Document #1019743
AI – Amnesty International (Author)
Roma-Gemeinschaften waren 2010 unvermindert gewalttätigen Angriffen und Diskriminierung ausgesetzt und lebten in einem Klima der Angst. Die Polizei schloss die Ermittlungen in Bezug auf eine Serie von Angriffen auf Roma in den Jahren 2008 und 2009 ab, gegen vier Verdächtige wurde Anklage erhoben. Internationale Organe zur Überwachung der Menschenrechtssituation äußerten sich besorgt über strukturelle Defizite der ungarischen Strafjustiz im Umgang mit Hassverbrechen. Roma-Kinder wurden in der Grundschule in separaten Klassen unterrichtet.
Die Koalition aus dem Bund Junger Demokraten (Fidesz) und der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP) gewann die Parlamentswahlen im April 2010 mit überzeugender Mehrheit. Die rechtsextreme Partei Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) konnte zum ersten Mal ins Parlament einziehen.
Mitglieder der verbotenen Ungarischen Garde (Magyar Gárda) setzten Berichten zufolge ihre Aktivitäten unter anderem Namen fort, und zwar als Neue Ungarische Garde. Im September erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen drei ihrer Anführer wegen Aufwiegelung gegen den Erlass einer Behörde und Missbrauch des Rechts auf Versammlungsfreiheit.
Nach einer Reihe gewalttätiger Angriffe auf Roma-Gemeinschaften, bei denen 2008 und 2009 sechs Menschen ums Leben gekommen waren, meldeten ungarische NGOs erneut Übergriffe gegen Roma. Sie kritisierten außerdem, dass es innerhalb des Strafjustizsystems an Verfahren mangele, um wirksam gegen Hassverbrechen vorzugehen (siehe unten). Im Juni stellte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fest, es drohe vermehrt die Gefahr, dass Roma zu "Sündenböcken" abgestempelt und für die sozioökonomischen Probleme des Landes verantwortlich gemacht würden, da viele von ihnen auf staatliche Unterstützung angewiesen seien.
Im September äußerte sich der Beratungsausschuss des Europarats für das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten besorgt über gewalttätige Angriffe auf Roma. Nach Ansicht des Ausschusses herrschte trotz der Festnahme der mutmaßlichen Täter nach wie vor ein "Klima der Angst". Besorgt zeigte sich das Gremium außerdem darüber, dass "Intoleranz und Vorurteile gegenüber Roma durch Äußerungen gewisser Politiker der extremen Rechten angefacht werden". Ungarischen NGOs zufolge wurden derartige Äußerungen von der Regierung nur halbherzig verurteilt.
Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Oktober lehnten die öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehsender es ab, einen parteipolitischen Werbespot von Jobbik zu senden, in dem von sogenannter Zigeunerkriminalität die Rede war und der einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und ethnischer Zugehörigkeit herstellte. Der staatliche Wahlausschuss entschied, beide Medien hätten den für eine Wahl unerlässlichen Grundsatz der Gleichberechtigung aller Parteien verletzt, und der Werbespot habe im Einklang gestanden mit den Bestimmungen zur Meinungsfreiheit. Im September bestätigte der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung.
Internationale und nationale NGOs sowie internationale Überwachungsorgane für Menschenrechte monierten 2010 strukturelle Defizite der ungarischen Strafjustiz im Umgang mit Hassverbrechen. Zu diesen Defiziten zählten die mangelnde Kompetenz, Hassverbrechen zu erkennen und aufzuklären, das Fehlen von Fortbildungen und Richtlinien zu Hassverbrechen für Polizisten und Ermittler, die mangelnde Unterstützung für die Opfer dieser Verbrechen und das Fehlen wirksamer Maßnahmen, um den Charakter und das Ausmaß des Problems festzustellen. Letzteres beruhte zum Teil auf einer mangelhaften Datenlage, die es den Behörden erschwerte, Entwicklungen zu erkennen und mit entsprechenden Maßnahmen darauf zu reagieren.
Es gab mehrere dokumentierte Fälle, die zeigten, dass die Strafverfolgungsbehörden rassistische Hintergründe von Straftaten oft nicht erkannten. In ihrem Bericht anlässlich der Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) durch den UN-Menschenrechtsrat äußerten sich ungarische NGOs im November auch besorgt über die Tendenz, Straftaten als "gewöhnliche" Straftaten einzustufen und ein rassistisches Motiv nicht als erschwerenden Tatbestand zu werten. Infolgedessen waren in Ungarn keine verlässlichen Statistiken über die tatsächliche Zahl rassistisch motivierter Straftaten öffentlich zugänglich. Dem Vernehmen nach wurde Hass als erschwerender Tatbestand auch bei Straftaten ignoriert, die sich gegen sexuelle Minderheiten oder Menschen jüdischen Glaubens richteten.
Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte sich besorgt über die Diskriminierung von Roma im Hinblick auf Bildung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge und politische Teilhabe. Er kritisierte auch, dass es keine Regelungen gebe, um Datensammlungen nach ethnischer Zugehörigkeit aufzuschlüsseln.
Ein Gesetzentwurf zu Verfahren bei Baumaßnahmen, den der Innenminister im September ins Parlament einbrachte, enthielt eine Klausel, die es lokalen Behörden gestatten würde, gewisse Verhaltensweisen an öffentlichen Orten zu verbieten, u.a. das Schlafen im Freien. Laut NGOs, die mit Obdachlosen arbeiten, waren als Sanktionen u.a. Geldstrafen, Vertreibungen und Inhaftierungen vorgesehen. Ihrer Ansicht nach bestand die Gefahr, dass der Gesetzentwurf eine Kriminalisierung von Armut darstellen könne.
Trotz Protesten verabschiedete das Parlament im September und im Dezember 2010 zwei neue Mediengesetze. Die neue Gesetzgebung stieß wegen ihrer möglichen Auswirkungen sowohl bei ungarischen NGOs und Medien auf Kritik als auch bei der internationalen Gemeinschaft. Kritisiert wurden u.a. Beschränkungen in Bezug auf die Inhalte der Medien, das Fehlen eindeutiger Richtlinien für Journalisten und Herausgeber sowie die erheblichen Machtbefugnisse eines neuen Kontrollorgans - alles Maßnahmen, die eine unfaire Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung befürchten ließen. Die neu gegründete Nationale Medien- und Kommunikationsbehörde (NMHH) kann hohe Geldstrafen gegen Rundfunk- und Fernsehsender verhängen, wenn diese Inhalte verbreiten, die nach Auffassung der Behörde dem "öffentlichen Interesse", der "allgemeinen Moral" und der "nationalen Sicherheit" entgegenstehen. Auch für "unausgewogene" Berichterstattung können Geldstrafen verhängt werden.
Die Organisatoren der Pride Parade von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in Budapest berichteten, dass die Polizei sich zunächst geweigert habe, zum Schutz der Demonstration am 16. Juli Polizeikordons einzusetzen. Berichten zufolge wurden zwei Personen nach ihrer Teilnahme an der Parade verprügelt.
Delegierte von Amnesty International besuchten Ungarn im Januar, Februar, März und November.
Violent attacks against Roma in Hungary: Time to investigate racial motivation (EUR 27/001/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)