Document #1052983
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
Staatsoberhaupt: Königin Elizabeth II.
Regierungschef: David Cameron
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 62,4 Mio.
Lebenserwartung: 80,2 Jahre
Kindersterblichkeit: 5,5 pro 1000 Lebendgeburten
Der Arbeitsauftrag der Untersuchungskommission zur Beteiligung britischer Staatsangehöriger an der Misshandlung von Gefangenen in anderen Ländern (Detainee Inquiry) wurde veröffentlicht. Er erfüllte bei weitem nicht die Menschenrechtsstandards. Die britische Regierung bekräftigte, sie werde die Praxis der Abschiebungen auf der Grundlage "diplomatischer Zusicherungen" weiter ausbauen, so dass die Gefahr bestand, dass Personen leichter in Länder abgeschoben werden könnten, in denen ihnen Folter droht. Die Untersuchungskommission zum Tod des irakischen Zivilisten Baha Mousa warf den britischen Streitkräften vor, schwere Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen begangen zu haben. Die Untersuchung zum Mord an der Menschenrechtsanwältin Rosemary Nelson ergab, dass den staatlichen Organen zahlreiche Versäumnisse anzulasten waren. Im März wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die eine Grundrechtecharta für das Vereinigte Königreich (UK Bill of Rights) erarbeiten soll.
Folter und Misshandlungen
Im Juli 2011 wurde der Arbeitsauftrag einer 2010 eingesetzten Kommission veröffentlicht, die dem Vorwurf nachgehen soll, britische Staatsangehörige seien an der Misshandlung von Gefangenen im Ausland im Zusammenhang mit Antiterrormaßnahmen beteiligt gewesen (Detainee Inquiry). Es gab Befürchtungen, wonach die geplante Vorgehensweise des Gremiums internationale Menschenrechtsstandards nicht erfüllen werde. Kritisiert wurde vor allem, dass sich die Regierung vorbehielt, über die Offenlegung von Dokumenten zu entscheiden, womit sie die Wirksamkeit und Unabhängigkeit der Untersuchung untergrub. Mehrere Rechtsanwälte bestätigten, sie hätten ihren Mandanten, die auf eine Untersuchung ihrer Fälle durch die Kommission hofften, von einer Teilnahme abgeraten. Zehn NGOs kündigten an, nicht an der Untersuchung mitzuwirken, sollte sie wie geplant ablaufen.
Der offizielle Beginn der Untersuchung wurde verschoben, bis die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Angehörige des britischen Geheimdienstes wegen mutmaßlicher Vergehen abgeschlossen sind.
Im September 2011 tauchten in der libyschen Hauptstadt Tripolis Dokumente auf, denen zufolge Großbritannien 2004 an der rechtswidrigen Überstellung von Sami Mustafa al-Saadi und Abdel Hakim Belhaj nach Libyen beteiligt war, obwohl für die beiden dort die konkrete Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen bestand. Sami Mustafa al-Saadi und Abdel Hakim Belhaj verklagten daraufhin die britischen Behörden auf Schadenersatz wegen mutmaßlicher Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen wie Folter und anderen Misshandlungen, die sie erlitten hatten.
Am 3. Oktober 2011 urteilte der High Court of Justice über die Rechtmäßigkeit der Leitlinien für Geheimdienstangehörige bezüglich Festnahmen und Verhören im Ausland sowie zum Austausch von Informationen zwischen den Geheimdiensten. Das Gericht befand, die Leitlinien seien so abzuändern, dass dem absoluten Verbot, den Kopf von Häftlingen mit einer Kapuze zu verhüllen, Rechnung getragen werde. Den in den Leitlinien enthaltenen Maßstab, mit dem das Risiko der Folter oder Misshandlung für einen Gefangenen bewertet wird, sah das Gericht jedoch nicht als rechtswidrig an.
Im Dezember 2011 wandte sich die Regierung schriftlich an die US-Behörden mit der Bitte, Yunus Rahmatullah in britischen Gewahrsam zu überstellen. Zuvor hatte das Berufungsgericht für England und Wales (Court of Appeal) angeordnet, dass in seinem Fall eine richterliche Haftprüfung erfolgen müsse. Yunus Rahmatullah war von den britischen Streitkräften im Irak im Februar 2004 gefangen genommen und an die US-Streitkräfte übergeben worden. Diese hatten ihn nach Afghanistan gebracht und ihn dort seither ohne Anklageerhebung auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram festgehalten.
Rechtliche und politische Entwicklungen
Im Januar 2011 veröffentlichte das Innenministerium das Ergebnis seiner Überprüfung von sechs zentralen Befugnissen im Bereich Sicherheit und Terrorismusbekämpfung. Kurz darauf wurde die Höchstdauer der Inhaftierung von Terrorverdächtigen bis zur Anklageerhebung von 28 auf 14 Tage reduziert. Im Februar veröffentlichte die Regierung jedoch einen Gesetzentwurf, der die Wiederherstellung der 28-Tage-Frist für den Fall einer nicht näher definierten "dringlichen Situation" möglich machte.
Überwachungsverfügungen
2011 waren gegen neun Personen, bei denen es sich um britische Staatsbürger handelte, sogenannte Überwachungsverfügungen in Kraft (Stand 14. Dezember).
Das Instrument der Überwachungsverfügungen war 2005 im Rahmen des Gesetzes zur Vorbeugung gegen den Terrorismus (Prevention of Terrorism Act 2005) eingeführt worden. Im Dezember 2011 wurde dieses Gesetz aufgehoben und durch ein neues Antiterrorgesetz (Terrorism Prevention and Investigation Measures Act) ersetzt. Darin sind eine Reihe neuer Antiterrormaßnahmen (Terrorism Prevention and Investigation Measures - TPIMs) enthalten, die gegen terrorismusverdächtige Personen verhängt werden können. Die geplanten Beschränkungen sind zwar nicht ganz so weitreichend wie die Überwachungsverfügungen, die TPIMs könnten jedoch zu einem Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und zu Einschränkungen der Rechte auf Privatsphäre, auf freie Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs- und Bewegungsfreiheit führen. Es wurde erwartet, dass die TPIMs nach einer Übergangsfrist Anfang 2012 die Überwachungsverfügungen ablösen werden.
Darüber hinaus behielt sich die Regierung vor, im Falle künftiger außergewöhnlicher Umstände eine "verschärfte" Version der TPIMs einzuführen, mit denen man die strengen Beschränkungen wieder auferlegen könnte, die im Rahmen der Überwachungsverfügungen möglich waren.
Die britische Regierung bekräftigte, sie werde die Praxis der Abschiebungen auf der Grundlage "diplomatischer Zusicherungen" fortführen und weiter ausbauen, so dass die Gefahr bestand, dass Personen, die mutmaßlich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen, in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter und andere Misshandlungen drohen.
Die Verfahren zur Anfechtung solcher Abschiebungen vor der Berufungskommission für Einwanderungsfragen (Special Immigration Appeals Commission - SIAC) erfüllten nach wie vor nicht die Standards für faire Verfahren, weil sich die Kommission auf geheime Dokumente stützte, in die weder die Betroffenen noch ihre Rechtsbeistände Einsicht nehmen konnten.
Am 7. Juli 2011 erging das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Verfahren Al-Skeini und andere gegen Großbritannien, das die Tötung von sechs Zivilpersonen bei Militäroperationen der britischen Streitkräfte im Irak im Jahr 2003 betraf. Der EGMR stellte fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention auch auf Operationen der britischen Armee im Irak anzuwenden sei, da diese seinerzeit als Besatzermacht agierte.
Großbritannien sei deshalb verpflichtet gewesen, eine unabhängige und effektive Untersuchung der Tötungen vorzunehmen. Nach Ansicht des Gerichts hatte Großbritannien dies in fünf der sechs Fälle versäumt.
Am selben Tag entschied die Große Kammer des EGMR auch in der Sache Al-Jedda gegen Großbritannien. Hilal Abdul-Razzaq Ali Al-Jedda war mehr als drei Jahre in einem Haftzentrum der britischen Streitkräfte in der irakischen Stadt Basra inhaftiert. Er hatte dagegen Klage erhoben mit der Begründung, seine Inhaftierung stelle eine Verletzung seiner Rechte auf Freiheit und Sicherheit dar. Das Gericht wies das Argument der britischen Regierung zurück, die Resolution Nr. 1546 des UN-Sicherheitsrats genieße Vorrang gegenüber den Schutzrechten des Antragstellers nach der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Am 3. Mai 2011 veröffentlichte die zuständige Untersuchungskommission ihre Ergebnisse zum Tod von Ian Tomlinson, der 2009 bei Demonstrationen während des G20-Gipfels in London ums Leben gekommen war. Die Kommission stellte fest, dass Tomlinson an inneren Blutungen gestorben war, nachdem ein Polizist ihn mit einem Schlagstock angegriffen und zu Boden gestoßen hatte. Daraufhin revidierte die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidung, den beteiligten Polizisten nicht wegen eines Tötungsdelikts unter Anklage zu stellen. Der Prozessbeginn wird für Anfang 2012 erwartet.
Die Untersuchung zum Tod von Azelle Rodney, der am 30. April 2005 von Angehörigen der Londoner Metropolitan Police erschossen worden war, dauerte im Berichtsjahr noch an.
Im September 2011 äußerte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung Besorgnis über die weit verbreitete Diskriminierung und Marginalisierung von Roma und Travellers. Er forderte die Regierung nachdrücklich auf, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und angemessenem Wohnraum zu verbessern.
Im September 2011 kritisierte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung, dass internationale Konzerne mit Sitz in Großbritannien bei ihren Auslandsaktivitäten die Menschenrechte indigener Bevölkerungsgruppen nicht ausreichend respektierten. Er forderte die Regierung nachdrücklich auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass dies in Zukunft erfolgt.
Darüber hinaus übte der Ausschuss Kritik an einem Gesetzentwurf zum System der Rechtsbeihilfe, Verurteilung und Bestrafung (Legal Aid, Sentencing and Punishment of Offenders Bill). Sollte das Gesetz verabschiedet werden, würde das die Möglichkeiten ausländischer Staatsbürger beschneiden, vor einem britischen Gericht Klage gegen internationale Unternehmen zu erheben.
In Nordirland verübten weiterhin paramilitärische Gruppen Gewalttaten. Am 2. April 2011 wurde der Polizist Ronan Kerr von einer Bombe getötet, die unter seinem Auto angebracht war. Für den Anschlag wurden republikanische Splittergruppen verantwortlich gemacht.
Der Ombudsmann für die Polizei wurde scharf kritisiert. Ihm wurde mangelnde Unabhängigkeit bei der Untersuchung von Fällen polizeilichen Fehlverhaltens und rechtswidriger Tötungen in früheren Jahren vorgeworfen. Er kündigte an, sein Amt Anfang Januar 2012 niederzulegen.
Im Mai befasste sich das Oberste Berufungsgericht (Supreme Court) mit der Untersuchung zur Tötung der beiden IRA-Mitglieder Martin McCaughey und Dessie Grew durch Angehörige der britischen Streitkräfte im Jahr 1990 (Fall McCaughey & Anor). Das Gericht stellte fest, dass die Untersuchung der beiden Todesfälle gemäß den Bestimmungen zur Wahrung des Rechts auf Leben nach dem Menschenrechtsgesetz von 1998 durchzuführen sei.
Im März 2011 stellte die Regierung einen ressortübergreifenden Aktionsplan zum Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor. Im gleichen Monat kündigte die Innenministerin an, das Pilotprojekt zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt unter Migrantinnen, die aufgrund ihres unsicheren Aufenthaltsstatus keinen Zugang zu Leistungen der öffentlichen Hand haben, werde unbefristet fortgesetzt. Das Pilotprojekt bezog sich jedoch ausschließlich auf Frauen, die mit einem Ehegatten-Visum eingereist waren. Frauen mit einem anderen Visum oder einer befristeten Arbeitserlaubnis hatten weiterhin keinen Zugang zu diesen grundlegenden Leistungen.
Es gab Kritik an den Plänen der Regierung, die Visabestimmungen für Hausangestellte aus dem Ausland zu ändern, die es ihnen bisher erlaubten, in Großbritannien den Arbeitgeber zu wechseln. Das könnte dazu führen, dass diese Personengruppe künftig Ausbeutung schutzloser ausgeliefert wäre und sich in einzelnen Fällen die Gefahr des Menschenschmuggels erhöhen würde.
Die vorgeschlagenen Kürzungen der öffentlichen Mittel für Rechtsbeistände gaben Anlass zu der Befürchtung, dass dadurch die Rechtsberatung in Asyl- und Einwanderungsfragen, die ohnehin nicht in allen Teilen des Landes zur Verfügung stand, noch weiter reduziert werden könnte.
Auch 2011 wurden abgelehnte Asylsuchende nach Afghanistan und in den Irak abgeschoben, obwohl ihnen dort Menschenrechtsverletzungen drohten.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)