Document #1007585
Amnesty International (Author)
Die Menschenrechte wurden 2010 sicherheitspolitischen Maßnahmen untergeordnet. Den Hintergrund hierfür bildeten die Aktivitäten von Al-Qaida, der bewaffnete Konflikt in der Provinz Sa'da im Norden sowie die Proteste im Süden des Landes. Tausende von Menschen wurden festgenommen. Die meisten von ihnen kamen wenig später wieder frei. Einige blieben jedoch für längere Zeit in Gewahrsam, zum Teil ohne Kontakt zur Außenwelt, oder wurden Opfer des "Verschwindenlassens". Gegen einige ergingen nach unfairen Prozessen vor dem Sonderstrafgericht (Specialized Criminal Court - SCC) Freiheitsstrafen oder Todesurteile. Viele Gefangene gaben an, gefoltert worden zu sein. Bevor der Konflikt in der Region Sa'da nach der sechsten Phase im Februar endete, flogen die Streitkräfte - darunter auch die saudi-arabische Luftwaffe - schwere Bombenangriffe. Dies führte zu Hunderten von Toten, weiträumigen Verwüstungen sowie einer Massenflucht der Zivilbevölkerung. Als es im Südjemen erneut zu Protesten kam, weil sich die Region von der im Norden ansässigen Regierung benachteiligt fühlte, verschärften die Behörden den Druck. Sicherheitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vor. Mehrere Menschen kamen bei gezielten Angriffen ums Leben. Die Medien sahen sich mit repressiven Gesetzen und Maßnahmen konfrontiert. Unter den gewaltlosen politischen Gefangenen befanden sich mehrere Journalisten. Frauen wurden nach wie vor Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Die Behörden gewährten weiterhin vielen Flüchtlingen und Asylsuchenden vom Horn von Afrika Zuflucht, doch unternahm die Regierung Schritte, die darauf hinzielen, Somaliern künftig nicht mehr automatisch Schutz zu gewähren. Gegen mindestens 27 Menschen ergingen Todesurteile, mindestens 53 Personen wurden hingerichtet.
Die Regierung verlor faktisch die Kontrolle über einige Provinzen. In einigen Gebieten blieb das Entführungsrisiko sehr hoch. Zwei deutsche Mädchen, die mit sieben weiteren ausländischen Staatsbürgern im Juni 2009 in der Region Sa'da entführt worden waren, wurden im Mai 2010 von saudi-arabischen Streitkräften befreit. Drei der neun Geiseln waren 2009 tot aufgefunden worden. Das Schicksal von drei Deutschen und einem Briten blieb weiterhin ungeklärt.
Überall im Land fanden Massenproteste statt, die gegen die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage und starke Preiserhöhungen bei Benzin, Strom, Wasser und Lebensmitteln gerichtet waren.
Eine am 21. Mai 2010 angekündigte Generalamnestie des Präsidenten weckte die Hoffnung, alle politischen Gefangenen, einschließlich der inhaftierten Journalisten, könnten freikommen. Die Regierung machte jedoch keine genauen Angaben dazu, wer unter die Amnestie fallen würde und wann die Freilassungen stattfänden. Ende Mai kamen im Zuge der Amnestie 117 Personen frei, die verdächtigt worden waren, am Konflikt in der Region Sa'da sowie an den Protesten im Süden des Landes teilgenommen zu haben. Vier Journalisten wurden ebenfalls aus der Haft entlassen. Ende 2010 befanden sich jedoch immer noch hunderte weitere politische Gefangene im Gewahrsam der Behörden.
Neue Gesetze und Gesetzentwürfe untergruben den Schutz der Menschenrechte. Im Januar wurde das Gesetz gegen Geldwäsche und Finanzierung des Terrorismus verabschiedet. Es enthält eine sehr weit gefasste Definition des Straftatbestands Finanzierung von Terrorismus. Rechtsanwälte sind verpflichtet, den Behörden Auskunft über ihre Mandanten zu erteilen, wenn der Verdacht besteht, dass diese gegen das Gesetz verstoßen haben. Der Entwurf für ein Antiterrorgesetz sieht keinen rechtlichen Schutz der Verdächtigen bei der Festnahme und während der Untersuchungshaft vor. Außerdem soll die Zahl der Verbrechen ausgeweitet werden, die mit der Todesstrafe geahndet werden können. Sollte das Strafgesetz gemäß den Vorschlägen geändert werden, könnten auch jugendliche Straftäter zum Tode verurteilt werden. Dies würde eine Verletzung des Völkerrechts bedeuten. Zwei Gesetzentwürfe, die sich auf die Medien beziehen, drohen das Recht auf freie Meinungsäußerung noch weiter einzuschränken.
Seit Jahresbeginn ging die Regierung vermehrt gegen die mutmaßliche Bedrohung durch Al-Qaida vor. Sie reagierte damit auf einen Anschlagsversuch am 25. Dezember 2009, bei dem ein Nigerianer, der von Al-Qaida im Jemen ausgebildet worden sein soll, versucht hatte, ein US-amerikanisches Passagierflugzeug in die Luft zu sprengen. Bei den Antiterrormaßnahmen arbeitete der Jemen eng mit den USA zusammen, dies betraf auch Luftangriffe und Durchsuchungen.
Es gab weiterhin Angriffe durch bewaffnete Gruppen, dazu zählte auch Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel. Einige der Anschläge richteten sich gegen die Sicherheitskräfte, andere nahmen ausländische Staatsangehörige ins Visier oder führten zum Tod von Unbeteiligten.
Die von der Regierung im August 2009 gestartete Militäroffensive unter dem Codenamen "Verbrannte Erde" (Scorched Earth) endete am 11. Februar 2010 mit einem Waffenstillstand. Während der Offensive gingen Regierungstruppen mit ungekannter Härte gegen die Anhänger des 2004 getöteten schiitischen Zaidi-Geistlichen Hussain Badr al-Din al-Huthi vor. Die Gewalt eskalierte insbesondere, nachdem sich im November 2009 saudi-arabische Truppen in den Konflikt eingeschaltet hatten. Wochenlang bombardierten die saudi-arabischen und die jemenitischen Streitkräfte im Dezember 2009 und im Januar 2010 die Region Sa'da. Dabei kamen Hunderte von unbeteiligten Zivilisten ums Leben. Viele Häuser, aber auch andere zivile Bauwerke wie Moscheen und Schulen wurden ebenso schwer beschädigt wie Industriebetriebe und Infrastruktur. Bei einigen Angriffen lag der Verdacht nahe, dass sie gegen das Völkerrecht verstießen, weil sie entweder absichtlich auf Zivilisten und zivile Ziele gerichtet zu sein schienen oder weil es sich um wahllose und unverhältnismäßige Angriffe handelte, bei denen die Gefahren für Zivilpersonen nur unzureichend oder gar nicht bedacht worden waren. Weder die saudi-arabische noch die jemenitische Regierung gaben irgendeine Erklärung dafür ab, warum es zu so vielen Zwischenfällen dieser Art kam. Sie gaben auch nicht bekannt, ob und wenn ja, welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, um unbeteiligte Zivilpersonen zu schützen.
Ende 2010 befanden sich nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) mehr als 350000 Einwohner der Region Sa'da auf der Flucht, manche von ihnen bereits zum zweiten oder dritten Mal. Nur wenige der Flüchtlinge kamen in eigens eingerichteten Lagern unter. Das Ausmaß der Zerstörung sowie nicht detonierte Munition und Landminen erschwerten eine schnelle Rückkehr der geflohenen Familien in ihre Heimat. Im Juli kündigte die Regierung an, die von den Zerstörungen betroffenen Familien würden Entschädigungszahlungen erhalten. Im August unterzeichneten die Regierung und die Anhänger von al-Huthi in Katar eine Friedensvereinbarung, die einen politischen Dialog vorsieht.
Hunderte mutmaßliche Rebellen und Anhänger von al-Huthi wurden in den Hauptgefängnissen von Sa'da und Sana'a sowie in weiteren Haftzentren in Gewahrsam gehalten. Einige "verschwanden" nach ihrer Gefangennahme oder Verhaftung für mehrere Wochen oder Monate. Berichten zufolge wurden viele von ihnen gefoltert oder anderweitig misshandelt. Zwar kamen einige Anhänger von al-Muthi im Mai aufgrund einer Präsidialamnestie frei, die meisten waren Ende 2010 jedoch noch immer in Haft, und es gab kaum Informationen über sie.
Während des Jahres 2010 gab es im Süden des Landes weiterhin überwiegend friedliche Massenproteste, die von der Bewegung des Südens (Southern Movement) organisiert wurden. Rufe nach einer Abspaltung Südjemens wurden immer lauter. Die Regierungskräfte reagierten auf die Proteste mit unverhältnismäßiger Gewalt, die in manchen Fällen zum Tod führte. Sie warfen der Bewegung des Südens vor, mit Al-Qaida in Verbindung zu stehen, und gingen teilweise gezielt gegen Einzelpersonen oder Bevölkerungsgruppen vor. Bestimmte Gebiete waren vorübergehend von der Außenwelt abgeschnitten, da die Regierung Kontrollpunkte errichtete und das Mobilfunknetz abschaltete. Diese Maßnahmen führten zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung. Mehrere Mitglieder der Bewegung des Südens wurden mit einem Reiseverbot belegt.
Im Zuge von Verhaftungswellen wurden Hunderte von Menschen festgenommen. Die meisten von ihnen kamen nach kurzer Zeit wieder frei. Einige von ihnen wurden jedoch über einen langen Zeitraum ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten oder nach unfairen Gerichtsverfahren vor dem SCC zu Haftstrafen verurteilt.
Die Pressefreiheit wurde durch restriktive Pressegesetze und Übergriffe seitens der Sicherheitskräfte weiterhin stark eingeschränkt. Personen, die mit den Medien in Verbindung standen, wurden schikaniert, strafrechtlich verfolgt und inhaftiert. Manche von ihnen mussten sich in unfairen Gerichtsverfahren vor dem 2009 geschaffenen Pressegericht in Sana'a verantworten.
Frauen und Mädchen wurden weiterhin sehr stark diskriminiert, sowohl durch die Gesetze als auch im täglichen Leben. Vor allem in ländlichen Gegenden litten sie nach wie vor unter Zwangs- und Frühverheiratungen. Ein Gesetzentwurf zur Anhebung des Heiratsalters für Mädchen auf 17 Jahre, den das Parlament 2009 verabschiedet hatte, war bis Ende 2010 noch nicht in Kraft getreten. Es gab große Demonstrationen für und gegen die geplante Gesetzesreform. Die Regierung versprach, Pläne auszuarbeiten, um Frauen stärker am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilhaben zu lassen.
Die Müttersterblichkeitsrate war im Jemen nach wie vor erheblich höher als in anderen Ländern der Region. Die Behörden arbeiteten weiterhin mit internationalen Hilfsorganisationen zusammen, um schwangeren Frauen vermehrt kostenlose medizinische Hilfe anzubieten. Für Frauen in abgelegenen ländlichen Gegenden war der Zugang zur Gesundheitsfürsorge weiterhin schwierig. Viele konnten weder Schwangerschaftsuntersuchungen noch gynäkologische Hilfe im Notfall in Anspruch nehmen, weil die nächste Klinik zu weit entfernt war.
Im Februar 2010 richteten die Behörden eine Hauptabteilung für Flüchtlingsangelegenheiten ein.
Im Juni hielten sich nach Angaben des UNHCR mindestens 178000 afrikanische Flüchtlinge im Jemen auf, darunter 168000 aus Somalia. Die jemenitischen Behörden unternahmen erste Schritte, die dazu führen sollen, dass Somalier künftig nicht mehr automatisch als Flüchtlinge anerkannt werden.
Es gab weiterhin Berichte, wonach Häftlinge durch die Polizei und das Gefängnispersonal gefoltert und misshandelt wurden, vor allem durch Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes (National Security) und in den ersten Wochen nach der Festnahme. Zu den geschilderten Foltermethoden gehörten Schläge mit Stöcken oder Gewehrkolben, Fußtritte sowie das Aufhängen an den Handgelenken über einen längeren Zeitraum.
Bei Alkoholkonsum und Sexualdelikten fand weiterhin die Prügelstrafe Anwendung.
2010 ergingen gegen mindestens 27 Menschen Todesurteile, mindestens 53 Personen wurden hingerichtet, Hunderte saßen in den Todeszellen.
Delegierte von Amnesty International besuchten das Land im März, um die Lage der Menschenrechte zu untersuchen. Dabei traf die Delegation auch die Ministerin für Menschenrechte und ihren Stellvertreter.
Yemen: Security and human rights - media briefing (MDE 31/004/2010)
Yemen: Cracking down under pressure (MDE 31/010/2010)
Yemen: Security at what price? (MDE 31/011/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Periodical Report, German)
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)