work. […]
On foreigners, there is still a mixed message: even as they were hitting foreign civilian targets in Kabul, an interview published on 20 March with the head of the Taleban’s NGO and private company commission, Mawlawi Ahmad Bilal, looked like an attempt to reassure NGOs, including international ones, that they are not particularly at risk:
‘The Islamic Emirate has never opposed the reconstruction, rehabilitation and development of our beloved homeland. There is no hindrance for all those individuals or groups who want to rebuild and provide human assistance for the relief of our masses. They can openly go forward with their activities while observing the rules and regulations laid down for this purpose.’
So it is clear that there are contradictions in Taleban policy, action and messaging, which may or may not represent different strands within the movement.” (Clark, 3. April 2014)
Die unabhängige, in Kabul ansässige Forschungseinrichtung Afghanistan Public Policy Research Organization (APPRO) schreibt in einem im Jänner 2014 veröffentlichten Bericht, der vom European Network of NGOs in Afghanistan (ENNA) und der British and Irish Agencies Afghanistan Group (BAAG), den zwei größten Netzwerken von in Afghanistan tätigen NGOs, in Auftrag gegeben wurde, dass Afghanistan ungefähr seit 2006 schrittweise immer gefährlicher für NGOs geworden und die Zahl der Opfer unter NGO-MitarbeiterInnen angestiegen sei. Die Antwort vieler NGOs habe darin bestanden, enger mit lokalen Ältesten zusammenzuarbeiten und mit bewaffneten Oppositionsgruppen über den Zugang zu abgelegeneren Gebieten zu verhandeln.
Die ursprünglichen Ideen und Pläne, Ansätze wie „Erobern, halten und stabilisieren“ oder „Herzen und Köpfe gewinnen“ in die militärischen Kampagnen miteinzuschließen, sowie die Abhängigkeit von den hoch militarisierten Provincial Reconstruction Teams (PRTs) (militärische Einheiten, die den Wiederaufbau unterstützen sollen, Anm. ACCORD) hätten dazu geführt, dass viele NGOs enge Verbindungen zum Militär aufgebaut hätten. Einige NGOs hätten wegen eines Finanzmittelbedarfs oder einer anfänglichen Naivität Gelder von militärischem und anderem Personal in den PRTs angenommen und mit diesen interagiert. Nachdem das Militär zunehmend zum Ziel von Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen werde und bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt sei, sei es unvermeidbar, dass NGOs, und AfghanInnen, die für diese arbeiten würden, zunehmend kritisch gesehen würden, wenn angenommen werde, dass sie über eine enge Verbindung zum Militär verfügen würden:
„Progressively, since around 2006, Afghanistan has become more and more dangerous for NGOs to operate with an increasing number of casualties from NGO workers, either targeted or as collateral victims. The response to these developments by many of the NGOs delivering humanitarian aid has been to work more closely with local elders and even negotiating and gaining permission from Armed Opposition Groups (AOGs) in the more remote areas. […]
The initial ideas and plans to include in military campaigns such approaches as ‘clear, hold, and stabilize’ or ‘winning hearts and minds’ and reliance on the heavily militarized Provincial Reconstruction Teams (PRTs) have led to many NGOs being closely associated with the military. Some NGOs, due to the need for funds but also because of initial naïveté took funds from and interacted with military and other staff in PRTs. With the military coming increasingly under attack by AOGs and disliked by vast swathes of the population, it is inevitable that NGOs – and Afghans working for them – are increasingly looked upon unfavorably if they are perceived to have had a close association with the military.” (APPRO, Jänner 2014, S. 6-7)
Das Integrated Regional Information Network (IRIN), ein redaktionell unabhängiger humanitärer Nachrichtendienst des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA), schreibt in einem Artikel vom September 2014, dass sich humanitäre Organisationen in Gebieten, in denen lokale Machthaber regierungsfeindlich seien, in einer schwierigen Lagen befänden und vor der Frage stünden, ob sie Verhandlungen aufnehmen sollten. Diskussionen und Vereinbarungen mit solchen regierungsfeindlichen Gruppen könnten bedeuten, diesen ungewollt Legitimität zu verleihen. Während große humanitäre Organisationen eventuell die Möglichkeit hätten, mit wichtigen Anführern zu verhandeln, sei dies nicht für alle möglich. Einem Spezialisten für Sicherheitsfragen („protection specialist“) in Kabul zufolge sei es für eine kleine Organisation nicht realistisch, sich nach Quetta, einer wichtigen Basis der Taliban-Führung, zu begeben. Ohnehin stünden Kommandanten auf niedrigerer Ebene nicht zwangsläufig mit der obersten Führung in Kontakt. Es könne diesen Kommandanten sogar missfallen, wenn man einen Brief vom Taliban-Anführer Mullah Omar vorzeige.
Wie der Artikel weiters anführt, würden regierungsfeindliche Kräfte humanitäre Einsätze, insbesondere solche in bestimmten Sektoren (wie dem Gesundheitssektor), nicht zwangsläufig ablehnen:
„Where local power holders are anti-government actors, humanitarians find themselves in a difficult position - do they negotiate and risk the ire of the state? Discussions and even agreements with such groups can inadvertently mean giving them legitimacy. ‘We need to be thinking ahead and talking to the other side,’ one international aid worker, who asked not to be named, told IRIN in the eastern town of Jalalabad.
While large humanitarian organizations may have the potential to reach out to key leaders, that is not something that is possible for all, especially with shifting leadership structures. ‘It’s not realistic for [a] small organization to go to Quetta [in Pakistan, an important base for the Taliban leadership],’ said a protection specialist in Kabul. ‘Anyway, lower level commanders are not necessarily in contact with the overall leadership. Showing a letter from [Taliban leader] Mullah Omar might not even go down too well with these guys.’
Anti-government forces are not necessarily opposed to humanitarian interventions, especially in particular sectors like health.” (IRIN, 9. September 2014)
Ashley Jackson, Forschungsmitarbeiter der Humanitarian Policy Group (HPG), einem Programm des unabhängigen, in London ansässigen Think Tank Overseas Development Institute (ODI), und Antonio Giustozzi, Gastprofessor am Institut für militärische Studien des Londoner King’s College, gehen in einem etwas älteren, im Dezember 2012 veröffentlichten Bericht für das ODI auf die Einstellung der Taliban gegenüber Hilfsorganisationen ein. Der Bericht basiert auf 150 Interviews mit Taliban-Mitgliedern, Hilfsorganisationen und einfachen afghanischen BewohnerInnen und legt den Schwerpunkt auf die Provinzen Faryab und Kandahar. In der Zusammenfassung des Berichts wird erwähnt, dass die Taliban auf der Führungsebene über eine klare Linie in Bezug auf den Zugang für Hilfsorganisationen verfügen würden. Von den Organisationen werde verlangt, dass sie sich bei der obersten Führung der Taliban registrieren, verschiedene Kriterien wie Neutralität und Achtung der Vorstellungen der Taliban von „afghanischer Kultur“ einhalten und in manchen Fällen Steuern zahlen. Diese Linie sei von den Taliban-Anführern in den beiden untersuchten Provinzen Faryab und Kandahar relativ gut angenommen worden. Auch die Taliban auf lokaler Ebene seien anscheinend in der Lage gewesen, die Einhaltung der Bedingungen zu überwachen und durchzusetzen. Allerdings habe die Forschung in Faryab und Kandahar ergeben, dass den lokalen Kommandanten ein erheblicher Entscheidungsspielraum und Flexibilität eingeräumt werde. Dies bedeute, dass die Regeln fließend seien und je nach Verantwortlichem variieren würden. Auch erhöhter militärischer Druck, weit verbreitetes Misstrauen gegenüber Hilfsorganisationen und fehlende angemessene Befehls- und Kommandostrukturen würden die Befolgung der bestehenden Vorgaben untergraben.
Es habe auf lokaler Ebene weitere Abweichungen von der offiziellen Linie gegeben. So hätten hochrangige Taliban-Anführer und Anführer auf Provinzebene zugesichert, dass die Finanzierungsquelle einer Hilfsorganisation keinen Einfluss auf den Zugang zu einem Gebiet habe. In der Praxis hätten viele lokale Kommandanten allerdings negative Einstellungen und Argwohn gegenüber einer Finanzierung durch Länder, die sich an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) beteiligen, gezeigt. Während hochrangige Anführer versichert hätten, dass die meisten Aktivitäten akzeptabel seien, hätten sie gezögert, Arbeiten zu erlauben, die für militärische Ziele hinderlich seien. Dazu zählten unter anderem Straßenbauprojekte. Außerdem seien die Anführer der westlichen Vorstellung von Frauenrechten feindlich gegenüber eingestellt. Auf lokaler Ebene seien diese Trends noch ausgeprägter. Der Verdacht, bei MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen könne es sich um „Spione“ handeln, habe zu Angriffen und zu beschränktem Zugang zu Gebieten geführt.
Im Allgemeinen gebe es eine tief verwurzelte und vorherrschende Feindseligkeit gegenüber Hilfsorganisationen und eine generelle Schwierigkeit, zwischen verschiedenen Akteuren (NGOs, UNO-Organisationen, die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA), gewinnorientierte Auftragnehmer, Provincial Reconstruction Teams (PRTs), usw.) zu unterscheiden. Dies sei auf lokaler Ebene besonders ausgeprägt. Die Taliban, die Hilfsorganisationen kritisieren würden, würden diese nicht nur der „Spionage“ oder der Unterstützung der Regierung beschuldigen, sondern würden auch das vermeintliche Fehlen von Effektivität und eines prinzipienorientierten Ansatzes bemängeln. Auch wenn sie Hilfsorganisationen im Allgemeinen nicht so feindlich gegenüber eingestellt seien, würden Älteste viele der Kritikpunkte der Taliban teilen: eine ungleiche Verteilung von Hilfsleistungen zugunsten von friedlicheren Gebieten, Korruption und ein Mangel an Respekt für die afghanische Kultur:
„At the leadership level, the Taliban have a clear policy on aid agency access. Agencies are required to register with the Taliban at senior leadership level and adhere to various conditions, including neutrality, respect for Taliban notions of ‘Afghan culture’ and, occasionally, payment of tax. This policy was fairly well understood by provincial Taliban leaders in the two provinces examined. The Taliban at the local levels also appeared to be capable of monitoring adherence to these conditions and enforcing them. However, research in Faryab and Kandahar indicated that there is significant discretion and flexibility accorded to local commanders, which means that the rules are fluid and vary depending on who is in charge. Increased military pressure, widespread distrust of aid agencies and a lack of adequate command and control have also undermined adherence to established policy.
There were other subtle deviations from official policy evident at the local level. Senior and provincial Taliban leaders asserted that where an aid agency obtains its funding does not influence access. In practice, however, many local commanders exhibited negative attitudes towards and suspicion of funding from International Security Assistance Force (ISAF) troop-contributing countries. While senior leaders asserted that most activities were acceptable, they were reluctant to allow works perceived to interfere with military objectives, such as road construction, and were hostile towards Western notions of women’s rights. At the local level these trends were more pronounced. Suspicion of aid workers as ‘spies’ results in attacks on them or restrictions on access.
In general, but particularly pronounced at local level, there is deep and prevalent hostility towards aid organisations and a general difficulty in distinguishing between different actors (NGOs, UN agencies, the UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), for-profit contractors, Provincial Reconstruction Teams (PRTs) and so on). The Taliban who criticise aid organisations are not just accusing them of being ‘spies’ or siding with the government, but are also critical of their perceived lack of a principled approach and effectiveness. Elders, while generally not as hostile towards aid agencies, often shared many of the Taliban’s criticisms: uneven distribution of aid in favour of more peaceful areas, corruption and a lack of respect for Afghan culture.” (ODI, Dezember 2012, S. iii)
Auf der Website von Registan, einem in den USA ansässigen Netzwerk von WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen, die zu politischen, sozialen und kulturellen Themen in Eurasien arbeiten, findet sich ein älterer, im April 2011 veröffentlichter Artikel von Joel Hafvenstein, der unter anderem für die britische Entwicklungshilfeorganisation Tearfund als Programmdirektor in Afghanistan gearbeitet hat. Darin erwähnt Hafvenstein, dass die meisten afghanischen Aufständischen strategisch genug seien, um zwischen Hilfsorganisationen, die darauf abzielen würden, das Ansehen der afghanischen Regierung aufzubauen, und solchen, die einfachere, mehrheitlich gemeinschaftsorientierte Ziele verfolgen würden, unterscheiden zu können. Wenn ein Hilfsprogramm als Mittel der Regierung gesehen werde, zu „punkten“ (wie beispielsweise im Falle des Nationalen Solidaritätsprogramms), könne dies zu Angriffen Aufständischer führen, auch wenn das Programm auf Gemeinschaftsebene beliebt sei und von einer NGOs durchgeführt werde, die ihre Neutralität beteuere. Dasselbe gelte für Hilfe, die von Provincial Reconstruction Teams (PRTs) oder Auftragnehmern der US-amerikanischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit USAID geleistet werde.
Im Gegensatz dazu gleiche die Einstellung der meisten Aufständischen gegenüber humanitären NGOs eher einem „Fangen und Freilassen“-Ansatz. Da die Taliban und ähnliche Gruppen ihre geographische Reichweite vergrößert hätten, komme es nun zu einer steigenden Zahl an Entführungen von afghanischen MitarbeiterInnen humanitärer Organisationen (sowohl internationaler als auch einheimischer). In nahezu allen Fällen seien die Entführten gleich darauf wieder freigelassen worden. Die Aufständischen würden bei der Gemeinschaft, in der die betreffende NGO arbeite, nachfragen, und wenn die Vertreter der Gemeinschaft bestätigen würden, dass die NGO willkommen sei und weder die Regierung noch „unislamische“ Ideen unterstützte bzw. fördere, würden die entführten MitarbeiterInnen wieder freigelassen:
„But most Afghan insurgents are strategic enough to distinguish between aid work aimed at building the reputation of the Afghan government and aid work with humbler, mostly community-centric goals. When an aid program is seen as a way for the government to ‘score points’ – for example, the National Solidarity Program – it is likely to draw insurgent fire, even if it’s popular at community level and implemented by an NGO that protests its neutrality. Ditto for aid delivered by PRTs [Provincial Reconstruction Teams] and USAID contractors, who are explicitly working to strengthen the government and have indeed come under intense and increasing attack.
By contrast, the policy of most insurgents towards humanitarian NGOs invites fishing rather than hunting metaphors: catch-and-release, not targeting. As the Taliban and like-minded groups have expanded their geographical reach, there has been a soaring upward trend in abductions of Afghan staff who work for humanitarian agencies (both international and national). In virtually all of the cases – 100%, last year – the staff have been freed promptly and without harm (see again the ANSO [Afghanistan NGO Safety Office] report). The insurgents check with the community where the NGO operates, and if the community representatives confirm that the NGO is welcome there and hasn’t been promoting the government or ‘un-Islamic’ ideas, the detained staff are released.” (Hafvenstein, 2. April 2011)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 1. Oktober 2014)
· ACBAR - Agency Coordinating Body for Afghan Relief & Development: ACBAR Press Release 24th August 2014 Global statement, 25. August 2014
http://www.acbar.org/news/85/ACBAR-Press-Release-24th-August--2014-Global-statement-.html
· APPRO - Afghanistan Public Policy Research Organization: Transition and Non-Government Organizations in Afghanistan: An Assessment and Prospects, Jänner 2014
http://www.baag.org.uk/sites/www.baag.org.uk/files/resources/attachments/NGOs%20in%20Transition.pdf
· AWSD - Aid Worker Security Database: About the data, ohne Datum
https://aidworkersecurity.org/about
· Clark, Kate: Elections and Foreigners: An analysis of recent Taleban violence, 3. April 2014 (veröffentlicht von AAN)
http://www.ecoi.net/local_link/274295/403359_de.html
· Dam, Bette: Death of a Sahebzada: A story of different strands of thought in the Taleban movement, 25 Mai 2014 (veröffentlicht von AAN)
· Hafvenstein, Joel: Violence against Aid Workers in Afghanistan, 2. April 2011 (verfügbar auf registan.net)
http://registan.net/2011/04/02/violence-against-aid-workers-in-afghanistan/
· Humanitarian Outcomes: Aid Worker Security Report 2014; Unsafe Passage: Road attacks and their impact on humanitarian operations August 2014
https://aidworkersecurity.org/sites/default/files/Aid%20Worker%20Security%20Report%202014.pdf
· IRIN - Integrated Regional Information Network: Analysis: Challenges around aid access in Afghanistan, 9. September 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/286124/418049_de.html
· NYT - New York Times: Attacks on Aid Workers Rise in Afghanistan, U.N. Says, 2. Dezember 2013
· ODI - Overseas Development Institute: Talking to the other side: Humanitarian engagement with the Taliban in Afghanistan, HPG Working Paper (Autoren: Ashley Jackson und Antonio Giustozzi), Dezember 2012
http://www.odi.org/sites/odi.org.uk/files/odi-assets/publications-opinion-files/7968.pdf
· UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan [HCR/EG/AFG/13/01], 6. August 2013 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1386162591_afghanistan-richtlinien2013dt.pdf
· USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2013 - Afghanistan, 27. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/270628/399487_de.html