a-6212-3 (ACC-LBN-6214)

Nach einer Recherche in unserer Länderdokumentation und im Internet können wir Ihnen zu oben genannter Fragestellung Materialien zur Verfügung stellen, die unter anderem folgende Informationen enthalten:
 
Ein Artikel der Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher zum Thema „Was ist eine Fatwa?“ aus dem Jahr 2004 liefert folgende allgemeine Informationen zu Fatwas:
„Fatwas (oder eigentlich im Plural: Fatawa) sind Rechtsgutachten islamischer Gelehrter. Diese Gelehrten erläutern durch eine schriftliche Beurteilung einer bestimmten Frage des islamischen Rechts ihre persönliche Einschätzung. Fatwas werden in eigener Sache oder im Auftrag einer Institution oder eines Herrschers erlassen. […] Der Erteiler eines solchen Rechtsgutachtens ist der Mufti, der nach seinem besten theologischen Wissen nach den Richtlinien seiner Rechtsschule, der er angehört, die Frage beantwortet. Meist geschieht dies, indem er ein Verbot für die beabsichtigte Handlung ausspricht oder aber deren Unbedenklichkeit erklärt und damit die Erlaubnis dazu erteilt. Es gibt keine vorgeschriebene Ausbildung für einen Mufti noch hat er in der Regel ein offizielles Amt inne. Der Mufti muß aber muslimischen Glaubens und ein Mann von gutem Ruf sein, sowie Kenntnisse des islamischen Rechts besitzen, um das vorgetragene Problem abwägen zu können. Auch eine Frau kann das Amt eines Muftis ausüben, während ihr das Richteramt nach dem islamischen Gesetz verwehrt bleibt. […] Muftis besaßen in der Geschichte teilweise große Autorität, obwohl ihre Auskünfte im sunnitischen Islam keinerlei Rechtsverbindlichkeit besitzen. Diese im Grunde private Meinungsäußerung eines Gelehrten, die natürlich durch seine Bekanntheit, sein Ansehen oder ein von ihm bekleidetes Amt zusätzliches Gewicht erhalten kann, ist also für niemand verpflichtend. Niemand, der eine solche Auskunft begehrt hat (die heute vielfach auch im Internet online abgefragt werden kann), muß der betreffenden Antwort Folge leisten. Er kann jederzeit von anderer Stelle eine anderslautende Fatwa anfordern und sich nach dieser zweiten Auskunft oder nach keiner der beiden in seiner Handlungsweise ausrichten. Im schiitischen Islam allerdings sind Fatwas rechtsverbindlich; man muß ihnen Folge leisten. Daher hatte die Ende der 1980er Jahre erlassene Fatwa Ayatollah Khomeinis - vom höchsten schiitischen Gelehrten, Khomeini, verkündet - gegen den in Großbritannien geborenen muslimischen Schriftsteller Salman Rushdie gesetzesähnlichen Charakter.“ (Islaminstitut, 2004, S. 1)
In einem weiteren von Christine Schirrmacher verfassten Artikel (Stand: November 2006) finden sich folgende Informationen zu Fatwas bei Sunniten und Schiiten:
„Im sunnitischen Islam gilt eine Fatwa (Rechtsgutachten), das ein Gläubiger in einer bestimmten Frage von einem Gelehrten eingeholt hat, lediglich als Meinungsäußerung, nicht als verpflichtende Handlungsanweisung.
Wenn sich ein schiitischer Gläubiger für die Tradition („Nachahmung“) eines bestimmten schiitischen Gelehrten entschieden hat, muss er auch dessen Fatwas befolgen, denn sie haben für ihn absolute Autorität.“ (EAD, Stand: November 2006, Punkt 8)
Laut Berichten aus den Jahren 2006 bis 2008 wurden im Libanon Fatwas vom ranghöchsten libanesischen schiitischen Geistlichen, Großayatollah Mohammed Hussein Fadlallah, sowie von Hezbollah-Anführer Nasrallah und von einem schiitischen Gelehrten namens Sheikh Afif Naboulsi erlassen:
 
Laut einem Artikel der International Herald Tribune vom 2. August 2007 erließ der ranghöchste schiitische Geistliche des Libanon, Großayatollah Mohammed Hussein Fadlallah, eine Fatwa, die Ehrenmorde unter Verbot stellte. Die Fatwa sei eine seltene Verurteilung dieser Praxis seitens eines prominenten Geistlichen. Die Fatwa von Fadlallah habe wenig Aussicht auf Befolgung durch die überwiegend sunnitische Bevölkerung Jordaniens und der Palästinensischen Gebiete, jedoch verfüge der Geistliche über Anhänger unter den Schiiten im Irak:
“Lebanon's most senior Shiite Muslim cleric issued Thursday a fatwa, or religious edict, banning honor killings, calling the custom of murdering a female relative for sexual misconduct "a repulsive act." The fatwa by was a rare condemnation by a prominent cleric of the practice. Fadlallah's office said he issued the statement in alarm over reports on an increase in honor killings. […] The overwhelmingly Sunni populations of Jordan and the Palestinian territories are unlikely to pay particular heed to Fadlallah's fatwa, but the 69-year-old cleric does have followers among Shiites in Iraq, where he lived for 30 years in the holy city of Najaf.” (IHT, 2. August 2007)
In einem Reuters-Artikel vom 25. Jänner 2007 wird berichtet, dass Hezbollah-Anführer Nasrallah ein religiöses Edikt, eine Fatwa, erlassen habe, in der er seine Anhänger nach tödlichen Zusammenstößen zwischen Unterstützern und Gegnern der Regierung in Beirut aufgefordert habe, die Straßen zu verlassen und ruhig zu bleiben:
„Four people were shot dead in clashes between pro- and anti-government activists in Lebanon on Thursday, overshadowing a $7.6 billion aid deal by international donors to shore up the U.S.-backed government. […] Hezbollah chief Sayyed Hassan Nasrallah issued a religious edict, or fatwa, urging supporters to leave the streets and stay calm. Sunni leader Saad al-Hariri urged supporters to show self-restraint and calm.“ (Reuters, 25. Jänner 2007)
Die International Crisis Group (ICG) schreibt in einem Bericht vom 10. Oktober 2007, dass Nasrallah am 25. Jänner 2007 im Zuge von Unruhen untypischerweise eine Fatwa erlassen habe, in der er Schiiten aufgefordert hätte, nach Hause zu gehen. Das religiöse Edikt habe sich an seine Glaubensbrüder gerichtet und sei weniger eine politische Anordnung an Parteimitglieder gewesen. Laut einem Mitglied des politischen Rats der Hizbollah ist die Erlassung einer Fatwa vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich die Aufforderung nicht nur an Hizbollah-Mitglieder, sondern an die Gesamtheit der an den Straßenunruhen beteiligten Schiiten gerichtet war:
„Yet, even as it sought to defuse sectarian tensions, Hizbollah was caught in a confessional trap. During the 25 January riots at the Arab University, Nasrallah uncharacteristically felt compelled to issue a fatwa calling on Shiites to return home, a religious edict directed at his religious brethren rather than a political directive addressed to party members. A member of Hizbollah’s political council explained it in these terms: What was happening was larger than Hizbollah. All Shiites, whether members of Hizbollah or Amal or of no political party at all, took to the streets. A mere command is enough when you are addressing members of your party. It is not enough when Shiites as a whole are concerned. That is why we had to address ourselves to Shiites and not only members of our movement. That’s why we issued a fatwa.“ (ICG, 10. Oktober 2007, S. 3)
In einem Artikel im Weekly Standard vom 13. November 2006 wird berichtet, der Geistliche Afif Nabulsi habe aus Sorge, die Regierung könnte die für Schiiten vorgesehenen Kabinettposten mit Nicht-Hezbollah-Mitgliedern besetzen, eine Fatwa erlassen, die es jedem Schiiten verbietet, in das Regierungskabinett einzutreten. Dies habe eine Protestwelle unter libanesischen Intellektuellen hervorgerufen. Ein sunnitischer Literat habe die Fatwa als einen „Akt der Aggression“ bezeichnet. Die Gruppe, die sich am stärksten beleidigt fühle, seien jedoch die Schiiten selbst. Ein schiitischer Rechtsanwalt brachte eine Sammelklage gegen Nabulsi ein:
„The ministers' departure brought government business to a standstill, but set in motion even more Hezbollah mischief. Worried that the government might appoint non-Hezbollahis to the apportioned Shiite cabinet seats, cleric Afif Nabulsi issued a fatwa "forbidding any Shia to enter into the cabinet." This ominous "warning" set off a tempest among the Lebanese intelligentsia. Adonis, aka Ali Ahmed Said, Lebanon's most prominent man of letters (who happens to be a Sunni), described the fatwa as an "act of aggression." The most aggrieved party, however, were clearly the Shiites themselves. So incensed was one Shiite lawyer, Mohammed Mattar, that he brought a class action lawsuit against Sheikh Nabulsi.“ (Weekly Standard, 13. November 2006)
Laut einem Bericht, der in der Ausgabe Jänner – März 2008 der Vierteljahreszeitschrift Mideast Monitor erschienen ist, habe der prominente schiitische Geistliche Afif Nabulsi im Winter 2005 eine Fatwa erlassen, die es jedem Schiiten, der nicht der Hezbollah oder der Amal angehöre, untersagte, in die libanesische Regierung einzutreten. Nasrallah sowie Nabih Berri, der Anführer der Amal, hätten die Fatwa lautstark verteidigt und jegliche Kritik an der Fatwa als „Angriff gegen Islamgelehrte“ zurückgewiesen:
„Christian fears of Muslim demographic strength are reinforced by trepidation about the spread of radical Islamism (a sentiment shared by a great many secular Muslims in and beyond Lebanon). One reason why the political empowerment of Shiites is conflated with Hezbollah is that the latter has imposed a startling degree of conformity on the Shiite electorate. This was evident during the two-month Hezbollah-led boycott of the cabinet in the winter of 2005/2006, when prominent Shiite cleric Afif Nabulsi issued a fatwa prohibiting Shiites outside of Hezbollah and Amal from joining the government.[35] Both Nasrallah and Amal leader Nabih Berri vociferously defended the fatwa and denounced any criticism of the fatwa as an "attack on the scholars of Islam."[36]“ (Mideast Monitor, Jänner - März 2008)
Aus einer dazugehörigen Fußnote geht hervor, dass nach der Veröffentlichung der Fatwa von Nabulsi am 21. Dezember 2005 eine Reihe von Personen Klagen vor Gericht eingereicht hätten. Das Hauptaugenmerk der Kläger habe sich darauf gerichtet, dass Nabulsi kein Mitglied des „Hohen Schiitischen Rats“ sei und daher kein Recht hatte, die Fatwa zu erlassen:
„Nabulsi's fatwa was published in Lebanese papers on December 21, 2005. A court case was subsequently raised by the plaintiffs Yussuf al-Zein, Talal al-Hussayni, Fares Sassin, Dr. Fahmiya Sharafeddine, Nada Sehnaoui, Mona Fayyad, Ghassan Mokheiber and Mohammad Farid Matar. A separate suit was filed by Adnan al-Amine. The plaintiffs focused on the fact that Nabulsi was not a member of the higher Shiite council and thus had no right to issue the fatwa.“ (Mideast Monitor, Jänner - März 2008, Fußnote 35)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu den Voraussetzungen für die Verhängung von Fatwahs, sowie zur Frage, wer bei den 12-er-Schiiten im Libanon zur Verhängung von Fatwahs befugt ist, gefunden werden. Weiters konnten keine Informationen dazu gefunden worden, ob Menschen ohne jegliches politische und/oder intellektuelle Profil mit einer Fatwah bedacht werden können.
 
Diese Informationen beruhen auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen. Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines bestimmten Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Wir empfehlen, die verwendeten Materialien zur Gänze durchzusehen.
Quellen: